Plädoyer für einen aufrichtigen Zweifel

Julia Schoch im Gespräch über Christa Wolf 

Uwe Wittstock: Sie sind in der DDR aufgewachsen. Beim Mauerfall waren Sie 15 Jahre alt. Spielte Christa Wolf damals als politische Orientierungsfigur für Sie schon eine Rolle?
Julia Schoch: Nein. Weder Christa Wolf noch Heiner Müller, die ja der gleichen Generation angehören. In meinem Elternhaus wurde zwar viel gelesen, aber die realen Personen hinter den Büchern waren doch sehr fern. Insofern habe ich Christa Wolf erst nach der Revolution für mich entdeckt.
Uwe Wittstock: Wann haben Sie Christa Wolf gelesen? Julia Schoch: Anfang der neunziger Jahre. Der Name war mir natürlich ein Begriff. Aber sie war für mich nicht mehr die große Dame der Ersatzöffentlichkeit, die „Seelenautorin“. Ihre Bücher gehörten zum Kanon, das wusste man, auch wenn man noch nichts von ihr gelesen hatte. Ich habe sie gewissermaßen rückblickend gelesen. Um mich endlich mal dieser Autorin zu widmen, von der alle sprachen.
Uwe Wittstock: Auch den Roman „Nachdenken über Christa T.“, der ja seit seinem Erscheinen 1968 als einer der wichtigsten Christa Wolfs gilt? Julia Schoch: Ja, „Christa T.“ habe ich mir damals antiquarisch besorgt. Vor der Universität gab es immer fliegende Bücherhändler, ich glaube, dort hab ich mir mein Exemplar gekauft. Es ist die DDR-Ausgabe von 1972. Im Buch steckt noch ein Zettel von Jugendtourist, dem DDR-Reisebüro, von 1973, eine Bestätigung für die Käuferin des Buches – sie war damals 19 Jahre alt –, dass sie für zwei Wochen nach Mittelasien reisen darf. Offenbar hat sie das Buch als Reiselektüre mitgenommen und auch ein paar Anstreichungen gemacht. Uwe Wittstock: Das muss eine kundige Bücherkäuferin gewesen sein. Denn die Erstausgabe von „Christa T.“ wurde ja 1968 von den Zensoren erst verzögert und dann 1969 gleich wieder aus dem Verkehr gezogen, so dass nur 4000 Exemplare tatsächlich die Leser erreichten. Julia Schoch: Die Ausgabe von 1972 hat wohl eine höhere Auflage erreicht und konnte tatsächlich auch verkauft werden. Ich kenne nicht die genauen Zahlen, aber später war das Buch in der DDR durchaus – mit Beziehungen – zu bekommen. Uwe Wittstock: Hat das Buch heute für sie literarisch eine besondere Bedeutung gewinnen können? Julia Schoch: Für meinen jetzt erschienenen Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ eigentlich nicht. Da ist mir Christa Wolfs „Kein Ort. Nirgends“ schon näher. Das ist herrlich verknappt. Eigentlich ein Gedankenbuch, das meinem Hang, schnell zum Wesentlichen zu kommen, sehr entspricht. Allerdings ist das in der „Christa T.“ schon angelegt, was das Buch auch handwerklich so aufregend macht. Christa Wolf verquickt da auf ganz engem Raum sehr viel: Sie schildert nicht nur eine Geschichte, sondern unterfüttert sie zugleich immerzu mit Autorenkommentaren, Fragen, Überlegungen. Räume und Zeiten folgen nicht dem Zwang eines Plots, sondern den Gedanken der Autorin. Dadurch entsteht eine hochkonzentrierte Atmosphäre. Was das betrifft, fühle ich mich Christa Wolf unbedingt verbunden. Man ist als Autor eben nicht nur Beobachter und schildert ungerührt eine Geschichte ab, sondern man ist zugleich mit der Geschichte verwoben. Uwe Wittstock: Christa Wolf hat ja einmal geschrieben, es komme nicht nur darauf an, eine Geschichte zu erzählen, sondern zugleich zu berichten, welches Echo diese Geschichte in uns hervorruft. Julia Schoch: Ja, sie ist verstrickt in jeden Stoff, über den sie schreibt. Dadurch ist sie nie belanglos. Man hat immer das Gefühl, sie arbeitet ein tiefgreifendes Problem aus ihrer eigenen Person heraus ab. Sie ist nie nur Beobachterin, sondern immer Beteiligte. Das ist bei allen Autoren so, die ich als wichtig empfinde. Auch bei Malern. Ich habe gerade die Edward Hopper-Ausstellung in Hamburg gesehen. Auch er malte nicht einfach, was er sah, sondern zugleich die Wirkung, die das Gesehene in ihm hinterließ. Nicht die Tatsache macht das künstlerische Thema aus, sondern die Frage, wie sich die Tatsache in mir spiegelt. Uwe Wittstock: In „Christa T.“ ist die Erzählerin ja mit der Hauptfigur des Romans, also mit der Figur Christa T., befreundet. Die Erzählerin gehört zu den handelnden Figuren, und zugleich denkt sie darüber nach, was die inzwischen verstorbene Christa T. für ein Mensch war – woran sie litt und schließlich starb. Julia Schoch: In den Neunzigern, als ich Christa Wolf für mich entdeckte, wurde diese Erzählhaltung, auch der berühmte „heilige Ernst“, ja sehr geschmäht. Das Abschildern, das „normale“, auch spaßige Erzählen standen viel höher im Kurs. Umso wichtiger war Christa Wolf für mich, weil ihre Bücher ungeheuer dicht sind. Oft hat man als Leser das Gefühl, drum herum, vor und nach dem Buch, ist noch viel mehr in der Geschichte geschehen, aber das hat halt einfach keinen Platz gefunden im Buch. Uwe Wittstock: Es gibt den bekannten Satz Marcel Reich-Ranickis zu „Christa T.“, die Heldin dieses Romans sei an Leukämie gestorben, haben aber an der DDR gelitten. Julia Schoch: Ich halte das für eine Verkürzung. Das Buch war ja nicht nur in der DDR ein Erfolg, sondern fast überall auf der Welt. Die Leser müssen also etwas von sich darin wiedererkannt haben, und nicht nur etwas von der DDR. In dem Roman geht es nie nur um das private Leben Christa T’s. Sie ist eine klarsichtige Einzelne, die mit einem titanischen Gegner ringt – mit sich selbst, aber eben vor dem Hintergrund der Gesellschaft, in der sie lebt. Und das gab es nicht nur in der DDR. Dieser Kampf des Einzelnen gegen den großen, allgegenwärtigen Gegner, gegen den er nie ankommt – der ist international. Uwe Wittstock: Nun waren die Widerstände in der DDR sicher besonders stark und es gab viele Gründe, mit der Gesellschaft zu hadern. Julia Schoch: Das Besondere an „Christa T.“ ist doch, dass der Roman von einer Generation handelt, die den sozialistischen Staat mit aufbaute und seine Gesellschaft eigentlich bejahte, oder bejahen wollte. In den Achtzigern hätte man das Buch so nicht mehr schreiben können. Diese Verunsicherung der Empfindungen ist für den Leser einfach entwaffnend: Die Figuren beginnen an einer Gesellschaft zu hadern, die sie selbst mit aufbauen, die sie geformt und so gewollt haben, weil sie sie für eine bessere Gesellschaft halten. Auf diese Art von aufrichtigem Zweifel könnte man heute fast neidisch werden.

