Ein fabelhaftes Schlachtfeld für Anwälte

Verleger-Sohn Joachim Unseld reicht Klage ein gegen den Umzug von Suhrkamp nach Berlin  

Wird der Umzug des Suhrkamp Verlags von Frankfurt nach Berlin auf juristischem Wege verhindert? Oder zumindest verzögert? Joachim Unseld, der Sohn des 2002 verstorbenen Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld, ist bis heute mit 20 Prozent am Verlag beteiligt und hat, wie er jetzt bestätigte, beim Frankfurter Landgericht Klage eingereicht gegen die Entscheidung der Suhrkamp-Geschäftsführung, den Firmenstandort nach Berlin zu verlegen. Er prozessiert damit gegen Ulla Berkéwicz, die zweite Frau und Witwe seines Vaters, die sich seit 2003 als Mehrheitseignerin (mit 51 Prozent der Anteile) selbst zur Geschäftsführerin des Verlags bestellt hat. Aus juristischer Sicht ist die Sachlage schwierig. Schon als die ersten Gerüchte umgingen, Suhrkamp wolle nach Berlin aufbrechen, nannte Joachim Unseld das Vorhaben einen „Umzug in die Provinz“ und ließ wenig Zweifel an seiner ablehnenden Haltung. Anfang Februar gab Ulla Berkéwicz dennoch bekannt, die Gesellschafter (zu denen mit 29 Prozent auch die Medienholding AG Winterthur gehört) begrüßten „mehrheitlich“ ihren Vorschlag zum Standortwechsel. Damit scheint sich nun ein fabelhaftes Schlachtfeld für Wirtschaftsanwälte aufzutun. Denn einige Juristen stehen auf dem Standpunkt, ein Minderheitengesellschafter wie Joachim Unseld habe kein Vetorecht gegen ein Umzugsvorhaben, andere wiederum vertreten die Ansicht, eine so weitreichende Entscheidung wie die Verlegung des Firmenstandortes müssten von Gesellschaftern einstimmig gefasst werden. Doch ob dieser Konflikt tatsächlich in einem langen, quälenden Verfahren vor Gericht ausgetragen wird, ist zumindest fraglich. In der Buchbranche pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass Joachim Unseld den Dauerstreit mit seiner Stiefmutter schon geraume Zeit leid ist und seine Suhrkamp-Anteile veräußern will. Es sollen bereits erste Gespräche zwischen Ulla Berkéwicz und ihm über einen möglichen Verkaufspreis stattgefunden haben. Nachdem Ulla Berkéwicz aber den 1. Januar 2010 als Umzugstermin bekannt gab, hat sie sich unter Zeitdruck gesetzt. Mit der Klage Unselds gegen die Entscheidung dürfte sich dieser Druck erhöhen. Denn falls er sich um eine einstweilige Verfügung gegen den Umzug bemühen und sie tatsächlich erwirken sollte, könnte er sogar gegen weitere Vorbereitungen für den Umzug juristisch vorgehen. All diese Querelen kann sich Ulla Berkéwicz aber vom Halse schaffen, wenn sie mit ihrem Stiefsohn handelseinig wird – doch je näher der 1. Januar rückt, desto weniger entgegenkommend dürfte der bei Preisverhandlungen sein. Vielleicht war es also nicht der klügste Schachzug, die eigenen Mitarbeiter und die Öffentlichkeit mit dem Umzugsplan zu überraschen und ihn erst danach in den Details zu organisieren. Nach Verlagsangaben erhielten 115 Suhrkamp-Angestellte zum 31. März eine Änderungskündigung, mit der sie vor die Alternative gestellt werden, entweder ihrem Arbeitsplatz nach Berlin zu folgen oder sich arbeitslos zu melden und den von Verdi ausgehandelten Sozialplan in Anspruch zu nehmen. Nach Schätzungen des Betriebsrats wird wohl rund ein Drittel der Belegschaft nicht in die Hauptstadt umziehen und Suhrkamp also verlassen. Für den Verlag bedeutet das einerseits einen massiven Verlust an Kompetenz, andererseits aber die Chance, sich in deutlich kleinerem Format in Berlin neu zu erfinden. Ungeklärt ist zudem die Frage, wo Suhrkamp künftig in Berlin residieren wird. Nach wie vor liebäugelt der Verlag mit dem im Februar effektvoll präsentierten Nikolai-Haus. Doch das muss zuvor saniert werden. Ob das Gebäude genügend Raum bietet, wird leichter abzusehen sein, wenn sich in den nächsten Tagen herausstellt, wie viele Mitarbeiter ihrem Arbeitsplatz an die Spree folgen. Doch auch in dieser Immobilienfrage gibt es juristische Probleme. Denn offenbar genießt ein ehemaliger Museumsdirektor ein lebenslanges Wohnrecht im Nicolai-Haus. Eins aber steht jetzt schon fest: Der Umzug wird teuer. Der Sozialplan für die nicht berlinwilligen Suhrkamp-Angehörigen dürfte in die Millionen gehen, die Umzugs- und die Sanierungskosten ebenfalls. Bei der Frage, ob diese Summen vom Verlag oder vom Land Berlin übernommen werden, sind beide Seiten wenig auskunftsfreudig. Auf jeden Fall will Suhrkamp die beiden Gebäude im Frankfurter Westend, in denen der Verlag bislang untergebracht war, zu Geld machen. Mit einem Entgegenkommen der städtischen Behörden kann er dabei allerdings nicht mehr rechnen – denn nachdem Suhrkamp allen Frankfurter Mitarbeitern die Änderungskündigung zuschickte, ist klar, dass kein Verlagsteil am alten Ort verbleiben soll. Eines der beiden Grundstücke, die Suhrkamp jetzt verkaufen will, ist rechtlich für Wohngebäude ausgewiesen. Siegfried Unseld hatte seinerzeit bei der Stadt eine befristete Erlaubnis zur gewerblichen Nutzung erwirken können. Die wird nun wohl nicht verlängert werden. Grundstücke, die für Wohnhäuser vorgesehen sind, haben im Frankfurter Westend aber einen deutlich niedrigeren Wert als die, auf denen auch Bürogebäude stehen dürfen.

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„Rebus“

Hans Magnus Enzensberger nähert sich den Bilderrätseln der Welt mit menschenfreundlichen Gedichten, ohne deshalb ein freundlicher Dichter zu werden

