Von Schreibern und Schlägern

 A.J. Lieblings Buch über die klassische Ära der amerikanischen Faustkampfs lässt ahnen, was das Boxen zur Lieblingssportart vieler Schriftsteller macht

Schon mit dem Titel war er auf Provokation aus. „The Sweet Science“ nannte der amerikanische Reporter, Journalist, Schriftsteller A.J. Liebling, sein Buch über „Joe Louis, Rocky Marciano und die klassische Ära des amerikanischen Boxkampfs“. Um die Provokation spürbar zu machen und sie vielleicht noch ein wenig zuzuspitzen, machte sein begnadeter Übersetzer Joachim Kalka im Deutschen daraus „Die artige Kunst“. Denn als eine Form untadeliger Kunst, fröhlicher Wissenschaft, ehrbarer alter Menschenkunde wird das Boxen hier beschrieben. Liebling kannte sie alle. Nicht nur die Kämpfer der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre: Joe Louis, Rocky Marciano, Joe Walcott, Sandy Saddler, Randy Turpin oder Archie Moore. Sondern auch deren Trainer, Manager, Cutmen, Sparringspartner und sonstige Entourage. Er schrieb nicht allein über die legendär gewordenen Ringschlachten, sondern erforschte wie ein Ethnologe das Milieu des Boxens. Er war einer jener Autoren, der im „New Yorker“ aus Gesellschaftsreportage, subjektivem Erzählen und eminenter Sachkenntnis eine neue Form der Journalismus schufen, die später, als ihre Nachahmer auf Sachkenntnis immer häufiger glaubten verzichten zu können, New Journalism getauft wurde. Liebling schrieb über das Boxen als einer eigentümlichen Welt und Weltanschauung. Ihn interessierte das Boxen als Lebenshaltung, als eine Haltung, die ihm als Literat nicht fremd war: „Ein Boxer muss wie ein Autor alleine dastehen. Wenn er verliert, kann er keine Vorstandskonferenz einberufen und einen Vizepräsidenten oder den stellvertretenden Verkaufsdirektor fertigmachen. Deshalb mögen ihn die kleinen Charaktere nicht, die außerhalb einer Organisation gar nicht existieren können.“ Die artige Kunst? The Sweet Science? Wird mit all dem nicht eine der brutalsten Sportarten letztlich verniedlicht? Zugegeben, jeder Sportler will seine Gegner schlagen. Doch nur Boxer tun es in einem ganz und gar nicht übertragenen Sinne. Im Vergleich zu anderen Sportarten ist Boxen archaisch, unzivilisiert, primitiv. In allen andern Disziplinen findet der Wettstreit vermittelter statt: Es geht darum, sein Können an irgendwelchen Geräten zu beweisen, an Böcken oder Bällen, Rädern oder Rudern, Kugeln oder Kegeln, um dann die eigenen Ergebnisse mit denen des Kontrahenten zu vergleichen. Der Boxer dagegen steht seinem Gegner unmittelbar gegenüber, traktiert ihn mit Fäusten und macht sich zugleich zur Zielscheibe für dessen Schläge. Direkter kann eine Konfrontation nicht sein. Gemessen daran, haben selbst Ringer oder Judoka den körperlichen Kampf in eine höhere, zeremoniellere Form überführt: Sie wollen ihren Gegner fassen und niederwerfen – Boxer wollen ihn treffen und niederschlagen. Boxer nehmen es nicht, wie andere Sportler, in Kauf, ihren Widersacher zu verletzen, nein, es ist ihre erklärte Absicht. Es gehört zu ihren Zielen, dem Gegner Schmerzen zuzufügen, ihn wehrlos zu machen, ihn bewusstlos zu prügeln. Kein Wunder, dass dieser Sport nicht den besten Ruf genießt, dass er als grob gilt, als barbarisch, roh und atavistisch, mit einem Wort: als unkultiviert. Dennoch gehört gerade das Boxen zu den Lieblingssportarten der Dichter und Schriftsteller. A.J. Liebling ist alles andere als ein Einzelfall. Mit kaum einer anderen Disziplin haben sich in unserem Jahrhundert so viele Autoren und auch Autorinnen literarisch beschäftigt wie mit dieser. Nicht wenige von ihnen haben sich sogar selbst als Boxer versucht, wie eben Hemingway und Ezra Pound. Oder Jean-Paul Sartre, der sich als Gymnasiallehrer in Le Havre von der „Boxomanie“ der dreißiger Jahre anstecken ließ und seine Schüler regelmäßig zum