Veröffentlicht unter Christa Wolf | Hinterlasse einen Kommentar

„Die Witwen von Eastwick“

John Updikes letzter Triumph  

Natürlich hat auch der Kulturbetrieb seine Konventionen. Stirbt ein großer Meister oder eine große Meisterin, werden die letzten, die nachgelassenen Werke gern über den grünen Klee gelobt. Die Neigung, angesichts der noch frischen Todesnachricht vor der zurückgelassenen Arbeit auf die Knie zu fallen, ist fast unbezähmbar. Doch derartige Jubelarien machen skeptisch. Schließlich zeigt nicht jedes Alterswerk einen Könner im Vollbesitz seines Könnens. Auch beim Künstler lassen die Kräfte gegen Ende des Lebens gelegentlich nach. Die alten Ideen, Formen, Mittel werden noch einmal wiederholt, aber das Ergebnis hat einen Beigeschmack von Routine. Seien wir offen: Es ist ein Glücksfall, wenn am Ende eines großes Lebenswerks tatsächlich ein veritables Meisterstück steht. Ein solcher Glücksfall ist hier zu vermelden. „Die Witwen von Eastwick“ heißt der letzte Roman, den John Updike vor seinem Tod im Januar dieses Jahres noch vollenden konnte – und das Buch zeigt ihn im vollen Glanz seines Genies als Erzähler, Sprachartist und Chronist der amerikanischen Gegenwartsgesellschaft. Mehr noch: Es zeigt ihn zugleich als einen unbeirrbar suchenden, die eigenen Mittel prüfenden und nach erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten tastenden Schriftsteller. Fast nichts ist hier Routine, fast alles scheinbar spielerisch leichtes Gelingen. Mit den „Witwen von Eastwick“ hat Updike noch kurz vor seinem Tod ein Kapitel seiner Arbeit abgeschlossen, das sich selbstbewusst behaupten kann neben Updikes Hauptwerk, den über vier Jahrzehnten hinweg entstandenen Rabbit-Romanen. Ein Triumph, der sich keineswegs vorab schon andeutete. Updike hat in den letzten Lebensjahren einige Bücher veröffentlicht, die nicht zu seinen stärksten gehörten. In „Gertrud und Claudius“ (2001) versuchte er sich daran, die Vorgeschichte von Shakespeares „Hamlet“ zu erzählen – aber unter den historischen Kostümen seiner angeblichen dänischen Königsfamilie kamen dabei immer wieder typisch amerikanischen Mittelstandsgestalten zum Vorschein. Nicht die Mentalität mittelalterlicher Feudalherren, sondern die heutiger Suburb-Bewohner prägte das Buch. Auch der 2006 erschienen Roman „Terrorist“ krankte an einer ähnlichen Schwäche. Hier spürte Updike dem Seelenleben eines ägyptisch-amerikanischen Selbstmordattentäters nach. Allerdings wurde man den Verdacht nicht los, dass der vom westlichen Liberalismus und durch seine christliche Herkunft tief geprägte Updike der Vorstellungswelt eines Islamisten nie wirklich nahe kam. Bei den „Witwen von Eastwick“ jedoch stimmt jedes Detail, jedes Motiv, jeder Tonfall. Das Schicksal des Buchs erinnert ein wenig an die Entstehungsgeschichte von Thomas Manns letztem Roman „Felix Krull“. Mann hatte ihn 1910 begonnen und brachte ihn 1954 zu einem vorläufigen Abschluss. Zwischendurch hatte er das Projekt fast vierzig Jahre ruhen lassen. Updike veröffentlichte bereits 1984 einen ersten „Eastwick“-Band. Ein Vierteljahrhundert später, kurz vor seinem Tod, kehrte er dann zu den Figuren und Schauplätzen jenes Romans zurück und führte die alte Geschichte von damals weiter zu einem neuen, letzten Höhepunkt seiner Arbeit. Updike erzählt von drei Freundinnen, Jane, Alexandra und Sukie, die in dem Provinznest Eastwick irgendwo an der amerikanischen Ostküste leben, also in einer Landschaft und einem Milieu, das Updike besser kennt als jeder andere Schriftsteller. Im ersten, mit Michelle Pfeifer, Susan Sarandon, Cher und Jack Nicholson verfilmten Romanteil, hatten sich die drei gerade von ihren Ehemännern scheiden lassen. Der feministischen These folgend, dass dem Erfolg und Glück der Frauen letztlich nur ihre Abhängigkeit von den Männern im Wege steht, sehen die drei in ihren Scheidungen kein Unglück, sondern das Startsignal in eine verlockende Zukunft. In gewisser Hinsicht war „Die Hexen von Eastwick“ eine Gesellschaftssatire, die Emanzipationsparolen von einst beim Wort nahm und mit literarischen Mitteln überprüfte: Da die drei feste Bindungen scheuen, auf Sex aber nicht verzichten mochten, sorgen sie in ihrer Kleinstadt für etliche Seitensprung-Skandale und beginnen schließlich alle eine Affäre mit einem zugereisten, ziemlich exzentrischen Erfinder aus New York. Doch im Unterschied zu seinen anderen Ehe- und Mittelstandsromanen, mit denen sich Updike in die Weltliteratur einschrieb, ließ er es in diesem Roman nicht bei dem, was man gemeinhin literarischen Realismus nennt. Er stattete seine Heldinnen, denen das historische Wunder einer weitgehend selbstbestimmten Frauenexistenz vergönnt ist, zugleich mit wunderbaren Fähigkeiten und Zauberkräften aus. Will sagen: Er erweiterte seine Erzählkunst um die Mittel eines magischen Realismus, der mehr für möglich hält, als naturwissenschaftliche Schulweisheit sich träumen lässt. Seine Hexen von Eastwick haben nicht nur die Freiheit, muffig gewordenen Ehemänner aus ihrem Leben verschwinden zu lassen, sondern auch die Macht den Wolken zu befehlen oder Nebenbuhlerinnen tödlich erkranken zu lassen. Auch in Frauenhänden, so zeigte der Roman, ist Macht vor Missbrauch nicht geschützt – und Frauen sind vor der Verführungskraft der Macht nicht gefeit. In den „Witwen von Eastwick“ begegnen wir den drei Heldinnen rund dreißig Jahre später und dennoch in einer biographisch vergleichbaren Situation. Alle drei hatten zum zweiten Mal geheiratet, also ihre so zauberhafte weibliche Unabhängigkeit aufgegeben und sich mit ihren neuen Männern irgendwo in verschiedenen amerikanischen Landstrichen niedergelassen. Doch jetzt sind ihre Männer gestorben. Als Witwen sind sie wieder frei und also wachsen ihnen, zumal wenn sie zusammen sind, nach der Logik des Romans wiederum magische Kräfte zu. Denn die drei sind letztlich literarische Urenkelinnen jener drei Hexen, die Shakespeares Macbeth den Kopf verdrehen: „When shall wie three meet again / In thunder, lightning, or in rain?“ Dieses erneute Zusammentreffen ist naturgemäß nicht mehr vom Glück der Befreiung und des Aufbruchs zu neuen emanzipatorischen Ufern beseelt. Vielmehr sind sich die drei bewusst, wie nahe sie den Zielgeraden ihres Daseins gekommen sind. Statt vom Aufbruch erzählt der neue Roman vom Wunsch, einen Abschluss zu finden, Rückschau zu halten und Bilanz zu ziehen. Es schnürt einem beim Lesen den Hals zu, wenn man denkt, dass Updike das alles mit dem eigenen Tod vor Augen schrieb. Wenn er Alexandra und Jane beispielsweise nach der Art wohlhabender amerikanischer Witwen auf ihren Weltreisen auch Ägypten ansteuern und die Grabkammer einer Pyramide besichtigen lässt, heißt es: „Alexandra rang nach Luft. Als wäre sie in dem düsteren, abschüssigen Raum gestolpert, streifte sie absichtlich Jane, nur um einen anderen warmen, noch lebendigen Körper zu spüren. Alles um sie her signalisierte: kein Entkommen. Mit wie viel Energie und Aufwand die Religionen auch behaupten, sie könnten uns vor dem Tode erretten: Es gibt kein Entkommen.“ Noch einmal treffen sich die drei für einen Sommer im ruhigen Eastwick, wo sie seinerzeit so viel Unruhe stifteten. Angeblich zur Erholung, aber insgeheim, wie sich jede der drei mehr oder weniger deutlich eingesteht, um alte Schuld abzubüßen und Abschied zu nehmen. Wie Updike hier wieder einmal das Typenarsenal einer amerikanischen Kleinstadt auffächert, wie er die Begegnungen mit ehemaligen Liebhabern oder Kontrahentinnen beschreibt, die einerseits vom Nachklang alter Leidenschaften, andererseits von sanfter Nostalgie untermalt sind, ist rundweg meisterhaft. Und dass er die drei noch einmal zu magischen Mitteln greifen lässt, die diesmal zu einem erschreckenden, ganz unbeabsichtigten Resultat führen, macht die ironische Pointe dieses Buchs aus. Ein Roman des melancholischen Lebensausklangs? Ja sicher, der Romancier und Seelenforscher Updike hat sich auch diese Schattierung des menschlichen Gemüts nicht entgehen lassen. Aber er beweist dabei einen ungeheuer kraftvollen Zugriff. Selbst dieser Perspektive aufs Leben versteht er enormen Facettenreichtum abzugewinnen: Vom Zynismus bis zum Einverständnis mit dem eigenen Ende, vom Aufbegehren bis zur Sehnsucht nach einem letzten Genuss. Der Tod ist in diesem Buch auf jeder Seite gegenwärtig, aber auch die Lust an der Vielgestaltigkeit des Lebens solange es denn dauert. John Updike: „Die Witwen von Eastwick“. Roman Aus dem Amerikanischen von Angela Praesent. Rowohlt Verlag, Hamburg 2009 412 S., 19,90