Es ist keine drei Jahre her, da stellte Hans Magnus Enzensberger eine Auswahl seiner Lyrik aus über einem halben Jahrhundert unter dem nüchternen Titel „Gedichte 1950-2005“ zusammen. Eröffnet hat er die Sammlung mit einer Art fantastischem Preislied, das er schrieb, als er seinen zwanzigsten Geburtstag noch nicht lange hinter sich hatte. Es heißt „Utopia“ und feiert eine farbenfrohe Wunschwelt, in der Prokuristen „durch die Wolken radschlagen“, Päpste „aus den Dachluken zwitschern“ und das Glück „wie eine Meuterei“ ausbricht. Ein vielsagender Beginn. Politische Utopien sind mittlerweile stark im öffentlichen Kurs gesunken, und Versuche, sie Realität werden zu lassen, stehen gemeinhin im Ruf robespierrehafter Zwangsbeglückung. Allerdings konnte man in diesem Auftakt zu der von Enzensberger selbst gezogenen lyrischer Lebenssumme eben auch so etwas sehen wie die Erinnerung des gereiften Dichters an den Überschwang jener frühen Jahre, in denen er als beobachtender Animateur der Studentenbewegung das Kommandowort „Revolution“ großzügig unter seinen Zuhörern austeilte. Doch diese Zeit des Überschwangs ist lange her. Auch für Enzensberger. Nach dem Ende der Studentenbewegung hat er so entschieden und klar wie kein anderer deutscher Schriftsteller am Imageverlust der Utopien und anderer großer politischer Erzählungen mitgewirkt. Ein Jahrzehnt nach 1968 konstatierte er knapp, was sich linke wie rechte Revolutionäre hinter die Ohren schreiben sollten, nämlich dass „wir die Gesetze der Geschichte nicht kennen“, dass deshalb der Verlauf der Geschichte „unvorhersehbar ist“ und dass wir, „wenn wir politisch handeln, nie das erreichen, was wir uns vorgesetzt haben, sondern etwas ganz anderes, das wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen“. Folgerichtig hat Enzensberger bis heute für große Weltveränderungsentwürfe außer Hohn wenig übrig und plädiert ebenso scharfsinnig wie scharfzüngig für eine Politik des Sichdurchwurschtelns, des pragmatischen Flickwerks und der Improvisation. Daran ändert sich in seinem neuen Lyrikband „Rebus“ wenig. Auch hier stimmt er sein Loblied an nicht auf allumfassende Konzepte oder allumstürzende Ideen, sondern auf die zahllosen tagtäglichen Anstrengungen, die das Leben lebbar machen, auf das fortgesetzte mühsame Stückwerk der Humanität: „Ich meine nur diesen kleinen Kerl da der das, was ihr zerfetzt habt, beharrlich zusammenflickt – wie er heißt, weiß ich nicht, er wird ja nirgends erwähnt –, die Großmutter, die am Flussufer das besudelte Hemd des Gefolterten wäscht, und der bucklige alte Mechaniker, der am Horn von Afrika diese Wasserpumpe, die ihr schon wieder kaputtgemacht habt, zum xten Mal repariert. Die meine ich, die einzigen, die immerzu etwas ausrichten, wenn auch nur das, was ihnen möglich ist: etwas Winziges, Vorläufiges, Rätselhaftes, und woher es kommt, daß sie nicht aufgeben, das wüßte ich gern.“ So etwas kann Enzensberger wie kein anderer: Die Leichthändigkeit und zugleich der Ernst, mit denen er hier – zwei, drei Striche genügen ihm – Situationen und Schicksale skizziert, dazu ein Empfinden für die Riesenhaftigkeit weltweiten Elends weckt und das Argument anklingen lässt, dass die Selbstorganisation des Nächstliegenden allemal jeder staatlichen Verordnung fürs Große und Ganze vorzuziehen sei. In seinem geräumigen Dichterherzen ist auch heute, kurz vor dem achtzigsten Geburtstag, noch immer eine Kammer für anarchistische Leidenschaften reserviert. All den Hymnen, die derzeit angesichts der Finanzkrise auf den Staat als Retter und Aufseher angestimmt werden, hält er seine Warnung vorm „Leviathan“ (wie er mit Thomas Hobbes den Staat nennt) entgegen, vor „unserem riesigen Mitesser“, der „als Massenmörder unübertroffen“ ist und den wir trotz allem nie loswerden: „Für uns spricht es nicht, / daß wir ihn nötig haben, / diesen ewigen Langweiler.“ Enzensbergers Tonfall ist bei all dem merklich gelassener geworden. In jüngeren Jahren war das Wort „schneidend“ eine seiner Lieblingsvokabeln, wenn es darum ging, die Sprache eines von ihm bewunderten Autors zu beschreiben. Und wer auf den Gedanken verfiel, diesen Begriff auf Enzensbergers Gedichte oder Essays anwandte, hatte mit seinem Groll nicht zu rechnen. Er schliff seine Sätze, bis sie den Gedanken eine ebenso elegante wie messerscharfe Kontur gaben, und seine Verse, bis sie Erfahrung so eindrucksvoll wie zugespitzt auf den Punkt brachten. Das ist bis heute der unverwechselbare Enzensberger-Sound. Zum Beispiel wenn er als Verteidiger der Wölfe den Lämmern vorhält: „Gelobt sein die Räuber: ihr, / einladend zur Vergewaltigung, / werft euch aufs faule Bett / des Gehorsams. Winselnd noch / lügt ihr. Zerrissen / wollt ihr werden. Ihr / ändert die Welt nicht.“ Wer als Leser nicht flink genug war auf den Beinen, konnte von diesem pointenblitzenden, bendenden Sichelwagen der Lyrik schnell überrollt werden. Verglichen damit klingen Enzensbergers Gedichte heute ruhiger, gefasster. Aber es wäre nicht nur ungerecht, sondern schlicht falsch, deshalb von Altersmilde oder Resignation zu sprechen. Auch ein Ausdruck wie Abgeklärtheit beschreibt ihre Tonlage nur dann richtig, wenn man darunter ein zunehmendes Klarwerden dieses Autors über die eigene Aufgeklärtheit versteht: „Du willst es ja nicht anders haben“, ruft er sich zu, „gib’s doch zu! Du brauchst, / woran du krankst, den Spaß, / die Angst, den Haß und deine Ruh, / die Frau, das Geld, den Streß.