Sparren in die örtliche Boxhalle einbestellte. Oder die forsche Vicki Baum, die sich beim Training mit dem Punchingball fotografieren ließ. Oder Arthur Cravan, der Lyriker und Berufsboxer in Personalunion war und 1916 den schwarzen Schwergewichtschampion Jack Johnson herausforderte, oder Maurice Maeterlinck, der mit dem seinerzeit berühmten, aber glücklosen Franzosen George Carpentier zu einem Schaukampf in den Ring stieg. Andere Schriftsteller, wie Budd Schulberg, Jack London, Nelson Algren, Norman Mailer und Joyce Carol Oates waren oder sind begeisterte, wenn nicht besessene Zuschauer am Ring. Jean Cocteau fühlte sich sogar zum Manager von „Panama“ Al Brown berufen, der mit seiner Unterstützung 1938 zum zweiten Mal Weltmeister im Bantamgewicht wurde. Neben Hemingway und Maurice Maeterlinck haben immerhin noch vier andere Literaturnobelpreisträger – Thomas Mann, George Bernard Shaw, Albert Camus und William Faulkner – das Boxen zum Thema der Literatur gemacht. Im deutschsprachigen Raum waren es in den zwanziger und dreißiger Jahren vor allem Bertolt Brecht, Robert Musil, Ödön von Horváth, Egon Erwin Kisch und Josef Roth, die sich schreibend mit dem Faustkampf beschäftigten. Heute kann man hierzulande unter anderem Jürgen Theobaldy, Wolf Wondratschek, Volker Braun, Günter Kunert, Bernd Eilert und Jan Philipp Reemtsma zu den bemerkenswerten Autoren rechnen, die sich vom Boxen zu Gedichten, Geschichten oder Essays inspirieren ließen. Woher dieses Interesse? Wodurch wird dieser Sport, der doch nicht gerade einen vergeistigten Eindruck macht, für Schriftsteller so anziehend? Anziehender zumindest als die meisten anderen, so viel zivilisierter wirkenden Disziplinen. Ein Grund dafür ist wohl, dass Boxen und Schreiben, wie A.J. Liebling betont, mehr Gemeinsamkeiten kennen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Denn es wäre ein Irrtum zu glauben, in der Literatur ginge es allein um Vergeistigung und Zivilisation. Vielen Schriftstellern, darunter gewiss nicht den schlechtesten, geht es in erster Linie darum, Erfahrungen zu formulieren und mitzuteilen. Und in dieser Hinsicht hat das Boxen einiges zu bieten: In jeder Runde, in jedem Schlagabtausch wird die archetypische Erfahrung des Kampfes auf körperliche Weise und in denkbar höchster Intensität durchlebt. Die Gier nach dem Triumph; die Bereitschaft, für einen Sieg schmerzhafte Opfer zu bringen; die Furcht vor der Niederlage; Stolz auf das eigene Können und Wut über das des Gegners – mit all dem und vielem mehr ist jede Sekunde im Ring erfüllt. Kein Wunder also, dass diese konzentrierten Momente der Auseinandersetzung und der Entscheidung auf Schriftsteller immer wieder einen beträchtlichen Reiz ausgeübt haben. Das klingt reichlich martialisch und wohl auch ein wenig danach, als sollten aggressive Urinstinkte glorifiziert oder literarisch gerechtfertigt werden. Doch so einfach ist das nicht. Zum einen hat es wenig Sinn, den Boxsport mit intellektuellen Mitteln beschönigen zu wollen, er bleibt ein erbarmungsloses Geschäft. Zum anderen verfügt er weltweit über eine so große, unbeirrbare Anhängerschaft, dass er auf solche Bemäntelungs-Versuche gut verzichten kann. Wichtiger ist es, sich vom Boxen an ein paar Tatsachen erinnern zu lassen, die im wohlbehüteten Alltag der postindustriellen Gegnwart nur zu oft verleugnet werden. Joyce Carol Oates bagatellisiert nichts in ihrem Essay „Über Boxen“, verleugnet aber auch nichts, wenn sie nüchtern feststellt: „Selbstverständlich ist Boxen primitiv; aber auch von Geburt, Tod und Sexualität könnte man sagen, dass sie primitiv sind. Was uns dazu zwingt, wenn auch widerwillig, anzuerkennen, dass unsere tiefsten Erfahrungen im Leben körperlicher Art sind – und dies, obwohl wir glauben, im Grunde geistige Wesen zu sein, was sicherlich stimmt.