Veröffentlicht unter John Updike | Hinterlasse einen Kommentar

Die wahren Herren der Geschichte

Zum 100. Geburtstag: Erinnerung an einen Besuch bei Eric Ambler, dem großen politischen Romancier und Erneuerer des Thrillergenres   Es war eine dieser zurückhaltenden, aber geräumigen Londoner Stadtvillen. Sobald man eintrat, strahlte sie mehr aus als nur gediegenen Wohlstand. Die 18 Romane des Hausherren, die eine Weltauflage von über 50 Millionen erreichten, hatten ihre Spuren hinterlassen. Die Drehbücher, die er für Hollywood schrieb, eines davon oscargekrönt, nicht minder. Die Assistentin ging mit mir über einen langen Flur, öffnete eine Tür, winkte mir einzutreten, und schloss die Tür hinter meinem Rücken. Eric Ambler, 88 Jahren alt, saß im dreiteiligen Anzug mit Krawatte und Einstecktuch in seinem Arbeitszimmer. Allerdings arbeitete er nicht. Er hatte den Sessel neben der Bar gewählt. Vor ihm stand ein hohes Glas randvoll mit Whiskey. Der sollte ihm offenbar helfen, das kommende, für ihn vermutlich eher trockene Gespräch zu überstehen. Da ich kein Whiskey mochte, brachte die Assistentin mir ein Glas Tee. Zumindest die Farben unserer Getränke waren einander ebenbürtig. Ambler liebte die intellektuelle Provokation. Da ihm der Gast als Journalist aus Deutschland angekündigt war, schwärmte er vom Mut, von der Zähigkeit und Kampfkraft der deutschen Soldaten, die er im Zweiten Weltkrieg als Gegner erlebt hatte. Mit John Husten, Carol Reed und Peter Ustinov hatte er Propagandafilme für die Alliierten gedreht und war in der Schlacht von Monte Cassino ein paar Mal nur knapp mit dem Leben davon gekommen. Es ist nicht einfach, als Deutscher angemessen auf derartige Ruhmeshymnen zu reagieren. Soll man die deutschen Haudegen von damals preisen, weil sie so prima Jagd machten auf den Mann, der einem gegenübersitzt? Oder soll man ihm als Nachgeborener, der keinen blassen Schimmer vom Krieg hat, widersprechen? Ich bin nicht mehr sicher, was ich erwiderte auf Ambers Entzücken über den Schneid der deutschen Wehrmacht. Sicher bin ich, dass er sich amüsiert hat über meine Verlegenheit. Beides, sowohl die Lust an der Provokation als auch sein machiavellistisches Interesse für Kämpfer und Macher der Geschichte, zeigte er nicht nur im Gespräch mit Journalisten. Sein 1953, nur acht Jahre nach Kriegsende veröffentlichter Roman „Schirmers Erbschaft“ erzählte die Lebensgeschichte einer blonden germanischen Bestie wie sie Nietzsches „Genealogie der Moral“ entsprungen sein könnte. Und Ambler ließ seinen Helden, einen in finstere Balkanwirren verstrickten ehemaligen deutschen Fallschirmjäger, am Schuss des Romans nicht nur davonkommen, nein, er beschrieb dessen oft aussichtlosen, aber dann doch siegreichen Kampf ums Überleben mit spürbarer Faszination. Ein Buch, das ihm beim britischen Nachkriegspublikum verständlicherweise nicht nur Freunde eintrug. „Die Männer und Frauen“, schrieb Ambler 1981 in seinem letzten Roman, „die mich in meiner Arbeit am meisten interessierten, das waren schon immer die zähen Typen, die Überlebenden. Sympathisch waren sie mir nur selten, aber darauf schien es nicht anzukommen.“ Er hat die Rücksichtslosigkeit, die Grausamkeit solcher Gestalten nie beschönigt. In der „Maske des Dimitrios“, einem der großen, ahnungsvollen politischen Romane der dreißiger Jahre, beschwört er die ganze Dämonie eines hochintelligenten, willensstarken, aber von keinerlei moralischen Kategorien mehr gehemmten Killers. Was Ambler am Vorabend des Zweiten Weltkriegs an diesem düsteren Romanstoff reizte, war nicht Sensationslust: „In Wahrheit hoffen Sie“, muss sich der Intellektuelle sagen lassen, der sich im Buch auf Dimitrios Spuren geheftet hat und der Amber in manchen Momenten so auffällig ähnlich sieht, „in Wahrheit hoffen Sie, durch eine rationale Erklärung von Dimitrios auch die in Auflösung befindliche Gesellschaft erklären zu können.“ Amblers Interesse an den Starken und Gewissenlosen unter den Menschen war letztlich immer das Interesse an den Wirkmechanismen der Geschichte. Der machtgierige Einzeltäter – sei es in der infam Ausprägung eines Dimitrios oder in der vom Überlebenskampf diktierten, eher naiven Brutalität des Fallschirmjägers Schirmer – war da vergleichsweise harmlos. Als einer der ersten Thrillerautoren beschrieb Ambler schon in den dreißiger Jahren nicht mehr nur die Nationen, sondern die übernationalen Konzerne und Banken als die eigentlichen Impulsgeber der politischen Verwerfungen und Krisen, also als die wahren Herren der Geschichte. Sie werden von kühl kalkulierten Interesse gelenkt, von einer rein instrumentellen Vernunft und nicht von Emotionen – was sie zu konsequent zeitgemäßen, aber eben überaus ungemütlichen Akteuren macht. Ambler hat damit, wie Alfred Hitchcock schrieb, dem Genre des Spionageromans neues Leben geschenkt und wurde, wie John Le Carré meinte, zur Quelle, aus der alle Autoren nach ihm schöpfen. Oder wie Graham Greene schlicht aber entschieden feststellte, Amber war der „beste aller Thrillerautoren“. Seit Ambler von den fünfziger Jahren an auch in Deutschland berühmt und immer berühmter wurde, schwelt hierzulande ein scheinbar endloser Streit. Beharrlich versuchen seine Anhänger zu beweisen, dass er zu den wichtigsten Schriftstellern seiner Zeit gehörte und ihm unser altbackener Kultur-Betrieb zu Unrecht die verdiente Anerkennung vorenthalten habe. Ein Streit, der Ambler, fürchte ich, inzwischen langweilen würde. Er ist heute ein Klassiker seines Fachs, niemand wird das ernsthaft bezweifeln wollen. Er war ein Meister des knappen Stils, aber kein Sprachgenie wie der zwanzig Jahre ältere Raymond Chandler. Er hat mit „Dimitrios“, „Die Angst reist mit“, „Der Fall Deltschev“ oder „Doktor Frigo“ einige herausragende politische Romane geschrieben – aber er hat sich gelegentlich auch klischeehafter, genretypischer Motive und Wendungen bedient. Wer ihn bewundert, muss deshalb vor solchen literarischen Versatzstücken die Augen nicht schließen. Als Ambler das Whiskeyglas, das vor ihm stand, geleert hatte, war es Zeit zum Aufbruch. Er arbeitete, erzählte er auf dem Weg zur Tür, an einem neuen Roman. Seinem 19. Aber er werde das Manuskript wohl doch noch vor der Fertigstellung wegschmeißen. Denn er sei nicht sicher, ob dieses Buch so gut werde wie die anderen 18. Und lieber wolle er nichts abliefern, als etwas schwaches. Im Herbst des folgenden Jahres starb Eric Ambler 89jährig. Ein 19. Roman von ihm ist nie erschienen.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 27. Juni 2009

Veröffentlicht unter Eric Ambler | Hinterlasse einen Kommentar

Von Schreibern und Schlägern

 A.J. Lieblings Buch über die klassische Ära der amerikanischen Faustkampfs lässt ahnen, was das Boxen zur Lieblingssportart vieler Schriftsteller macht