“ Mit anderen Worten: Enzensbergers neuer Lyrikband hat, zumal in seinem ersten Zyklus „Gleichgewichtsstörung“, eine demonstrative Neigung zur Selbstreflexion. Der Dichter betrachtet sich hier als Rätsel. Aber er richtet sich deshalb nicht ein in den zähen Grabenkämpfen der Innerlichkeit, sondern nimmt sich vielmehr bissig an die Kandare: „Psyche, Ego, Identität – / ziemlich fremde Worte. Je mehr du herumbohrst / in diesem Sumpf, / desto sinnloser.“ Ja, er macht sich lustig über die eigene Psyche: „Sie ist ja so sensibel, die Ärmste. / … / Schon ist sie gekränkt, / beklagt sich, droht mit Migräne. / … / Unzertrennlich sind wir, / bis daß der Tod uns scheide, / meine Psyche und mich.“ Wenn Enzensberger, wie hier, Gedanken an den Tod häufiger nicht nur durchschimmern lässt, sondern sehr direkt anspricht, ist das bei den Gedichten eines bald Achtzigjährigen nicht weiter verwunderlich. Bemerkenswert ist jedoch die Vogelperspektive, aus der er dabei nicht selten den Blick auf sich selbst richtet. Fast scheint es so, als würden verschiedene Haltungen durchprobiert, in denen dem eigenen Ableben entgegengetreten werden kann, um nach der persönlich angemessenen Ausschau zu halten. Doch zurück zum eingangs angesprochenen Verhältnis zur Utopie: Denn zur Selbstreflexion des Zweiflers und Spötters Enzensberger gehört, dass er auch zweifelt am Prinzip des Zweifels und das Prinzip des Spottes verspottet. Und ebenso reizt auch die eigene Skepsis gegenüber den politischen Utopien ihrerseits seine Skepsis. Wie schon in seinem Essay „Vermutungen über die Turbulenz“ fragt er danach, ob nicht gerade in der Unvorhersagbarkeit der Zukunft, in der unberechenbaren Vielfalt der Möglichkeiten eine überraschende Chance liegen könne? Sicher, der Turmbau zu Babel, jenes Urbild einer Utopie, ist gescheitert, aber „daß wir seither / nicht alle dasselbe reden, in einerlei Zunge, / hat auch sein Gutes. Mißverständnisse, Krach, / ja, das ist mühsam, doch sagen am Ende nicht / fünftausend Sprachen mehr als die eine?“ Der neue Band endet mit einem Langgedicht mit dem Titel „Coda“, das den Klang eines Resümees, ja eines vermächtnishaften Fazits annimmt. Immer wieder umkreist Enzensberger hier die Frage nach dem, was möglich, was erreichbar ist. Man darf das durchaus politisch verstehen. „Alles Mögliche – niemand weiß, was das ist.“ Damit beginnt dieses Gedicht, und auch das redet keinen ideologischen Großprojekten das Wort. Es schwärmt vielmehr vom jenem Glück, das in der Abwesenheit des vermeidbaren Elends besteht, vom Glück des geheizten Zimmer, des klaren, sauberen Wassers und lobt fast wie Brecht die schlichte Freude an der Kastanie im Hof oder am Geruch eines Sommerregens. An solchem bescheidenen Luxus aber kann sich, ungetrübt von tagtäglicher Not, nur ein kleiner Teil der Menschheit erfreuen: „Daß nicht alles Mögliche möglich ist, / tut mir leid. Ihr tut mir leid, / liebe Genossen.“ Doch, muss man sich damit abfinden? „Moment mal, sagt das Gehirn, / ungläubig wie es ist, maybe sagt es, / … / noch ist das Spiel nicht zu Ende. / Totzukriegen ist das Mögliche nie.“ Mit politischer Agitation hat das nichts zu tun, wohl aber damit, die Idee der politischen Utopie nicht verloren zu geben, sie weiterhin als Aufgabe, ja als Auftrag zu betrachten und ihr so einen Platz frei zu halten – denn niemand weiß, was das Mögliche ist. Hier reicht der fast achtzigjährige Hans Magnus Enzensberger dem Nachwuchslyriker gleichen Namens, der „Utopia“ schrieb, über sechs Lebensjahrzehnte hinweg die Hand. Beeindruckend ist die Sicherheit, mit der Enzensberger nach wie vor seine literarischen Mittel handhabt. Auch in diesem Band bleibt er dem reimlosen, freirhythmischen Gedicht fast durchgehend treu. Formale Experimente sind seine Sache nicht. Lieber bündelt er seine Gedichte zu Zyklen, die durch die zahllosen Anspielungen, Parallelen, Kontraste, Widersprüche der einzelnen Texte untereinander zu einem schillernden, schwer festlegbaren Ganzen werden. Enzensbergers Sprache bleibt bei all dem leicht und schwingend, klar und doch konzentriert. Er ist ein Meister des einfachen und doch doppelbödigen Vokabulars. Die Bedeutungsnuancen, die er in seinem Abschlussgedicht „Coda“ der Rede vom „Möglichen“ abgewinnt und der Notwendigkeit etwas „auszurichten“, dürfte noch manche literaturwissenschaftliche Interpretationsdebatte befeuern. Aus all dem spricht eine menschenfreundliche Haltung, aber Enzensberger ist deshalb noch lange kein freundlicher Dichter. Trotz seines nicht mehr schneidenden, sondern inzwischen gelasseneren Tonfalls, trotz seines Plädoyers für das Stückwerk der Humanität und für bescheidene Vorstellungen vom Glück ist Enzensberger nicht zur Mutter Theresa der Gegenwartslyrik geworden. Er beherrscht und bevorzugt nach wie vor auch die schroffen Gesten. „Euch zu beichten – kommt nicht in Fragen“, teilt er uns mit und: „Nein, ich lasse mich nicht provozieren, / ich rege mich, verdammt noch mal, / nicht mehr auf über euch, / denn ihr könnt mich mal.“ Klare Worte. Doch selbst die sind nicht Enzensbergers letztes Wort, denn selbst in ihnen schwingt noch ein Gutteil Ironie mit. Denn gerade in diesem Band gewährt er, auch wenn er tatsächlich nie in den Ton einer Beichte verfällt, den Lesern einige für seine Verhältnisse ungewöhnlich intime Einblicke. In manchen Gedichten spricht er nahezu ungeschützt und deshalb umso anrührender von seinen Depressionen, seiner Todesangst und Todeslust. Vom „schneidenden“ Enzensberger der frühen Jahre ist hier fast nichts mehr zu spüren, statt dessen von einer Verletzlichkeit, die er zuvor kaum je erkennen ließ: „Doch was mich schützt, auch wenn es euch nichts angeht, ist einzig und allein meine Frau. Denn sicherer als der einsame Schwimmer fühlt sich in seiner Nußschale, seinem Bett, in den seichten Sintfluten, die uns heimsuchen, wer nicht allein ist.“