“ Immer schon war der Kontakt des Menschen zur Welt zu allererst körperlicher Art. Seine Arbeit, die Widrigkeiten der Natur oder handfeste Konflikte mit Gegnern formten ihn physisch und ließen an seinem Leib erkennen, was er erlebt hatte: Schon sein Körper zeigte, wer er war – eine jahrtausendealte Erfahrung, die auch psychische Spuren hinterlassen hat. Auch heute noch ist das Bedürfnis nach einem körperlichen Verhältnis zu unserer Umwelt tief in unser Gefühlsleben eingepflanzt und dort, auch wenn wir das nicht immer wahrhaben wollen, heimlich am Werk – denn in unserer Seele bleibt „jede frühere Entwicklungsstufe“, so formulierte es Freud, „neben der späteren, die aus ihr geworden ist, erhalten … das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich“. Heute aber, in dem vor gerade mal hundert Jahren angebrochenen Zeitalter der Technik, werden die Chancen, die Welt samt ihrem Widerstand körperlich zu erleben, ständig geringer. Zu den letzten Bereichen, die diese Erfahrung noch immer unvermindert vermitteln, gehören Gesundheit, Schönheit, Sex und Sport – und sie genießen folgerichtig ein völlig überzogenes Interesse in unserer Gesellschaft. Je stärker sich die Wirklichkeit in virtuelle Realitäten verflüchtigt, desto kurioser werden die Versuche, uns zumindest unsere körperliche Wirklichkeit spürbar zu machen: durch Bodybuilding, Tätowierungen, Piercings, Fitnessübungen oder selbstquälerische Diäten. Verglichen mit solchen fast verzweifelt wirkenden Praktiken nimmt sich das Boxen geradezu solide aus. Wie wenige andere Athleten wird der Boxer durch seinen Sport gezeichnet: Meist sieht man seiner Nase, seinen Augenbauen, seinen Jochbeinen noch im hohen Alter an, dass er in seiner Jugend im Ring gestanden hat. In seinen Kämpfen erfährt er am eigenen, wohltrainierten Leib – stellvertretend für sein Publikum – ein paar Tatsachen, die sonst in der Moderne abgepuffert und nur vermittelt wahrgenommen werden: Er wird mit seinen Möglichkeiten und Grenzen, seinem Können und seiner Ohnmacht so klar und qualvoll konfrontiert wie kaum ein anderer heute. Dieses Moment der Wahrheit, der unerbittlichen Gewissheit über das eigene Vermögen nicht zuletzt ist es, das viele Schriftsteller an diesem Sport so reizt. Es ist für einen Boxer nahezu unmöglich, sich selbst oder anderen etwas über seine Fähigkeiten vorzumachen, sobald er mit seinem Gegner im Ring steht. A.J. Liebling inszeniert seine Ringreportagen deshalb mit Vorliebe als psychologische Dramen. Fabelhaft, wie er von dem Duell zwischen dem intelligenten, technisch perfekten, stilvoll fightenden Archie Moor und dem durch den Ring watschelnden, mit schlichtem Gemüt und mörderischen Punch begabten Rocky Marciano erzählt. Keine Frage, dass damit nicht die ganze Wahrheit über diese Menschen zur Sprache kommt – es bleibt bei einer Wahrheit über ihre Fähigkeiten auf einer, wie es bei Freud heißt, „früheren Entwicklungsstufe“. Doch das macht das Boxen literarisch letztlich noch interessanter. Da jene frühen Entwicklungsstufen in Ausnahmesituationen psychisch unvermindert wirksam werden können, sie aber in unserer zunehmend entkörperlichten Gegenwart nur zu leicht aus den Blick geraten, wird das Boxen für einen Schriftsteller, der sich für seelische Tiefenschichten interessiert, zu einem vorzüglichen Studienfeld. Hier, am Ring, kann er mitverfolgen, wie offen zur Schau getragen wird, was sonst nur im Verborgenen blüht; hier kann er unmittelbar erleben, was sonst sorgsam verhüllt ausgetragen wird; hier kann er beobachten, was zum Vorschein kommt, wenn uns unsere zivilisatorischen Schonbezüge über die Ohren gezogen werden.

A.J. Liebling: „Die artige Kunst“. Joe Louis, Rocky Marciano und die klassische Ära des amerikanischen Boxkampfs
Aus dem Englischen von Joachim Kalka Berenberg Verlag, Berlin 2009 167 Seiten, 19,90 €

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