Schon mit dem Titel war er auf Provokation aus. „The Sweet Science“ nannte der amerikanische Reporter, Journalist, Schriftsteller A.J. Liebling, sein Buch über „Joe Louis, Rocky Marciano und die klassische Ära des amerikanischen Boxkampfs“. Um die Provokation spürbar zu machen und sie vielleicht noch ein wenig zuzuspitzen, machte sein begnadeter Übersetzer Joachim Kalka im Deutschen daraus „Die artige Kunst“. Denn als eine Form untadeliger Kunst, fröhlicher Wissenschaft, ehrbarer alter Menschenkunde wird das Boxen hier beschrieben. Liebling kannte sie alle. Nicht nur die Kämpfer der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre: Joe Louis, Rocky Marciano, Joe Walcott, Sandy Saddler, Randy Turpin oder Archie Moore. Sondern auch deren Trainer, Manager, Cutmen, Sparringspartner und sonstige Entourage. Er schrieb nicht allein über die legendär gewordenen Ringschlachten, sondern erforschte wie ein Ethnologe das Milieu des Boxens. Er war einer jener Autoren, der im „New Yorker“ aus Gesellschaftsreportage, subjektivem Erzählen und eminenter Sachkenntnis eine neue Form der Journalismus schufen, die später, als ihre Nachahmer auf Sachkenntnis immer häufiger glaubten verzichten zu können, New Journalism getauft wurde. Liebling schrieb über das Boxen als einer eigentümlichen Welt und Weltanschauung. Ihn interessierte das Boxen als Lebenshaltung, als eine Haltung, die ihm als Literat nicht fremd war: „Ein Boxer muss wie ein Autor alleine dastehen. Wenn er verliert, kann er keine Vorstandskonferenz einberufen und einen Vizepräsidenten oder den stellvertretenden Verkaufsdirektor fertigmachen. Deshalb mögen ihn die kleinen Charaktere nicht, die außerhalb einer Organisation gar nicht existieren können.“ Die artige Kunst? The Sweet Science? Wird mit all dem nicht eine der brutalsten Sportarten letztlich verniedlicht? Zugegeben, jeder Sportler will seine Gegner schlagen. Doch nur Boxer tun es in einem ganz und gar nicht übertragenen Sinne. Im Vergleich zu anderen Sportarten ist Boxen archaisch, unzivilisiert, primitiv. In allen andern Disziplinen findet der Wettstreit vermittelter statt: Es geht darum, sein Können an irgendwelchen Geräten zu beweisen, an Böcken oder Bällen, Rädern oder Rudern, Kugeln oder Kegeln, um dann die eigenen Ergebnisse mit denen des Kontrahenten zu vergleichen. Der Boxer dagegen steht seinem Gegner unmittelbar gegenüber, traktiert ihn mit Fäusten und macht sich zugleich zur Zielscheibe für dessen Schläge. Direkter kann eine Konfrontation nicht sein. Gemessen daran, haben selbst Ringer oder Judoka den körperlichen Kampf in eine höhere, zeremoniellere Form überführt: Sie wollen ihren Gegner fassen und niederwerfen – Boxer wollen ihn treffen und niederschlagen. Boxer nehmen es nicht, wie andere Sportler, in Kauf, ihren Widersacher zu verletzen, nein, es ist ihre erklärte Absicht. Es gehört zu ihren Zielen, dem Gegner Schmerzen zuzufügen, ihn wehrlos zu machen, ihn bewusstlos zu prügeln. Kein Wunder, dass dieser Sport nicht den besten Ruf genießt, dass er als grob gilt, als barbarisch, roh und atavistisch, mit einem Wort: als unkultiviert. Dennoch gehört gerade das Boxen zu den Lieblingssportarten der Dichter und Schriftsteller. A.J. Liebling ist alles andere als ein Einzelfall. Mit kaum einer anderen Disziplin haben sich in unserem Jahrhundert so viele Autoren und auch Autorinnen literarisch beschäftigt wie mit dieser. Nicht wenige von ihnen haben sich sogar selbst als Boxer versucht, wie eben Hemingway und Ezra Pound. Oder Jean-Paul Sartre, der sich als Gymnasiallehrer in Le Havre von der „Boxomanie“ der dreißiger Jahre anstecken ließ und seine Schüler regelmäßig zum Sparren in die örtliche Boxhalle einbestellte. Oder die forsche Vicki Baum, die sich beim Training mit dem Punchingball fotografieren ließ. Oder Arthur Cravan, der Lyriker und Berufsboxer in Personalunion war und 1916 den schwarzen Schwergewichtschampion Jack Johnson herausforderte, oder Maurice Maeterlinck, der mit dem seinerzeit berühmten, aber glücklosen Franzosen George Carpentier zu einem Schaukampf in den Ring stieg. Andere Schriftsteller, wie Budd Schulberg, Jack London, Nelson Algren, Norman Mailer und Joyce Carol Oates waren oder sind begeisterte, wenn nicht besessene Zuschauer am Ring. Jean Cocteau fühlte sich sogar zum Manager von „Panama“ Al Brown berufen, der mit seiner Unterstützung 1938 zum zweiten Mal Weltmeister im Bantamgewicht wurde. Neben Hemingway und Maurice Maeterlinck haben immerhin noch vier andere Literaturnobelpreisträger – Thomas Mann, George Bernard Shaw, Albert Camus und William Faulkner – das Boxen zum Thema der Literatur gemacht. Im deutschsprachigen Raum waren es in den zwanziger und dreißiger Jahren vor allem Bertolt Brecht, Robert Musil, Ödön von Horváth, Egon Erwin Kisch und Josef Roth, die sich schreibend mit dem Faustkampf beschäftigten. Heute kann man hierzulande unter anderem Jürgen Theobaldy, Wolf Wondratschek, Volker Braun, Günter Kunert, Bernd Eilert und Jan Philipp Reemtsma zu den bemerkenswerten Autoren rechnen, die sich vom Boxen zu Gedichten, Geschichten oder Essays inspirieren ließen. Woher dieses Interesse? Wodurch wird dieser Sport, der doch nicht gerade einen vergeistigten Eindruck macht, für Schriftsteller so anziehend? Anziehender zumindest als die meisten anderen, so viel zivilisierter wirkenden Disziplinen. Ein Grund dafür ist wohl, dass Boxen und Schreiben, wie A.J. Liebling betont, mehr Gemeinsamkeiten kennen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Denn es wäre ein Irrtum zu glauben, in der Literatur ginge es allein um Vergeistigung und Zivilisation. Vielen Schriftstellern, darunter gewiss nicht den schlechtesten, geht es in erster Linie darum, Erfahrungen zu formulieren und mitzuteilen. Und in dieser Hinsicht hat das Boxen einiges zu bieten: In jeder Runde, in jedem Schlagabtausch wird die archetypische Erfahrung des Kampfes auf körperliche Weise und in denkbar höchster Intensität durchlebt. Die Gier nach dem Triumph; die Bereitschaft, für einen Sieg schmerzhafte Opfer zu bringen; die Furcht vor der Niederlage; Stolz auf das eigene Können und Wut über das des Gegners – mit all dem und vielem mehr ist jede Sekunde im Ring erfüllt. Kein Wunder also, dass diese konzentrierten Momente der Auseinandersetzung und der Entscheidung auf Schriftsteller immer wieder einen beträchtlichen Reiz ausgeübt haben. Das klingt reichlich martialisch und wohl auch ein wenig danach, als sollten aggressive Urinstinkte glorifiziert oder literarisch gerechtfertigt werden. Doch so einfach ist das nicht. Zum einen hat es wenig Sinn, den Boxsport mit intellektuellen Mitteln beschönigen zu wollen, er bleibt ein erbarmungsloses Geschäft. Zum anderen verfügt er weltweit über eine so große, unbeirrbare Anhängerschaft, dass er auf solche Bemäntelungs-Versuche gut verzichten kann. Wichtiger ist es, sich vom Boxen an ein paar Tatsachen erinnern zu lassen, die im wohlbehüteten Alltag der postindustriellen Gegnwart nur zu oft verleugnet werden. Joyce Carol Oates bagatellisiert nichts in ihrem Essay „Über Boxen“, verleugnet aber auch nichts, wenn sie nüchtern feststellt: „Selbstverständlich ist Boxen primitiv; aber auch von Geburt, Tod und Sexualität könnte man sagen, dass sie primitiv sind. Was uns dazu zwingt, wenn auch widerwillig, anzuerkennen, dass unsere tiefsten Erfahrungen im Leben körperlicher Art sind – und dies, obwohl wir glauben, im Grunde geistige Wesen zu sein, was sicherlich stimmt.“ Immer schon war der Kontakt des Menschen zur Welt zu allererst körperlicher Art. Seine Arbeit, die Widrigkeiten der Natur oder handfeste Konflikte mit Gegnern formten ihn physisch und ließen an seinem Leib erkennen, was er erlebt hatte: Schon sein Körper zeigte, wer er war – eine jahrtausendealte Erfahrung, die auch psychische Spuren hinterlassen hat. Auch heute noch ist das Bedürfnis nach einem körperlichen Verhältnis zu unserer Umwelt tief in unser Gefühlsleben eingepflanzt und dort, auch wenn wir das nicht immer wahrhaben wollen, heimlich am Werk – denn in unserer Seele bleibt „jede frühere Entwicklungsstufe“, so formulierte es Freud, „neben der späteren, die aus ihr geworden ist, erhalten … das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich“. Heute aber, in dem vor gerade mal hundert Jahren angebrochenen Zeitalter der Technik, werden die Chancen, die Welt samt ihrem Widerstand körperlich zu erleben, ständig geringer. Zu den letzten Bereichen, die diese Erfahrung noch immer unvermindert vermitteln, gehören Gesundheit, Schönheit, Sex und Sport – und sie genießen folgerichtig ein völlig überzogenes Interesse in unserer Gesellschaft. Je stärker sich die Wirklichkeit in virtuelle Realitäten verflüchtigt, desto kurioser werden die Versuche, uns zumindest unsere körperliche Wirklichkeit spürbar zu machen: durch Bodybuilding, Tätowierungen, Piercings, Fitnessübungen oder selbstquälerische Diäten. Verglichen mit solchen fast verzweifelt wirkenden Praktiken nimmt sich das Boxen geradezu solide aus. Wie wenige andere Athleten wird der Boxer durch seinen Sport gezeichnet: Meist sieht man seiner Nase, seinen Augenbauen, seinen Jochbeinen noch im hohen Alter an, dass er in seiner Jugend im Ring gestanden hat. In seinen Kämpfen erfährt er am eigenen, wohltrainierten Leib – stellvertretend für sein Publikum – ein paar Tatsachen, die sonst in der Moderne abgepuffert und nur vermittelt wahrgenommen werden: Er wird mit seinen Möglichkeiten und Grenzen, seinem Können und seiner Ohnmacht so klar und qualvoll konfrontiert wie kaum ein anderer heute. Dieses Moment der Wahrheit, der unerbittlichen Gewissheit über das eigene Vermögen nicht zuletzt ist es, das viele Schriftsteller an diesem Sport so reizt. Es ist für einen Boxer nahezu unmöglich, sich selbst oder anderen etwas über seine Fähigkeiten vorzumachen, sobald er mit seinem Gegner im Ring steht. A.J. Liebling inszeniert seine Ringreportagen deshalb mit Vorliebe als psychologische Dramen. Fabelhaft, wie er von dem Duell zwischen dem intelligenten, technisch perfekten, stilvoll fightenden Archie Moor und dem durch den Ring watschelnden, mit schlichtem Gemüt und mörderischen Punch begabten Rocky Marciano erzählt. Keine Frage, dass damit nicht die ganze Wahrheit über diese Menschen zur Sprache kommt – es bleibt bei einer Wahrheit über ihre Fähigkeiten auf einer, wie es bei Freud heißt, „früheren Entwicklungsstufe“. Doch das macht das Boxen literarisch letztlich noch interessanter. Da jene frühen Entwicklungsstufen in Ausnahmesituationen psychisch unvermindert wirksam werden können, sie aber in unserer zunehmend entkörperlichten Gegenwart nur zu leicht aus den Blick geraten, wird das Boxen für einen Schriftsteller, der sich für seelische Tiefenschichten interessiert, zu einem vorzüglichen Studienfeld. Hier, am Ring, kann er mitverfolgen, wie offen zur Schau getragen wird, was sonst nur im Verborgenen blüht; hier kann er unmittelbar erleben, was sonst sorgsam verhüllt ausgetragen wird; hier kann er beobachten, was zum Vorschein kommt, wenn uns unsere zivilisatorischen Schonbezüge über die Ohren gezogen werden.

A.J. Liebling: „Die artige Kunst“. Joe Louis, Rocky Marciano und die klassische Ära des amerikanischen Boxkampfs
Aus dem Englischen von Joachim Kalka Berenberg Verlag, Berlin 2009 167 Seiten, 19,90 €

Veröffentlicht unter A.J. Liebling | Hinterlasse einen Kommentar

„Reise zu Lena“

Alfred Neven DuMonts spätes Romandebüt  

Es ist kein Zufall, wenn alte und sehr alte Menschen immer öfter zu Hauptpersonen unserer Literatur avancieren. Schon 2005 waren, rechnen die Statistiker vor, 16 Millionen Menschen in Deutschland 60 Jahre oder älter – bald wird es mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung sein, etliche Millionen davon über achtzig. Derart exakte Erhebungen über das Durchschnittsalter von Romanhelden gibt es zwar nicht. Dennoch sollte es niemanden wundern, wenn Schriftsteller nun häufiger aus der Perspektive der Ergrauten und Betagten schreiben. Mit der Alterung des literarischen Personals verschieben sich aber auch die Akzente der Literatur. Der Lebensausblick nimmt eine geringere, der Lebensrückblick eine gewichtigere Rolle ein. Statt des Aufbruchs zu neuen Taten, rückt der Abschied vom Getanen in dem Mittelpunkt. Statt der Frage, wie die Zukunft gestaltet werden soll, die Frage, wie die Vergangenheit zu rechtfertigen ist. Eben jene Motive prägen Alfred Neven DuMonts „Reise zu Lena“. Der Autor, der mit 82 Jahren ein spätes Romandebüt vorlegt, ist ein erfolgreicher Zeitungsverleger, ein veritabler deutscher Pressezar. Sein Held heißt Albert, ist ungefähr ebenso alt wie der Autor und blickt auf eine nicht minder erfolgreiche Karriere als Geschäftsmann zurück. Dennoch wäre es leichtfertig, allzu rasch von Albert auf Alfred schließen zu wollen. Denn Albert, der Romanheld, empfindet sich in der Abenddämmerung seines Lebens als das Opfer der Verhältnisse. Über ihn, den ehemals Entscheidungsgewaltigen und Machtgewohnten, wird nun von anderen fürsorglich verfügt. Noch einmal erlebt er, mit der titelgebenden Reise zu Lena, so etwas wie eine Rebellion gegen diese sanfte Gefangenschaft, doch selbst zu der schwingt er sich nicht aus eigener Souveränität auf, sondern lässt sich zu diesem Ausbruchsversuch von anderen verführen. Der Autor des Buches dagegen beschreibt und reflektiert die Situation seines Helden in einem wunderbar melancholischen, knappen, präzise gebauten Roman, und gewinnt schon damit als Künstler und Mensch eine Souveränität, die seinem Helden verschlossen bleibt. Das Einprägsamste am Auftakt dieses Romans ist – um es auf eine literarische Formel zu bringen – der King Lear-Effekt. Albert, der Held, hat sein Erbe an den Sohn übergeben. Niemand lässt es daraufhin an Respekt vor ihm oder seiner Lebensleistung fehlen. Aber wie die Familie den Entmachteten nunmehr in Obhut nimmt, wie sie für ihn vorgeblich zu sorgen, ihn aber tatsächlich zu entmündigen beginnt, ist letztlich zermürbender als offene Respektlosigkeit, gegen die er sich verwahren könnte. Und natürlich schwingt in dem Eifer, mit dem sich nun alle um den Altgewordenen kümmern, auch etwas von dem unbewussten Bedürfnis seiner Mitmenschen mit, dem ehemals großen, unabhängigen Mann endlich auf Normalmaß zurechtzustutzen und auch einmal das Gefühl von Anhängigkeit spüren zu lassen. Das andere Hauptmotiv des Romans ist das Lebensresümee: Albert, dem so vieles gelang, kann nicht vergessen, was ihm missglückte. Glorie, seine so talentierte und vielversprechende Tochter, versank als junge Frau in Depressionen, aus denen weder der Vater noch die Ärzte sie befreien konnten. Nach wiederholten Aufenthalten in Sanatorien kommt sie während eines Tauchurlaubs ums Leben – ein Unfall, der, so berichtet eine Freundin, vielleicht ein Freitod war. Es gehört zur künstlerischen Aufrichtigkeit dieses Romans, dass er die Leser nicht mit einem begütigenden, versöhnenden Abschluss der Geschichte abspeist. Die Depression der Tochter ist, so wird immer deutlicher, kein Zufall, sondern hat familiäre Vorläufer. Zwar konnte der Vater sich jahrzehntelang durch die Arbeit für sein Unternehmen ablenken. Doch mit dem Rückzug von den Geschäften ist auch seine Depression nicht mehr zu verleugnen. Nur für einen kurzen Moment lässt Neven DuMont gegen Ende des Romans das Bild eines friedvollen Lebensausklangs aufleuchten: Er zeigt seinen Helden zusammen mit der späten Freundin Lena auf einem Waldspaziergang wie Philemon und Baucis in der Abendsonne. Lena presst ihn, im Gegensatz zu Frau und Familie, nicht in die Rolle des gedemütigten Dauerpatienten. Doch Albert fehlen sowohl Mut wie auch Kraft, noch einmal in seinem Leben ein neues Kapitel aufzuschlagen. So wird das angedeutete Altersidyll mit Lena nicht zum kitschigen Abschiedsversprechen des Romans, sondern zur bitteren Erinnerung an ein unerreichtes Glück.