Hans Magnus Enzensberger: „Rebus“. Gedichte
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009 114 Seiten, 19,80 €

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„Etwas Kleines gut versiegeln“

  Svealena Kutschke entwirft in ihrem Debütroman einem Liebenskummeralbtraum

Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu. Heine hat sie auf vier Zeilen gebracht: „Ein Jüngling liebt ein Mädchen / Die hat einen anderen erwählt; / Der andre liebt eine andre, / und hat sich mit dieser vermählt.“ Wem so etwas widerfährt, dem bricht das Herz entzwei. In Svealena Kutschkes Debüt „Etwas Kleines gut versiegeln“ ist die Konstellation personell komplexer und von Vermählung definitiv nicht die Rede, doch alles läuft auf die alte, herzzerreißende Geschichte hinaus: „Marc beobachtete Jonas, Jonas starrte Ben an, Ben fixierte mich, ich heftete meine Blicke wie üblich auf Nick, Nick schaute Linn an, Linn schloss die Augen. Cut.“ Diese Kette begehrlicher Blicke bringt aber nur den zweiten Teil eines umfassenden Liebesunglücks auf eine knappe Formel. Der erste Teil endete bereits zuvor desaströs. Die Erzählerin Lisa war im heimatlichen Deutschland einer Zuneigung zum kapriziösen B. verfallen, der sich jedoch ausschließlich zu Männern hingezogen fühlte, gern Frauenkleider trug und Selbstmord beging. Woraufhin Lisa zwischen sich und ihren Schmerz den halben Weltball legt und in Australien Zuflucht sucht. Dort wohnt sie beim homosexuellen Marc, schläft mit dem bisexuellen Ben und verliebt sich in den heterosexuellen Nick – der aber auch gern mal Omas rosa Nachthemd trägt. Ihr Pech in Liebensdingen wird Lisa gleichwohl nicht los, denn Nick bleibt seiner Linn eisern treu, obwohl die ihm schon lange den Laufpass gab. Das Beste an dem Roman ist Svealena Kutschkes frische, farbige Sprache. Sie hat großen Mut zu originellen, mutwillig windschief gehaltenen Bildern. Mal sind sie betont lakonisch – wenn Lisa auf einem Friedhof kräftige Züge aus der Weinflasche nimmt, spürt sie: „Der Zwischenraum zwischen mir und dem Tag wurde immer größer.“ Mal sind sie betont poetisch – wenn Lisa mit einem Begleiter einen Joint teilt, resümiert sie: „Gemeinsam träumten wir von einem Mond, der nie unterging, von Zigaretten, lang wie die Milchstraße, von Drinks, tief und unendlich, von Liedern mit Harmonien wie ein Kometenschweif.“ Zudem hat Svealena Kutschke ein Ohr für Dialoge zwischen Leuten, die alles dafür geben, cool zu wirken, für die aber schon der erst morgendliche Schritt aus dem Bett einem Hochseilakt über schwindelnde Abgründe gleichkommt. Wer sich von einem Roman jedoch eine konsistente, nachvollziehbare Geschichte verspricht, wird hier nicht fündig und kann das als Schwäche betrachten. Allerdings ist der Verzicht auf klar strukturierte Handlung in diesem Buch programmatisch. Lisa legt wenig Wert auf traditionelle Geschlechterrollen, Höflichkeiten, Arbeitsverhältnisse oder sonstige Ordnungsvorstellungen. Selbst angeblich feste Größen wie Raum und Zeit verlieren sich dabei ins Vage: Lisa finden gelegentlich Fotos, die sie selbst an Orten zeigen, die sie nicht kennt und an denen sie nie war. Kurz: Der Roman folgt nicht der Logik der Vernunft, sondern der des Traums, genauer: der eines Liebeskummeralbtraums. Der erreicht seinen Höhepunkt, als Lisa mit ihren Freunden in Frauenkleidern zu einem Ausflug ins Outback aufbricht. Die Reise führt, wie es sich für eine australische Abenteuertour gehört, zu Ayers Rock, der heute nach der Sprache der ortsansässigen Aborigines politisch korrekt Uluru genannt wird. Nun weiß jeder Leser Bruce Chatwins, dass man in der Nähe jenes magischen Bergs unvermeidlich auf Traumpfade gerät. So naturgemäß auch Lisa, die sich hier tief in einen Irrgarten der Phantasien verstrickt. Wer will, kann darin die nötige Katharsis sehen, durch die Lisa sich endlich von ihren hoffnungslosen Lieben zu B. oder zu Nick löst. Vielleicht aber signalisiert diese mäandernden, ziellose Wanderung im Herzen Australiens auch nur einen endgültigen Abschied vom jugendlichen Aufbegehren – der in Lisas Fall immer zugleich ein Begehren ist. Denn im letzten, traurigen Satz des Romans ist davon die Rede, der Sternenhimmel sei nun vertrieben.

Svealena Kutschke: „Etwas Kleines gut versiegeln“. Roman Wallstein Verlag, Göttingen 2009. 294 S., 19,90 €

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Hans Magnus Enzensberger, Peter Hacks und die Abenteuerlust

So eine Karriere ist selten. 1955 veröffentlichte Hans MAGNUS Enzensberger, gerade 25 Jahre alt, seinen ersten Aufsatz, weitere folgten. 1957 erschien der erste Lyrikband „verteidigung der wölfe“ – und spätestens danach wurde er zu den führenden Schriftstellern des Landes gezählt. Nicht wenige sehen in ihm bis heute den repräsentativen Intellektuellen der Bundesrepublik. Jetzt ist in der kleinen, aber klugen Zeitschrift „Berliner Hefte“ (Heft 8. 10,- €. ISSN 0949-5371) erstmals ein Briefwechsel zwischen Enzensberger und Peter Hacks publiziert worden. Hacks war 1955 als Kommunist von der Bundesrepublik in die DDR übergesiedelt und griff Enzensberger 1958 in der Zeitschrift „Junge Kunst“ mit sehr orthodoxen marxistischen Thesen an. Doch nicht diese Attacke ist das Überraschende an der Korrespondenz. Auch nicht Enzensbergers Bekenntnis, er halte ein sozialistisches Wirtschaftssystem für zukunftsträchtiger als ein kapitalistisches, das er heute trotz akuter Finanzkrise wohl etwas behutsamer formulieren würde. Nein, bemerkenswert ist vor allem Enzensbergers frühes Plädoyer für politischen Pragmatismus und gegen jede Form von Ideologie: „In Zweifelsfällen entscheidet die Wirklichkeit.“ Gewöhnlich gelten die Gräben zwischen den hochfliegenden Utopien der Dichter und den tagtäglichen Mühen der Politiker als schwer überbrückbar. Doch in diesen Briefen bezieht der knapp dreißigjährige Enzensberger, dem man damals gern die Rolle des Zornigen Jungen Mannes zudachte, und der in den Sechzigerjahren als Mitwortführer der Studentenbewegung galt, vor allem Positionen, die sich kaum von denen einer kämpferischen Sozialdemokratie unterscheiden. Wenn Hacks zum Beispiel von „revolutionären Akten“ schwärmt, die für veränderte Eigentumsverhältnisse und damit für eine gerechtere Sozialordnung sorgen, hält ihm Enzensberger entgegen: „Eigentumsverhältnisse lassen sich auch evolutionär verändern.“ Mehr noch: „Ja, ich glaube, dass man die verbesserungsbedürftigen Zustände verbessern kann, ohne die Bourgeoisie durch bürgerliche oder militärische Eingriffe von außen gewaltsam zu stürzen. Die Wirklichkeit spricht dafür.“ Undsoweiterundsofort. Enzensberger tritt hier nicht als einseitiger Verteidiger des Westens auf, wohl aber als einer der Gewaltlosigkeit und des unvoreingenommenen Denkens: „Ich fürchte, wenn er nicht weitergedacht wird, wird der Marxismus bald einer Mumie ähneln. Wahrheit, wenn Sie mich fragen, ist die permanente Revision.“ Hacks erweist sich verglichen dazu als intellektuell unbeweglich und hat seinem Briefpartner außer elegant formulierten Dogmen wenig entgegenzuhalten. Bleibt die Frage, warum Enzensberger zehn Jahre später auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung in seinem Essay „Berliner Gemeinplätze“ nicht mehr die permanente Revision, sondern stattdessen manche revolutionären Gewissheiten feierte, von denen er sich danach sehr bald wieder verabschiedete. Doch ein Schriftsteller wie Enzensberger ist wohl ohne eine gute Portion Abenteuerlust nicht vorstellbar. Und die abenteuerlichsten Erfahrungen waren 1968 nicht auf Seiten der Gegenspieler der Studentenbewegung zu machen.

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Der ganze Kafka zum Preis einer Packung Kaffee

 Gegenentwurf zur Suhrkamp-Kultur: Der Verlag und Versand „Zweitausendeins“ wird 40 Jahre alt

Natürlich wollen Verleger bedeutende Bücher machen, Bücher von denen man noch nach Jahren spricht. Natürlich müssen Verleger ihre Bücher verkaufen können, müssen fähig sein, aus Geist Geld zu machen. In Tiefsten ihres Herzens aber wollen Verleger zu all dem noch etwas anderes: Sie möchten erkannt werden, sie möchten sich mit ihrer Arbeit vor den Augen der Leser erkennbar machen. Das ist die Krönung eines Verlegerlebens: Nicht nur ein gutes Programm gut zu verkauft, sondern ihm dazu noch die persönliche intellektuelle und ästhetische Physiognomie mitzugeben, einen ureigenen literarischen Charakter, der vom Publikum angenommen, geschätzt, ja genossen wird. Das beliebteste Beispiel für solche verlegerische Meisterschaft ist hierzulande die „Suhrkamp-Kultur“ Siegfried Unselds. Viel seltener wird von einem anderen derartigen Frankfurter Geniestreich gesprochen, von dem 2001-Versand und -Verlag, den Lutz Reinecke prägte und der jetzt 40 Jahre alt wird. Dabei ist die „2001-Kultur“ Reineckes, der 1983 bei der Heirat den Namen Lutz Kroth annahm, in vielerlei Hinsicht ein überzeugender Gegenentwurf zur Suhrkamp-Kultur. Es ist eine wüste Medien-Melange, die weit über ein Buchprogramm hinausreicht, Musik, Comics, Filme, Software mit einschließt, aber dennoch unverwechselbar bleibt und einen spezifischen kulturellen Stil, wenn nicht gar Lebensstil repräsentiert. Zu den kantigen Details am Rande gehört, dass 2001 ein Spross vom Stamme Suhrkamps ist. Lutz Kroth, damals noch Reinecke, hatte als junger Buchhändler einen von Suhrkamp ausgeschriebenen Wettbewerb um die effektvollste Schaufenstergestaltung gewonnen. Er beeindruckte Unseld, wurde engagiert, stieg zum Vertriebschef des Verlags auf und verließ ihn ausgerechnet im Jahr 1968. Einen Schritt, der programmatische verstanden werden kann. Denn Suhrkamp als Vorzeigeunternehmen der antiautoritären Studentenbewegung zu betrachten, war zumindest aus der Innensicht des Verlages immer ein Irrtum. Der Patriarch Unseld gehörte zum Geschlecht der Alpha-Männchen und führte das Personal seines Hauses mit eher fester als pfleglicher Hand. Reinecke dagegen arbeitete zunächst kurz für die Satirezeitschrift „Pardon“ und gründete dann mit Walter Treumann den 2001-Versand, der sich als ein betont gelassenes, allem autoritären Gehabe abholdes, lustbetontes Unternehmen jenseits der Hochkultur darstellte – und damit von Beginn an als Gegenbild zu den traditionellen Verlagen auftrat. Damit stieß er naturgemäß auf gute Resonanz in einem Milieu, das gerne als „links“ oder „alternativ“ klassifiziert und an den subkulturellen Rand der Gesellschaft gerückt wurde, das aber, wie sich zeigen sollte, keineswegs randständig war. 2001 startete nicht als Verlag, der Bücher produzierte, sondern als Versand, der die unterschiedlichsten Produkte aus dem Umfeld der Zeitschrift „Pardon“ verkaufte, Spiele, Gimmicks oder Schallplatten („Wir liefern jede in ‚Pardon’ erwähnte LP – Karte genügt“). Doch schnell weitete sich das Programm aus, es wurden ein Faksimile-Reprint der von F.W. Bernstein, Robert Gernhardt und F.K. Waechter gestalteten „Pardon“-Beilage „Welt im Spiegel“ ins Angebot genommen, dazu Comics der amerikanischen Underground-Zeichner Robert Crump und Gilbert Shelton, kubanische Revolutionshymnen („Kampflieder voller Liebe, Heiterkeit u. Freiheitsdurst“), aber auch Sex-Zeichentrickfilmchen („Schneeflittchen unter den sieben Zwergen“) und was man sonst noch als Rebell gegen Bürgertum und Establishment in jenen Jahren dringend brauchte. Ein wichtiger Bestandteil dieser Mixtur war aber immer auch Literatur von höchstem Rang. Reinecke kaufte Restbestände bedeutender Titel aus den Verlagslagern oder Großantiquariaten auf, um sie dem Publikum seines Versands – zu stark herabgesetzten Preisen – anzuempfehlen. Mit bemerkenswertem Erfolg. Das E- und U-Kultur keine Gegensätze, sondern Ergänzungen sind, die tadellos nebeneinander im Bewusstsein jedes an seiner Gegenwart interessierten Zeitgenossen Platz finden, musste sich Reinecke nicht erst von den Propheten der Postmoderne vorbeten lassen. Scheinbar schwer Verkäufliches von Marcel Proust, Arno Schmidt, William Shakespeare oder Suhrkamps Bertolt Brecht fand so preisermäßig seinen Platz im Medienarsenal mancher studentenbewegten Wohngemeinschaft. Die wichtigsten Verständigungsmittel des Versands mit seinen Kunden wurden dabei so genannte „Wimmelanzeigen“. Sie waren von dem Designer Gunter Rambow in schwarz-weiß und winziger Schrift als wirkungsvoller Kontrast zur übrigen bunten und von Großbuchstaben dominierten Reklamewelt konzipiert worden. Dazu verschickte 2001 an sämtliche Kunden in seiner Adressenkartei alle zwei Monate ihren kleinformatigen Katalog namens „Merkheft“, der wie ein gedruckter Flohmarkt ein schier bodenlose Füllhorn von Buch- und Schallplattenangeboten ausschüttete. Getextet in einem kunstvollen, nur scheinbar der Umgangssprache abgelauschten Sound, sorgte diese, in einer Auflage von bis zu einer halben Million verbreitete Broschüre für Unabhängigkeit vom Wohlwollen der Feuilletons. Was immer 2001 verkaufen wollte, der Versand konnte es seinen Interessenten schnell, ohne Umwege und präzise nach den eigenen Vorstellungen anpreisen. Hinzu kommt ein Netz von inzwischen 13 Läden, in denen 2001 sein Programm an die Laufkundschaft bringt. Der erste Schriftsteller, der die besonderen Qualitäten von 2001 begriff, war Wolf Wondratschek. 1974 bot er Reinecke sein neues Lyrikmanuskript „Chucks Zimmer“ an. Der griff zu und gerade mal 5 Wochen später konnten die Kunden bereits die fertigen Bücher bei 2001 bestellen. 30.000 Exemplare wurden an die Leser gebracht – ein für Lyrikbände astronomisches Ergebnis. Bald darauf schloss Reinecke Kooperationen mit dem Verlag „März“, später dann mit den Verlagen „Rogner & Bernhard“ und „Haffmans“, die ihre Programme bis heute exklusiv über den Versand vertreiben. Zu den erstaunlichsten Leistungen von 2001, die man in doppelter Hinsicht verlegerische Großtaten nennen kann, gehören Zeitschriften-Reprints. 20 Hefte des „Kursbuchs“, 20 Jahrgänge der „Akzente“ oder die vollständige, 24.500-seitige „Fackel“ von Karl Kraus druckte Reinecke in kleinem Format nach und verkaufte sie in Auflagen, die jedem Herausgeber einer Literaturzeitschrift ekstatische Lustschreie entlocken können. Sogar das Gesamtwerk von Johann Sebastian Bach auf 99 LPs für 699 DM bot er an oder das Lebenswerk des Dirigenten George Solti auf über 200 LPs für 1299 DM. Und fand tatsächlich genügend Musikliebhaber mit Vollständigkeits-Sehnsüchten, die ihm diese gigantomanen Editionen abnahmen. Das größte 2001-Projekt aber erschien 1980. Reinecke hatte einen Tipp bekommen und beschaffte sich in den USA eine 1400 Seiten schweren Studie der amerikanischen Regierung über die Lebensbedingungen der Erde bis zum Jahr 2000: „Umweltschützer wurden damals als Spinner diffamiert. Und hier war zum ersten Mal aus regierungsamtlichen Quellen ein Beleg, dass die Erde gefährdet wird durch unseren zerstörerischen Lebensstil.“ Reinecke ließ den Materialberg übersetzen, brachte ihn unter dem Titel „Global 2000“ heraus und schließlich mit einer Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplaren unter die Leser. Ein Bestseller, ja mehr noch: ein Blockbuster des ökologischen Bewusstseins hierzulande. Vor zwei Jahren, noch vor dem 65. Geburtstag, hat sich Lutz Kroth, ehemals Reinecke, in den Ruhestand begeben und versucht sich, wie er sagt, „aus dem Arbeitskäfig auszuwildern in das wirkliche Leben.“ Das Unternehmen 2001 wurde vom Gründer des Filmverleihs Kinowelt Michael Kölmel übernommen und macht weiterhin haarsträubende Angebote: Das Gesamtwerk von Franz Kafka zum Beispiel in einem Band für den Preis einer Packung Kaffee, das Gesamtwerk Mozarts auf 170 CDs für den Preis einer Tankfüllung. Man fasst es nicht.