Alfred Neven DuMont: „Reise zu Lena“. Roman
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009 255 S., 19,90 Euro

Veröffentlicht unter Alfred Neven DuMont | Hinterlasse einen Kommentar

In die Revolte hineingeprügelt

 Nach der Stasi-Wahrheit über Kurras: Wie ändert sich unser Blick auf die Geschichte der Studentenbewegung?

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Peter Schneider, einem der Weggefährten Rudi Dutschkes

Uwe Wittstock:   Der 2. Juni 1967 mit dem Tod Benno Ohnesorgs war eines der entscheidenden Ausgangsdaten der Studentenbewegung. Muss nach der Nachricht, dass der Polizist, der Ohnesorg erschoss, ein Stasi-Agent war, die Geschichte der Studentenbewegung neu geschrieben werden?  Peter Schneider:   Sie muss nicht neu geschrieben werden, aber sie wird komplexer. Entschieden komplexer. Natürlich hätte sich vieles, was nach dem 2. Juni geschah, etwas anders abgespielt. Dennoch ändert die Nachricht, dass Karl-Heinz Kurras ein Stasi-Spion war, im Nachhinein nichts an der Gewalt des Berliner Polizeiapparats, die damals zum Ausbruch kam. Die jungen Polizisten, die am 2. Juni auf die Demonstranten einprügelten, waren trainiert worden von Polizeioffizieren, die ihr Handwerk in der Nazizeit gelernt hatten. Wenn man liest, was der damalige Polizeipräsident von Berlin Erich Duensing bei den Schulungen von sich gab, wird einem noch heute übel. Der Mann hatte sich im Zweiten Weltkrieg um die Bekämpfung von Partisanen in der Ukraine verdient gemacht. Diese historischen Tatsachen und die mentale Prägung vieler Polizeiführer werden durch die Neuigkeit, dass Kurras ein Stasi-Spitzel war, nicht weggewischt.
Wittstock:   Von den tödlichen Schüssen auf Ohnesorg einmal abgesehen – weshalb war der Demonstration vom 2. Juni so wichtig?
Schneider:   Ich war bei dieser Demonstration gegen den Schah dabei. Man muss sich diese Szenen wieder in Erinnerung rufen: Ich glaube, ich war, bevor ich zu dieser Demonstration ging, ein eher gemäßigter Linker. Doch dann erlebte ich einen Gewaltausbruch, den ich nie für möglich gehalten hätte. Ein Gewaltausbruch von Seiten der Polizei. Ich sah junge Polizisten mit entfesselten Gesichtern, mit Schaum vor dem Mund, die auf Demonstranten einprügelten. Ich sah eine blonde Frau, die an den Haaren über den Fahrdamm geschleift wurde. Und dann kam ein Gerücht auf, das durch einen Polizei-Lautsprecherwagen verbreitet wurde: Ein Student habe einen Polizisten mit einem Messer angegriffen und tödlich verletzt. Dass diese Falschmeldung auf die prügelnden Polizisten keinen mäßigenden Einfluss hatte, können Sie sich vorstellen. Ich war entsetzt, weil ich glaubte, ein einzelner Idiot habe jetzt dafür gesorgt, dass die Vorgänge in dieser Nacht auf den Kopf gestellt und die Demonstranten als Gewalttäter erscheinen würden.
Wittstock: Wann klärte sich das auf?
Schneider:   Sehr bald. Aber noch am nächsten Tag war die falsche Version in den Zeitungen übermächtig, vor allem in den Zeitungen des Springer-Verlags. Es wurde versucht, die Verantwortung für den Tod Ohnesorgs den Demonstranten in die Schuhe zu schieben. Auch die Richter bei den späteren Gerichtsverfahren gegen Kurras haben wenig unternommen, um hier für Klarheit zu sorgen.  Wittstock:   Was hat die rebellierenden Studenten damals stärker erschüttert: Der Tod Ohnesorgs oder der Freispruch für den Täter Kurras vor Gericht?  Schneider:   Die Erfahrung, dass sich sowohl die Zeitungen als auch die Gerichte blindlings auf die Seite der Polizei stellten und deren Einsatzmethoden überhaupt nicht in Frage zogen, hatte auf viele der beteiligten Demonstranten und sympathisierenden Studenten damals einen ungeheuren Einfluss. Dass Kurras dann auch noch freigesprochen wurde, hat viele in ihrer Ablehnung der Bundesrepublik bestätigt und radikalisiert. Kurras wurde freigesprochen, während Fritz Teufel im Gefängnis saß, weil er Farbeier und womöglich auch einen Stein geworfen hatte. Das alles hat eine ungeheure Empörung ausgelöst und eine neue Qualität der Rebellion erzeugt.  Wittstock:   Und dazu wäre es nicht gekommen, wenn man damals schon die Wahrheit über Kurras gekannt hätte?  Schneider:   Ich glaube nicht, dass die Radikalisierung der Studentenbewegung ausgeblieben wäre, aber sie hätte sich sozusagen „gerechter“ verteilt. Viele von uns gaben sich doch der Illusion hin, dass die DDR das bessere Deutschland sei und dass der dortige Sozialismus, auch wenn er noch so schäbig war, die bessere politische Alternative sei. All das wäre dann in einem anderen Licht erschienen.
Wittstock:   Wie groß war der Einfluss der DDR auf die Studentenbewegung?
Schneider:   Heute wissen wir, dass die DDR permanent versucht hat, Einfluss auf die Studentenbewegung zu nehmen. Ob es die Gerüchte über Heinrich Lübke waren, der als Bundespräsident mit gefälschten Unterlagen beschuldigt wurde, KZ-Baumeister gewesen zu sein, ob es das Springer-Tribunal war – das habe ich im vergangenen Jahr in meinem Buch „Rebellion und Wahn“ ausführlich beschrieben – oder ob es der Vietnam-Kongress war. Es war ein übles und kontraproduktives Spiel, das dieser immer noch so beliebte und bewunderte ‚Gentleman‘-Spion Markus Wolff auf dem Gewissen hat. In Wahrheit ist er doch nichts anderes gewesen als ein gehorsamer Handlanger Erich Mielkes.
Wittstock:   Auch wenn Kurras freigesprochen wurde – die wichtigsten politischen Verantwortlichen für den Polizeieinsatz am 2. Juni 1967, der Polizeipräsident Duensing, der Innensenator Wolfgang Büsch und der Regierende Bürgermeister Berlins Heinrich Albertz, traten wegen dieses Polizeieinsatzes zurück. Hätten die Studenten das nicht als einen Triumph der Demokratie feiern müssen, anstatt weiter gegen den angeblich demokratieunfähigen Staat zu protestieren?
Schneider:   Unbedingt. Ich gebe Ihnen da Recht. Diesen Erfolg hätten die Studenten und ihre Wortführer damals anerkennen und feiern sollen. Ich erinnere mich an ein Plakat, das bei der Trauerfeier für Ohnesorg am 3. Juni hochgehalten wurde, zu der sich die Studenten damals versammelten. Da stand drauf: „Albertz zurücktreten“, „Duensing zurücktreten“, „Büsch zurücktreten“. Diese drei Forderungen waren bereits im Herbst erfüllt. Seltsamerweise hat dann niemand von uns den naheliegenden Schluss gezogen und gesagt: Dieser Staat hat ein Versagen zugegeben, jetzt müssen wir unsererseits zugeben, dass diese Demokratie funktioniert und reagiert hat. Aber das zuzugeben war verboten, dafür war die Radikalisierung bereits zu weit fortgeschritten.  Wittstock: </strong>Verboten von wem?  Schneider:   Das haben wir uns selber verboten. Wenn wir damals schon gewusst hätten, dass Kurras ein Spion war, wäre es vielleicht weniger vernagelt, weniger einseitig und hasserfüllt, kurz differenzierter weitergegangen.  Wittstock:   Wäre dem Land und der Studentenbewegung vielleicht auch der spätere Terrorismus (RAF oder Bewegung 2. Juni) erspart geblieben?  Schneider:   Das bezweifle ich. Denn da unterstellt man den Terroristen eine Rationalität, die sie längst nicht mehr hatten. Diese Leute verfolgten ja schon in der Gründungsphase keine rationalen Ziele mehr, sondern gaben sich einer wilden Selbstermächtigung hin. Immerhin: Eine Terrorgruppe namens „2. Juni“ hätte – wäre die Wahrheit über Kurras damals schon bekannt gewesen – ihrem Namen nur dann gerecht werden können, wenn sie einer Doppelstrategie gefolgt wäre und auch Anschläge in der DDR geplant hätte.
Wittstock:   Sie haben damals mit vielen Wortführern der Studentenbewegung eng zusammengearbeitet. Unter anderem mit Rudi Dutschke. Haben Sie selbst erlebt, dass es Versuche der Einflussnahme auf die Studentenbewegung gab, die erkennbar von der DDR ausgingen?
Schneider:   Als wir das Springer-Tribunal vorbereiteten, tauchte bei uns ein als DDR-Spitzel erkennbarer Mann auf. Der wollte uns mit einem angeblich sensationellen Dossier über Axel Springer unterstützen. Da waren wir natürlich neugierig. Aber in dem Dossier stand überhaupt nichts drin, was gegen Springer publizistisch verwendbar gewesen wäre. So war zum Beispiel zu der Frage, was Axel Springer in den Jahren des Dritten Reichen gemacht hatte – dazu gibt es inzwischen einige Forschungen – in dem Dossier nichts zu finden. Das einzige was zu finden war, waren Informationen über Springers Frauengeschichten. Und soviel kann ich zu unserer Ehrenrettung sagen: Dieses Zeug haben wir mit spitzen Fingern in einen Papierkorb befördert und keine Zeile davon benutzt.  Wittstock:   Rudi Dutschke war doch DDR-Flüchtling. Warum hat er sich nicht stärker gegen die Illusionen der Studentenbewegung, die DDR sei das bessere Deutschland, zur Wehr gesetzt?  Schneider:   Vor dem Vietnam-Kongress hatte er die Illusion, dass er die Freie Deutsch Jugend der DDR gewissermaßen umpolen und für seine Ziele gewinnen könnte. So wie ja auch manche andere Leute glaubten, sie könnten sich diesen oder jenen Stasi-Mann zunutze machen. Im Ergebnis kam dann meistes das Umgekehrte heraus. Es steht aber fest, dass sich Rudi Dutschke über die Natur des Staates DDR keine Illusionen machte und sogar – wie ich jetzt von Dutschkes Sohn las – gegen Ende seines Lebens vermutete, dass der Attentäter Josef Bachmann, der ihn so schwer verletzte, ebenfalls von der Stasi gewesen sei. Dazu kann ich nichts sagen, aber was ich bestätigen kann, ist, dass sich Dutschke in den Jahren nach dem Attentat am meisten vor einem Anschlag der Stasi fürchtete. Nicht vor Verfolgung durch den CIA, sondern durch die Stasi.
Wittstock:   Viele der ehemaligen Achtundsechziger betätigten sich gleich nach der Nachricht über Kurras als nahezu blinde Verteidiger der Bewegung ihrer Jugend. Benehmen sich diese Altachtundsechziger nicht wie ihre Eltern, wenn sie nicht bereit sind, sich nun offen und schonungslos mit der Vergangenheit zu beschäftigen?
Schneider:   Man kann es uns Achtundsechzigern doch nicht anlasten, dass unsere damalige Hassfigur Kurras sich nun als Stasi-Spion erweist. Dafür sind wir nicht verantwortlich. Ich finde es allerdings albern, wenn jetzt einige von uns so tun, als würde diese Entdeckung gar nichts bedeuten und hätte seinerzeit keine Wirkungen gehabt. Ebenso albern ist es, wenn andere behaupten, die Geschichte der Achtundsechziger müsse komplett umgeschrieben werden, weil sie völlig anders verlaufen wäre. Nicht alles, aber manches wäre anders gelaufen und viele junge Leute hätten ihre besten Jahre wahrscheinlich nicht in der SEW und der DKP vertrödelt.

Das Interview erschien in der „Welt“ vom 30. Mai 2009

Veröffentlicht unter Peter Schneider | Hinterlasse einen Kommentar

Glücklich auf dem Katzenbaum

Das Frankfurter Museum für Komische Kunst feiert mit Hans Traxler einen der raren Großmeister des Cartoons

Da ist zum Beispiel diese Frau mit Campingbus. Souverän steuert sie über nordafrikanische Sandpisten, fest entschlossen, keine Abstriche an ihren Vorstellungen von Lebensqualität zu akzeptieren. Also stoppt sie im nächstgelegenen Dorf, verlässt den Bus mit dem Sauger in der Hand und fragt eine ratlose Nordafrikanerin: „Avez-vous des Staubsaugerfilterbeutel?“ Oder dieses alte Paar, das mitten im Urwald einen Garten anlegt, in dem die Tulpen antreten wie ein Regiment aufrechter Zinnsoldaten. Oder Herr Bartels, der seine Frau gebeten hat, ihn dabei zu unterstützen, sich öffentlich besser zur Geltung zu bringen. Und den seine Frau nun täglich auf dem Weg zur Arbeit begleitet und dabei das Licht eines tragbaren Scheinwerfers auf ihn richtet. Der Cartoon ist eine in Deutschland wenig gepflegte, selten zur Blüte gebrachte Kunst – und Hans Traxler ist einer ihrer raren Großmeister hierzulande. Die „Caricatura“, das Museum für komische Kunst in Frankfurt, eröffnet jetzt kurz vor seinem 80. Geburtstag eine große Werkschau zu seinen Ehren. Eine Ausstellung, die nicht nur die Lebensleistung Traxlers vergegenwärtigt, sondern auch eine Ahnung von den Anforderungen gibt, vor denen sich ein Cartoonist von seiner Kunst gestellt sieht. Denn anders als die Karikatur verzichtet der Cartoon auf verzerrende oder überspitzende optische Mittel. Er zielt auf die Erheiterung des Publikums durch nur ein Blatt und eine Textzeile – ohne dass beide die Grenzen einer kultivierten Mittellage überschreiten. Mit anderen Worten: Der Cartoon muss den anarchischen Kern der Komik spürbar machen, greift dabei aber nicht zur Pappnase des Clowns, sondern besteht darauf, sich so elegant zu kleiden wie zum Opernbesuch. Hans Traxler hat bei der Lösung diese Aufgabe – so wie Sempé, wie Loriot, Robert Gernhardt oder Bernd Pfarr – zu einem unverwechselbaren Stil gefunden, der längst nicht mehr nur von den Insidern des Cartoon-Gewerbes auf den ersten Blick erkannt wird. Wie der Comic-Klassiker Hergé ist er ein Anhänger der Ligne Claire – und Traxlers klare Linie meidet alles Schrille und Aggressive. Sie neigt vielmehr dazu, den Figuren etwas Sanftes, Rundes, In-sich-Ruhendes zu geben. Und die Welt, in der Traxler sie auftreten lässt, hat nicht selten einen Zug zum Idyllischen. Was nicht heißen soll, dass es Traxlers Cartoons an Komik oder Biss fehlt. Im Gegenteil: Den Witz seiner Blätter schöpft er nicht zuletzt aus dem Widerspruch zwischen harmonisch gezeichneten Szenerien und den alles andere als harmonischen Dingen, die sich in diesen Szenerien zutragen. Wie zum Beispiel die Zeichnung jenes lieblichen Ferienstrands, auf dem Touristen in der Sonne bräunen. Einem von ihnen schlägt allerdings das politische Gewissen angesichts eines farbigen Souvenir-Verkäufers, der mit seinem Bauchladen in der Hitze vor den Erholungssuchenden steht und gibt ihm den guten Rat: „Sie sollten lieber in Ihr Heimatland gehen und dort gegen Ihre Unterdrücker kämpfen.“ Immer wieder gelingt es Traxler mit seinen so unaufgeregten Blättern veritable kleine Psychodramen zu erzählen. Wenn etwa eine Frau im soliden Business-Kostüm von einem waschechten weißen Ritter komplett mit Pferd, Rüstung und Lanze von der Straße weg voll Leidenschaft entführt wird, ruft ihr ihre Freundin nach: „Laß Dir seinen Ausweis zeigen, leih ihm kein Geld und behalte Deine Wohnung!“ Oder wenn bärtige, bebrillte Herren irgendwo auf einer Waldlichtung aus einem Käfig freigelassen werden und es in der Textzeile dazu heißt, Wissenschaftler aus dem „Institut für Sozialforschung“ seien nun im Hochtaunus ausgewildert worden, „um sie an das Leben in der postmarxistischen Ära zu gewöhnen.“ Die heftigste emotionale Bindung unterhalten viele von Traxlers Figuren mit sich selbst. Eine Leidenschaft, die sie nicht nur höchst realistisch wirken lässt, sondern aus der Traxler einen munter sprudelnden Quell erhellender Komik gemacht hat. Als er 2005 gebeten wurde, eine Plastik für das Frankfurter Mainufer zu entwerfen, ließ er ein frei zugängliches Denkmals-Podest mit der Inschrift „Ich“ errichten. Es ist in verkleinertem Maßstab auch in der Ausstellung zu sehen. Jedermann kann es über drei Stufen besteigen, um sich darauf als Monument seiner selbst zu präsentieren. Es ist dieser unbedingte Glaube an die eigene Grandiosität und die Durchsetzbarkeit der persönlichen Wünsche, mit der sich Traxlers Helden vor aller Welt bloßstellen und die sie mitten in der Wüste nach Staubsaugerfiltertüten verlangen lässt – wenn sie nicht gerade Tulpen in Reih und Glied pflanzen oder ihre Ehefrauen dazu auffordern, sie um eines höheren Ansehens im Büro willen öffentlich effektvoll in ein besseres Licht zu rücken. Gewöhnlich gelten das überraschende Missgeschick, das offenkundige Scheitern und die Bruchlandung hochfliegender Pläne als der verlässliche Born der Komik. Bei Hans Traxler kann man lernen, dass es manchmal auch die erfüllten Träume sind, die zu den verräterischen und deshalb erheiternden Katastrophen führen. So zum Beispiel bei Hans Joachim, der in seinen besten Kleidern in einer nur sehr spärlich besuchten Kirche vor dem Altar steht und den der Pastor fragt: „Willst Du, Hans Joachim, Dir die Treue halten in guten wie in schlechten Tagen, so sage ja!“