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Taub und tot: Das Werk des Alters „Wie bitte?“

 – David Lodges Roman stellt ungemütliche Fragen

Es beginnt wie so ein richtig schöner, gemütlicher Campus-Roman. Der britische Romancier David Lodge ist in diesem Genre weiß Gott kein Anfänger. Er war lange Professor an der Universität von Birmingham und verfügt über einschlägige Milieukenntnisse. In „Saubere Arbeit“ (1988) zum Beispiel erzählte er von der Liebesgeschichte zwischen einer Literaturwissenschaftlerin mit dekonstruktivistischen Leidenschaften und einem raubeinigen Industriemanager mit traditionell konstruktiven Interessen. In „Denkt“ (2001) war es dann die Affäre zwischen einem casanovahaften Kognitionswissenschaftler, der die Geheimnisse des Gehirns per Computer lüften will und einer schüchternen Schriftstellerin, die dem Seelenleben der Mitmenschen mit berufsbedingter Einfühlung auf die Spur zu kommen versuchte. Wenn also im ersten Kapitel des neuen Lodge-Romans „Wie bitte?“ eine attraktive Doktorandin auf einer Vernissage einem schwerhörigen Linguistik-Professor namens Bates begegnet, lehnt man sich im Lesesessel entspannt zurück im festen Glauben, nun könne es ja heiter werden. Wird es aber nur passagenweise und Lodge gibt der Handlung des Romans eine gründlich andere Richtung, als sich zunächst anzudeuten scheint. Natürlich ist er ein viel zu erfahrener Erzähler, als dass er sich die Gelegenheit zu allerlei amüsanten Missverständnissen und kleinen Peinlichkeiten entgehen ließe, die sich aus dem Gebrechen seiner Hauptfigur ergeben. „Taubheit ist komisch, Blindheit tragisch“, behauptet Bates bitter und ruft mit einigen Anekdoten quer durch die Kulturgeschichte in Erinnerung, wie verständnis-, ja herzlos die Mitwelt sogar mit den Genies unter den Gehörlosen umging, wie mit Philip Larkin etwa oder mit Beethoven. Wer nichts versteht, wird von anderen schnell für verstockt oder tölpelhaft gehalten, wer nichts sieht, immer als hilfsbedürftig und bedauernswert betrachtet. So ungerecht ist die Welt und da Bates als Sprachwissenschaftler mit schlechtem Gehör auch beruflich Nachteile einstecken muss, hat er gleich die erste Gelegenheit ergriffen, sich frühpensionieren zu lassen. Natürlich langweilt er sich nun allein zuhause am Schreibtisch, zumal seine Frau im Gegensatz zu ihm gerade Karriere macht und von mancherlei sozialen Verpflichtungen in Anspruch genommen wird, von denen sich Bates seiner Hörprobleme wegen ausgeschlossen fühlt. Mit anderen Worten: Er ist auf dem besten Weg, ein mürrischer, verschlossener, ewig mit dem Schicksal hadernder Zausel zu werden, der den Rest seiner Tage damit verbringt, mit linguistischem Scharfsinn allen nahe liegenden oder auch an den Haaren herbeigezogenen Verbindungen zwischen den Worten „deaf“ und „dead“, also zwischen taub und tot nachzuspüren. Bates ist kein Dummkopf, er ahnt durchaus, das und wie er sich verändert. Lodge gibt dem Roman die Struktur eines Tagebuchs: Bates selbst notiert, was ihm widerfährt. Meist schreibt er in der Ich-Form, die allzu peinlichen Missgeschicke schildert er allerdings lieber aus der distanzierten Er-Perspektive. Er entwickelt dabei eine Menge Selbstironie und Witz. Vor allem eine Weihnachtsfeier, die fast alle Romanfiguren zusammenführt, nutzt Lodge in Sitcom-Manier zu einigem turbulent-komischem Durcheinander. Doch all das kann Bates aus seiner wachsenden Isolation nicht retten, sondern führt sie ihm nur noch deutlicher vor Augen. Zum typischen Campus-Roman würde es nun passen, wenn ein Flirt oder gar eine Affäre mit der intelligenten und sehr blonden Doktorandin den eingerosteten Bates die Reize des Lebens wiederentdecken lässt. Woraufhin naturgemäß dessen Ehefrau empört wäre, aber auch das übrige Universitätsmilieu reichlich vernagelt reagierte, obwohl doch die beiden ungleichen Liebenden rundum waschechte, tief romantische Gefühle füreinander hegten. Aber auf diese sehr absehbaren Wege steuert Lodge seinen Roman nicht. Stattdessen rückt er den zweiten Teil des Begriffspaares Deafness und Death in den Mittelpunkt des Romans, der sich nunmehr als ganz und gar nicht gemütlich entpuppt: „Taubheit ist so etwas wie ein Vortod, eine ausgedehnte Hinführung zu jener langen Stille, in die wir alle früher oder später hinabsinken müssen.“ Von fast allen Seiten fühlt sich Bates mit finsteren Fragen konfrontiert. Die Doktorandin beschäftigt sich, wie sich herausstellt, mit der sprachwissenschaftlichen Analyse der Abschiedsbriefe von Selbstmördern. Bates’ Vater ist inzwischen 89 Jahre alt, wird zunehmend wunderlich und verwirrt, will aber um keinen Preis in ein Altenheim. Auf einer Vortragsreise durch Polen besucht Bates dann Auschwitz, also einen vom Geist bestialischer Lebensvernichtung tief gezeichneten Ort. Zudem beginnt er, obwohl seine Frau ihn warnt, mehr zu trinken als für ihn und seine verbliebenen Sozialkontakte gut ist. Kurz: Lodge führt seinen Helden in eine ziemlich ultimative Lebenssackgasse. Zugleich aber eröffnet er ihm einen schmalen Lichtstreif in all der Düsternis. Denn obwohl sich Bates gegen die hörproblemlose und ihm deshalb so bedrohlich erscheinende Umwelt regelrecht verbarrikadiert, bietet ihm das Schicksal die Chance, allerlei ungewohnten, neuen Erfahrungen zu sammeln. Die Doktorandin macht ihm kaum verhohlene sexuelle Avancen, um ihn als Helfer für ihre Dissertation zu gewinnen. Die fortschreitende Krankheit seines Vaters sorgt für Kummer, zwingt Bates aber auch, seine Passivität aufzugeben und nicht mehr nur über dem eigenen Unglück zu brüten. Außerdem hat er sich breitschlagen lassen, einen Kurs im Lippenlesen für Hörgeschädigte zu besuchen – und fühlt sich unter seinen Leidensgefährten erstmals wieder vollwertig und anerkannt. Lodge lässt seinen Helden also nicht an dessen grantiger Weltflucht scheitern. Vielmehr zeigt er, dass Bates, weil er gegen seinen Willen wieder in den Tumult des Lebens einbezogen wird, allmählich zu zaghafter Lebensfreude zurückfindet. Ein zweifellos einsichtsvolles, beherzigenswertes Fazit. Leider trägt Lodge gelegentlich ein wenig dick auf. Dann merkt man seine wohlmeinenden Absichten und ist leicht verstimmt. Doch meist deutet er nur an, wie sich ein vernünftiger Mensch seiner Ansicht nach den Rückweg aus einem weltabgewandten Abseits zu bahnen hat. So kann man „Wie bitte?“ ein Alterswerk im doppelten Sinne des Worten nennen: Zum einen, weil es von den Folgen des Alterns handelt. Zum anderen weil sich David Lodge hier seiner gewohnten literarischen Motive und Mittel so sicher ist, dass er sich ihrer gelegentlich ein wenig zu routiniert bedient. P.S.: Lodge hat seinen Roman, der wegen einer Vielzahl von englischen Wortspielen nicht leicht in andere Sprachen zu übertragen ist, seinen Übersetzern gewidmet. Das gibt natürlich Anlasst, die Mühen der deutschen Übersetzerin Renate Orth-Guttmann besonders herauszustreichen. Sie hat im vorliegenden Fall sehr gute Arbeit geleistet. Denn Professor Bates ist nicht nur Linguist, sondern hat auch eine Leidenschaft für englische Lyrik. Die große Zahl seiner Anspielungen auf mehr oder minder bekannte Gedichte hat sie mit viel Fingerspitzengefühl und großer Umsicht in den deutschen Text hinüberretten können. In einem kleinen Anhang zum Roman wird aufgeschlüsselt, mit welchen Schwierigkeiten sie in diesem Fall zu kämpfen hatte.