Hans Traxler: Cartoons Reclam Verlag, Stuttgart 2009 381 Seiten, 20,00 €

Veröffentlicht unter Hans Traxler | Hinterlasse einen Kommentar

Männer sterben, Frauen trauern

„Alice“, das neue Buch mit fünf Erzählungen von Judith Hermann  

Ein Kritiker sollte sich entscheiden können. Wer mit dem Fuß aufstampft und „Ja ja“ ruft oder „Nein nein“, hat er bessere Chancen verstanden zu werden. Selbst in unserer kleinen literarischen Öffentlichkeit herrscht heute solcher publizistischer Lärm, dass jedes laue „Jein“ bald untergeht. Da braucht es schon den Mut zur Zuspitzung. Andererseits aber hat man als Literaturkritiker seinen Lesern ja nicht viel mehr anzubieten, als das Versprechen, sie mit aller Erfahrung so aufrichtig wie möglich über das jeweilige Buch zu unterrichten. Mit Kritikern, die um ihrer Entschiedenheit Willen die Hälfte dessen beiseite lassen von dem, was sie zu sagen haben, ist niemandem gedient. Ein neues Buch von Judith Hermann ist auf jeden Fall ein Ereignis. Sie ist eine der wichtigsten Autorinnen der letzten Jahre, verfügt über enormes Talent, hat eine unverwechselbare Stimme und sehr zu Recht großen Erfolg. Wenn jetzt mit dem Band „Alice“ nach fast sechs Jahren des Schweigens neue Erzählungen von ihr erscheinen, wird in der fälligen Flut von Rezensionen ohnehin kein Mangel an Superlativen sein. Vielleicht ein guter Anlass bei aller Bereitschaft zur Zuspitzung einmal zu betonen, dass es zwiespältige Bücher gibt, denen man weder mit Begeisterungsschreien noch mit Ablehnungsgesten gerecht wird. Judith Hermanns neuer Band enthält fünf Erzählungen, alle kreisen um die gleiche Hauptfigur, um eine Frau mittleren Alters namens Alice. Jede trägt als Titel den Namen eines Mannes, von dessen Tod oder Sterben berichtet wird. Jeder davon steht in einem engen Verhältnis zu Alice, mal ist es ein Ex-Geliebter, mal ein Onkel, mal der Lebensgefährte. Doch letztlich geht es nicht um diese Männer, sondern um die Titelheldin Alice und die Frage, wie sie sich durch die Begegnungen mit dem Tod verändert. Judith Hermann hat die Geschichten durch Details behutsam miteinander verknüpft. In der letzten tauchen, wie beim klassischen Bühnenfinale, Figuren aus allen vorangegangenen Teilen wieder auf. Zusammen bilden sie einen durchkomponierten Erzählungszyklus. Die erste Geschichte ist fabelhaft. Rund fünfzig Seiten großartiger Prosa von einer Dichte, Intensität und Vielschichtigkeit, wie sie nicht viele Schriftsteller hierzulande erreichen. Judith Hermann verfügt über die Gabe, einem mit zwei, drei Sätzen Schauplätze und deren Stimmung so vor Augen zu rücken, dass man glaubt, sie mit Händen greifen zu können. Ihre Erzählsprache hat regelrecht lyrische Qualitäten, sie ist durchgearbeitet nach Melodie, Rhythmus, Klangfarbe, ohne deshalb je angestrengt oder geziert zu wirken. Alles liest sich schwebend leicht. Erzählt wird von einer einfachen, aber einschneidenden Erfahrung. Alice steht für einige Tage einer Freundin bei, deren Mann (ein Ex-Freund Alices) im Krankenhaus irgendeines Provinzkaffs den Krebstod stirbt. Die beiden Frauen sind für diese Zeit in einer schäbigen Ferienwohnung untergekommen und fühlen sich, als sei ihnen die Haut vom Leib gezogen. Alle anderen Leute sind zwar nicht ohne Mitgefühl, leben verständlicherweise aber ihren Alltag weiter – ja der Vermieter der Ferienwohnung macht Alice sogar unappetitliche sexuelle Avancen. Viel mehr geschieht nicht, aber mehr braucht Judith Hermann auch nicht, um zu zeigen, dass allein schon dieses brutale Nebeneinander zwischen emotionaler Not hier und ganz gewöhnlicher Ungerührtheit dort einem dünnhäutigen Menschen unwiderruflich jede Fassung rauben kann. Von Beginn an zählte es zu Judith Hermanns besonderen Fähigkeiten, die Lebenshaltung von Menschen vergegenwärtigen zu können, die in den konventionellen Sinnangeboten der Gesellschaft weder Schutz suchen, noch ihn dort finden können. Früher einmal, in den guten alten pathetischen Zeiten, hätte man vielleicht von der metaphysischen Obdachlosigkeit ihrer Figuren gesprochen. Doch Judith Hermann siedelte sie in unserer popkulturell geprägten Gegenwart an – weshalb man ihre Geschichten gern als melancholische Selbstbespiegelungen einer partygeilen Wohlstands-Boheme missversteht. So als suche einen das Wissen um die absurde Verlorenheit des Lebens und der Wunsch, ihm einen eigenen Sinn zu geben, nur beim Studium von Sartre heim und nicht genauso gut in der Kneipe beim Bier. Der Tod ist naturgemäß der härteste und hoffnungsloseste Prüfstein dieser Haltung: „Astronauten“, schießt es Alice durch den Kopf, als sie die Nachricht vom Tod des Freundes erhält, „wir sind wie Astronauten, es gibt nirgends einen Halt.“ Auch die zweite Erzählung ist großartig, aber vielleicht um eine Nuance konventioneller. Alice reist mit zwei gleichaltrigen Begleitern an den Gardasee zu einem väterlichen Freund – der schon am Tag nach ihrer Ankunft an einer plötzlichen Erkrankung stirbt. Hier ist es der Gegensatz zwischen der Erwartung unbeschwerter Ferientage und dem Entsetzen angesichts des überraschenden Todes, der Kontrast zwischen der berauschenden Schönheit des Gardasees und dem ernüchternden Bewusstsein von der Verletzlichkeit des Daseins, der die Geschichte trägt. Wenn Alice auf diese Erfahrung mit einem Ausbruch von Lebensgier reagiert und mit einem ihrer Begleiter schläft, „zornig und wüst, heruntergekommen“, dann ist das als literarischen Motiv nicht brandneu, aber psychologisch rundum einleuchtend. Das Problem des Buches sind aus meiner Sicht die folgenden Erzählungen. Spätestens mit Beginn der dritten hat man als Leser das dramaturgische Konstruktionsprinzip begriffen, weiß, dass uns hier Alices Wandlungen im Umgang mit dem Tod vorgeführt werden. Doch statt die Geschichten nun mit überraschenden Elementen anzureichern, um die thematische Monotonie aufzulockern, verengt Judith Hermann den Blickwinkel zunehmend. Alles konzentriert sich auf die Hauptfigur. Suggestive atmosphärischer Schilderungen wie die der Kleinstadt oder des Gardasees in den ersten beiden Geschichten gibt es kaum noch. Die Erzählungen färben sich grau in grau ein, die Kontraste, die den ersten beiden so viel Spannung gaben, treten zurück. Natürlich hat das eine gewisse psychologische Folgerichtigkeit. Für den Trauenden wird das Leben jenseits seines Schmerzes zur bloßen Banalität. Der Alltag, der die Menschen gewöhnlich in Atem hält, erscheint ihm wie eine Pappfassade. Denn seine Sehnsucht gilt dem unwiederbringlich Verlorenen und nicht mehr dem, was gegenwärtig ist. Doch ändert das nichts daran, dass die zweite Hälfte von Judith Hermanns Buch verglichen mit der ersten spürbar schlichter wirkt und auf eine voraussehbare Weise konsequent auf Moll gestimmt. Mehr noch: Es gibt so etwas wie eine Verliebtheit des Trauernden in seine Trauer. Eine Ergriffenheit über die eigene Ergriffenheit. Sein Leid wird dann zu so etwas wie einem Feldzeichen, das er vor sich herträgt. Mir scheint die zweite Hälfte von Judith Hermanns Buch nicht frei zu sein von einer solchen Selbstfeier des Schmerzes. Es mischt sich damit in ihre so geschmeidige, stimmungsvolle Prosa ein unschöner Unterton von Trauerbesessenheit, ja Trauerbegeisterung. Alice wirkt nicht wie zerstört, sondern so als zelebrierte sie ihren Kummer wie ein Zeichen der Auserwähltheit. Und Judith Hermann führt das nicht aus einigem Abstand zu ihrer Hauptfigur als Beispiel einer missratenen, von der eigenen Sensibilität verzückten Schwermuts vor, sondern bleibt ohne Distanz zu ihr. Kurz: Ein zwiespältiges Buch. Ein grandioser Beginn, der erkennen lässt, dass Judith Hermann trotz all der selbsternannten Generations-Experten, die in ihren frühen Geschichten Sex-und-Drogen-Reports von der Jugendfront sehen wollten und den Hass-Kampagnen manchen Kritiker, die ihr partout ihren Erfolg nicht verzeihen können, nach wie vor zu den besten Erzählerinnen gehört, die gegenwärtig in deutscher Sprache schreiben. Eine missglückte zweite Hälfte jedoch, in der bei aller stilistischen Brillanz, ein Leidensstolz mitschwingt, der einem die Lektüre spürbar verderben kann.