David Lodge: „Wie bitte?“ Roman
Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Blessing Verlag, München 2009 367 Seiten, 19,95 €

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Ein Ritter ganz aus Sprache namens Philip Marlowe

Von 50 Jahren starb Raymond Chandler, der große Schriftsteller der Weltwirtschaftskrise 

Es war ein Sturz ins Bodenlose. Während der zwanziger Jahre, der Roaring Twenties, reckten sich in USA alle Wachstumskurven dem Himmel entgegen, ein goldenes Zeitalter schien angebrochen. Dann machte der Börsenkrach am 24. Oktober 1929 das Land zur Ruine. Die Löhne halbierten sich, die Arbeitslosenrate stieg auf 25 Prozent, immer mehr Menschen hatten buchstäblich nichts zu Essen, ein Fünftel der Kinder litt an Unterernährung, an den Stadträndern bildeten sich Favelas, in denen Hunderttausende unter Wellblechdächern hausten. Auf dem Höhepunkt der Krise 1932 verlor irgendwo in Los Angeles auch der Manager einer Ölfirma seinen Job. Er war 44 Jahre alt, hatte früher sentimentale Gedichte geschrieben, inzwischen eine ausgeprägte Vorliebe für Alkohol und realistisch betrachtet keine Chance mehr, je wieder auf die Beine zu kommen. Was dem Mann, er hieß Raymond Chandler, außer der Ehe mit einer 18 Jahre älteren Frau noch blieb, war seine Leidenschaft für Sprache. Er war derart hingerissen von dem lakonischen Ton dieses literarischen Jungstars namens Hemingway, der seine Sentimentalität so perfekt hinter knappen, scheinbar kaltschnäuzigen Sätzen verbergen konnte, dass er dessen Stil in einer kleinen Parodie nachzuahmen versuchte. Die einzigen, denen in Chandlers Augen etwas Ähnliches gelang wie Hemingway, waren die Autoren von billigen Heftchen-Krimis, die unter dem Titel „Black Mask“ erschienen – allen voran Dashiell Hammett. Also ließ er seinen Namen im Telefonbuch mit dem Zusatz „Schriftsteller“ versehen, setzte sich hin und schrieb seine erste Crime-Story für „Black Mask“. Sie erschien im Dezember 1933. Das Honorar betrug 180 Dollar, ein Cent pro Wort. Genre und Epoche waren wie geschaffen füreinander. Der Glaube an das Gute im Menschen stand nicht eben hoch im Kurs. Banken und Spekulanten, die den Crash von 1929 mitausgelöst hatten, vertrieben ganze Völkerscharen von Schuldnern aus ihren Häusern und von ihren Farmen. John Steinbeck beschrieb die nackte Not der zu Wanderarbeitern degradierten Obdachlosen in „Früchte des Zorns“. Entwurzelung und Elend steigerte nicht eben die Immunität gegen die Verlockungen des Verbrechens. In einem Rückblick auf seine frühen Geschichten schrieb Chandler, ihre Anziehungskraft habe wohl „in der ganz eigentümlichen Atmosphäre der Angst“ gelegen, die sie einfingen: „Ihre Gestalten lebten in einer Welt, in der alles schiefgelaufen war, einer Welt, in der, schon lange vor der Atombombe, die Zivilisation sich eine Maschinerie zu ihrer eigenen Zerstörung geschaffen hatte und mit dem ganzen irren Vergnügen damit umzugehen lernte, mit dem ein Gangster seine erste Maschinenpistole ausprobiert.“ Bei all dem hatte das Vertrauen in den Saat als fürsorgende Ordnungsmacht gelitten. Präsident Herbert C. Hoover unternahm zwischen 1929 bis 1932 wenig gegen die Wirtschaftskrise, da er fürchtete öffentliche Hilfen für notleidende Bürger könnten den amerikanischen Individualismus untergraben. Behörden wurden bald nicht mehr als Schutz, sondern als Teil der umfassenden Bedrohung wahrgenommen. Wer auf eine Polizeiwache gehe, so zitiert Chandler in einem seiner Romane einen zeitgenössischen New Yorker Reporter, der sei „aus unsrer Welt hinausgetreten in eine, in der es keine Gesetze gibt.“ Die ironische Pointe an Chandlers Büchern ist, dass sie zwar einige der finstersten Augenblicke der amerikanischen Geschichte porträtieren – zugleich aber den amerikanischen Mythos zutiefst bestätigen. Die Gerechtigkeit hat in der Welt, von der seine Romane berichten, keine Chance, es sei denn, es findet sich ein entschlossener Mann, ein typischer amerikanischer Held, der die Sache in die Hand nimmt und sie gegen alle Widerstände durchsetzt. Das war der weiße Ritter, von dem Chandler schon träumte, als er noch sentimentale Verse verfasste. Mit Philip Marlowe schuf er den Archetyp des Privatdetektivs, der seither einen festen Platz im kollektiven kulturellen Gedächtnis hat. Marlowe ist Teil seiner aus den Fugen geratenen Gesellschaft, er bewegt sich in ihr wie ein Fisch im Wasser. Aber er ragt dennoch über sie hinaus. Mitten in ehrloser Zeit ist er ein Mann von Ehre. Während alle enthemmt nach Geld grabschen, nimmt er nur Honorare, die ihm nach seinem Moralkodex zustehen. Wenn alle nur auf den eigenen Vorteil aus sind, hält er den Kopf für die Schwachen hin. Besonders glaubwürdig war diese Figur nie. Dass Chandler es dennoch gelang, sie Millionen von Lesern als realistisches Bild eines knallharten Kerls mit guter Seele zu verkaufen, ist letztlich wohl allein seiner stilistischen Perfektion zu verdanken. Fast alle seiner Sätze geben sich den Anschein, als seien sie nur auf nüchterne Beschreibung, kalte Kalkulation der Interessen oder auf sarkastischen Witz aus und doch glaubt man in jedem zugleich das romantische Herz Marlowes schlagen zu hören. Da die Black-Mask-Redaktion dazu neigte, alles in einem Manuskript zu streichen, was nicht der Spannung diente oder die Handlung vorantrieb, entwickelte Chandler eine diskrete Kunst, Atmosphäre zu vermitteln, ohne sie sichtbar werden zu lassen oder sie gar zu benennen: „Meine Theorie ging dahin, dass die Leser nur meinten, sie interessierten sich nur für die Handlung; dass sie in Wirklichkeit aber, obwohl sie es nicht wussten, genau an dem interessiert waren, was mich auch interessierte: an der Entstehung von Gefühl durch Dialog und Beschreibung.“ Nach etlichen Erzählungen wagte sich Chandler 1939 an seinen ersten Roman „The big Sleep“. Er wurde gleich zum Erfolg. Die größere Form bot ihm den Platz, Los Angeles als Moloch zu porträtieren, der „so viel Charakter hat wie ein Pappbecher“, als Dschungel, in dem es zuging wie im Raubtierkäfig zur Fütterungszeit. Durch den „New Deal“ Präsident Franklin D. Roosevelts fasste die Wirtschaft Amerikas inzwischen wieder Tritt, doch der von Chandler um Marlowe herum erbaute rabenschwarze literarische Kosmos hatte sich längst in den Köpfen der Leser verselbstständigt und lebte munter fort. Die Romane haben Chandler weltberühmt gemacht. Weil ihm ohne die strenge Black-Mask-Redaktion erzählerisch alles erlaubt war, stolperte er darin für kurze Momente aus seiner stilistischer Deckung und ließ Marlowe kurze Predigten halten wie einen Pastor. Chandler spürte das, konnte sich aber nicht mehr disziplinieren: „Das Ärgerliche mit diesem Marlowe ist: man hat zuviel über ihn geschrieben und geredet. Er wird immer selbstbewusster und versucht sein Leben so umzustellen, wie es seinem Ruf bei den Pseudo-Intellektuellen entspricht.“ Doch das bleiben kleine Schwächen. Nimmt man all seine Erzählungen und Romane zusammen, entwirft Raymond Chandler das Panorama einer Gesellschaft quer durch alle Milieus vom Tellerwäscher bis zum Millionär, vom Taschendieb bis zum Mörder. Es zeigt eine Gesellschaft, die alles für möglich hält, an nichts mehr glaubt und im Begriff ist, sich ihr Grab zu schaufeln.