Judith Hermann Alice. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009 189 Seiten, 18,95 Euro

Veröffentlicht unter Judith Hermann | Hinterlasse einen Kommentar

„Ich bin ein sehr abergläubischer Mensch“

Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Judith Hermann über Bestseller-Ruhm, Hokuspokus und merkwürdige Komplimente sowie ihr neues Buch „Alice“

Uwe Wittstock: Ihr erstes Buch „Sommerhaus, später“ war außergewöhnlich erfolgreich, über 600 000 Exemplaren wurden bislang verkauft. Hat Sie dieser Erfolg als Schriftstellerin glücklich gemacht?
Judith Hermann: Um diese Frage mit einem Ja oder Nein beantworten zu können, müsste ich mich viel mehr wie eine Schriftstellerin fühlen. Später, in zig Jahren, wenn ich dann den so genannten Rückblick halten darf, wird’s mich vielleicht freuen, dass ich mit 28 dieses Debüt gehabt habe. Interessanter ist, dass ich heute noch, elf Jahre danach, darauf angesprochen und danach gefragt werde. Das erste Buch scheint immer noch die Instanz zu sein, an der alle anderen gemessen werden. Mich macht das nicht nur glücklich.
Uwe Wittstock: Nach einem solchen Erfolg ist der Autor natürlich mit hohen Erwartungen konfrontiert. Haben Sie die beim Schreiben belastet?
Judith Hermann: Jetzt, beim dritten Buch, nicht mehr. Beim zweiten Buch war die Belastung groß und ich habe ziemlich lange gebraucht, bis ich wieder Sätze zu Papier bringen konnte. Nachdem „Nichts als Gespenster“ erschienen war, hatte ich allerdings angenommen, die Erwartungsgeschichte habe sich dann erledigt. Und jetzt merke ich, dass das eben nicht der Fall ist. Uwe Wittstock: Hätten Sie gern weniger Erfolg gehabt? Judith Hermann: Nein, natürlich eben nicht. Der Erfolg war und ist eine Belastung und vor allem ist er schön und alle Beschwerden – wenn man sie so betrachtet – sind Beschwerden auf einem hohen Niveau.
Uwe Wittstock: Wie hat Sie der Erfolg verändert?
Judith Hermann: Ich bin dankbar dafür, dass manches sich gar nicht verändert hat. Dass meine Freundschaften meine Freundschaften geblieben sind. Diese Freundschaften hat es vor „Sommerhaus, später“ schon gegeben und sie bestehen weiter. Bezeichnenderweise sind nicht allzu viel neue dazu gekommen und ich könnte mich fragen, warum eigentlich nicht – vielleicht bin ich misstrauischer, als ich es sonst gewesen wäre, weniger offen, isolierter. Kann sein. Vielleicht ist das aber auch eine Frage des Älterwerdens.
Uwe Wittstock: Sobald die Rede auf Judith Hermann kommt, sprechen oder schreiben manche Kritikern, die sich sonst als seriös betrachten, mehr über die Autorenfotos von Ihnen als über die Inhalte Ihrer Bücher. Woher kommt das?
Judith Hermann: Das würde ich auch gerne wissen. Uwe Wittstock: Viele Ihrer Erzählungen werden in öffentlichen Diskussionen gar nicht wie Literatur, also wie Fiktion behandelt, sondern so, als schrieben Sie an einem Report über das Leben ihrer Generation am Prenzlauer Berg. Wundert Sie das? Judith Hermann: Ja. Sehr.
Uwe Wittstock: Woher kommt das?
Judith Hermann: Weiß ich ebenso wenig.
Uwe Wittstock: Stört es Sie?
Judith Hermann: Ja, manchmal stört mich das. Aber manchmal kann ich dieses Missverständnis auch wie ein etwas merkwürdiges Kompliment betrachten – offensichtlich gibt es da an meiner Weise zu erzählen etwas, das den Eindruck erweckt, ich stünde ganz und gar dahinter. Und so soll es ja im besten Fall auch sein. Es ist nur ein bisschen anstrengend, wenn man nach dem Erzählen auch erklären soll, wie das Erzählte zu verstehen ist und wie man es besser nicht verstehen sollte, wenn man eine Lesart vorschlagen soll. Vielleicht ist dieses neue Buch nicht so leicht wie eine Reportage übers Leben und Sterben zu lesen, zu vieles darin bleibt inkonkret, angedeutet und offen. Uwe Wittstock: Sie sind, wenn nicht gerade ein neues Buch von Ihnen erscheint, sehr zurückhaltend mit öffentlichen Auftritten. Judith Hermann: Ja, und das ist eine instinktive Reaktion und keine Überlegung. Eine Art Intuition? Ich fühl‘ mich nicht berufen, Podien zu besteigen, ich habe keine öffentliche Antwort auf politische und gesellschaftliche Fragen und keine öffentliche Meinung zu meiner Generation im Prenzlauer Berg. Ich denke dieses und jenes und spreche darüber in meinem Freundeskreis und behalt’s darüber hinaus für mich.
Uwe Wittstock: Ihr neues Buch „Alice“ ist kein Roman, sondern wieder ein Band mit Erzählungen. Was reizt Sie an dieser kürzeren Form?
Judith Hermann: Es gibt den schönen Satz von Katja Lange-Müller, die eine große Geschichtenerzählerin ist – „nicht der Autor entscheidet über die Länge eines Textes, sondern der Text an sich.“ Das war bei diesen Erzählungen genau so. Ich habe lange Zeit an einem längeren Text geschrieben, der sich immer weiter drehte, aber nicht auf den Punkt kam, sich im Kreis bewegte und zu nichts führte, was ich hätte abgeben wollen. Erst als ich in der Micha-Geschichte ankam, die dann die erste Geschichte des neuen Buches wurde, stellte sich ein Gefühl der Erleichterung ein, wie ein – Ankommen. Ich kann’s nicht begründen, es hängt vielleicht damit zusammen, dass ich situative, gegenwärtige Momente beschreiben will und die sind nach einem kurzen Brückenschlag eben vorbei.
Uwe Wittstock: Was ist der Vorzug einer Erzählung im Vergleich zum Roman?
Judith Hermann: Im besten Fall ist eine Erzählung so etwas wie eine Fotografie, es ist die sehr präzise Beschreibung eines Augenblickes. Etwas, bei dem man das Davor und Danach nicht erzählen muss, sondern sich beim Jetzt aufhalten kann – aber vielleicht erreicht, dass ein Leser sich dann das Davor und Danach gerne selber überlegen will. Ich kann ganz genau bei dem bleiben, was mich an einer Situation interessiert. Der Nachteil ist, dass auf dieser kurzen Strecke dann alles stimmen muss. Ich kann nichts verbergen und jeder Fehler fällt sofort auf, auf 350 Seiten kann man sich, glaube ich, sehr viel mehr Ungenauigkeiten erlauben.
Uwe Wittstock: Neben der Liebe ist der Tod wohl das wichtigste Thema der Literatur. Ihre Hauptfigur Alice wird in dem neuen Buch gleich mehrfach mit dem Sterben von Menschen konfrontiert, die ihr lieb sind. Sie haben in die Geschichten aber zugleich eine Motivkette eingewebt, die von Zauberern, Hokuspokus, Abrakadabra oder Hexen spricht, ohne dass dabei auf esoterischen Aberglauben gezielt würde.
Judith Hermann: Ich bin ein sehr abergläubischer Mensch. Klassisch abergläubisch und darüber hinaus heimlich, persönlich, geheim. Jeder kennt das, das magische Denken der Kinder – wenn ich es von hier bis zur Schule schaffe, ohne auf die Fugen zwischen den Steinen zu treten, werde ich eine gute Mathematikarbeit schreiben. Dieser kleine Pakt ist ein Schutz und den Erwachsenen soll der Aberglaube vor den möglichen Verlusten schützen. Vor den großen Verlusten des Erwachsenenlebens. Hokuspokus? Vielleicht. Aber vielleicht eben auch nicht.

Veröffentlicht unter Judith Hermann | Hinterlasse einen Kommentar

Alice, das leichte Spiel und der Ruhm

Na, also ein Trend ist das nicht. Überhaupt bekommen wir Kritiker ja oft etwas leicht Penetrantes bis schwer Peinliches, sobald wir glauben, die allerneuesten Moden der Literatur verkünden zu müssen. Da werden dann ein paar frisch erschienene Bücher, die eben noch verträumt auf eigenen Pfaden durch die Landschaften der Dichtung stapften, im heiseren Kommandoton in Formation gebracht und zu Spähtrupps erklärt, die ästhetisches Neuland erkunden. Schon zwei, drei Jahre später spricht niemand mehr vom angeblichen Trend – schon weil dann alle von den Trends der aktuellen Saison sprechen – und es ist offensichtlich, dass die damals so eifrig hergezählten Titel kaum mehr gemeinsam hatten als dasselbe Erscheinungsjahr. Hier nun soll es um Judith Hermanns neues Buch gehen, das nächste Woche herauskommt und fünf Erzählungen umfasst, die alle von der Titelfigur „Alice“ berichten. Und um Botho Strauß‘ neues Stück „Leichtes Spiel“, das in zehn Szenen „neun Personen einer Frau“ vorführt. Und um Daniel Kehlmanns Band „Ruhm“, der in neun Geschichten zwar nicht immer von derselben Figur, wohl aber immer vom selben kunstvoll verknüpften Figurenensemble erzählt. Neu ist das Verfahren nicht. Statt in einem Roman oder einem Drama eine lange, zusammenhängende Geschichte über die Hauptfigur auszubreiten, lässt es die Autorin oder der Autor bei kurzen Handlungsausschnitten. Es wird kein Porträt des Helden entworfen, sondern eine Serie von Schnappschüssen geliefert, die ihn aus verschiedenen Perspektiven zeigt. Die unübersehbaren Bruchkanten zwischen diesen Fragmenten betonen vor allem eines: Dass der Autor nicht alles über seine Figuren weiß, dass er sie zwar erfunden hat, sie aber dennoch ihre Geheimnisse bewahren, kurz: dass sich ein Leben nicht lückenlos erzählen lässt. Neu ist das, wie gesagt, nicht. Vielmehr gehören solche Überlegungen spätestens seit Beginn der Moderne, also seit rund hundertfünfzig Jahren zum kleinen Einmaleins der literarischen Ästhetik. Und natürlich gibt es Möglichkeiten, auch in traditionell gebauten Romanen oder Dramen die unaufklärbaren Resträtsel jeder Persönlichkeit zu betonen. Dennoch ist bemerkenswert, wie viele Erzählungsbände – Ingo Schulzes „Simple Storys“ etwa oder Judith Hermanns „Sommerhaus, später“ – in den letzten Jahren auf überraschend starke Resonanz stießen. Sicher, auch heute noch stehen fast ausschließlich Romane auf den Bestsellerlisten. Doch immer häufiger gelingt Geschichtensammlungen oder anspruchsvoll durchkomponierten Erzählungszyklen wie Kehlmanns „Ruhm“ der Einbruch in diese Phalanx. Offenbar scheinen immer mehr Leser nicht nur Genuss am epischen Langstreckenlauf, sondern auch am Erzählsprint zu entwickeln. Was erfreulich ist. Denn es gibt weit mehr makellose Kurzgeschichten als makellose Romane. Fast jeder Roman enthält auch schwache Passagen, denn kaum ein Autor kann mehrere hundert Seiten perfekte Prosa liefern. Zwei, drei Dutzend perfekte Seiten aber schon

Veröffentlicht unter Judith Hermann | Hinterlasse einen Kommentar