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Matthias Politycki und „Die Sekunden danach“

Wer es sich leicht machen möchte mit dem Poeten Matthias Politycki, nennt ihn den Bruder Lustig unserer Lyrik. Der entsprechende Befund ist rasch erhoben: Seine beeindruckende Sprachartistik in Tateinheit mit fortgesetzter Wortspielerei, seine Vorliebe für populäre, scheinbar triviale Themen, die sonst meist als komplett literaturuntauglich abgetan werden, seine Weigerung, in die handelsübliche Dichter-Melancholie einzustimmen und schließlich sein auffälliges Talent, traditionelle Formen mit überraschenden, gar nicht traditionellen Inhalten zu verknüpfen. Hier hat es, so die schnelle Schlussfolgerung, einen gewiefter Entertainer ins lyrische Gewerbe verschlagen, wo er wirkt wie ein beschwingter Harald Schmidt in einer Beckett-Inszenierung. Nichts davon ist falsch, jedes Wort dieser Diagnose trifft zu. Wer mal wieder Gedichte lesen und nicht erst dechiffrieren will, wer bei Heine Freude findet an Ironie in Versform, bei Brecht an bissig klugem Witz, bei Benn am rasanten Zappen durch diverse Tonfälle, der ist gut beraten, seine Laune aufzubessern mit Polityckis neuer Gedichtsammlung „Die Sekunde danach“. Es ist der Band eines Profis, effektsicher, formbewusst, intelligent, abwechslungsreich. Hier kennt einer sein Metier und seine Mittel und weiß exakt, was er will und wie er es erreichen kann. Hier hat einer nicht die geringste Lust, sich den üblichen Erwartungen des Lyrikbetriebs zu fügen, der vom Dichter so gern vage Empfindungen hören will, fein verteilt auf mysteriöse Zeilen im Flattersatz. So weit, so gut. Aber ist das alles? Gibt es bei Politycki noch mehr, noch anderes zu entdecken? Woraus genau besteht der Stoff, mit dem er sein Publikum sprachakrobatisch unterhält? Die Lyrik gilt von alters her als die subjektivste aller Literaturgattungen. In der Poesie ist der Schriftsteller ganz er selbst, hier darf er’s sein. Politycki aber hat eine ausgeprägte Neigung zum Rollengedicht. Er nascht dichtend an immer neuen Sprachindividualitäten, probiert sie durch wie ein Schauspieler die verschiedenen Rollenfächer. Der früh versterbende Kioskbesitzer Ansgar Wischenbart zum Beispiel ist so ein Fall im neuen Band, oder der durch den Slang des Alltags schlingernder Rudi Schachtlmacher, oder der reichlich buchhalterisch veranlagte Dr. Daxenberger. Nun könnte man solche lyrischen Identitätswechsel für ein übliches Stilmittel des satirischen oder kabarettistischen Schreibens halten. Doch Politycki macht sich nicht lustig über die von ihm geschaffenen Sprachcharaktere. Er will sie nicht dem Spott aussetzen, sondern sie vor unseren Ohren wahrnehmbar machen als Teilaspekte einer gewöhnlichen zeitgenössischen Existenz. Auch ist das lyrische Ich offenkundig sehr von den Schauplätzen seiner Auftritte abhängig, jedenfalls nimmt es mit jedem Standortwechsel eine veränderte Färbung an. Im Café ist es anders als in der Kneipe, in Dublin anders als in der „dänischen Südsee“, in der vertrauten Zweitsamkeit anders als in der notwendigen Arbeitseinsamkeit. Doch dieses schwankende, schaukelnde, schlotternde Selbstempfinden wird hier offenkundig nicht als Grund zur Sorge, sondern vielmehr als unvermeidliche Gegebenheit, als Schicksal und letztlich auch als Bereicherung der Lebensmöglichkeiten empfunden. Dieses so vielgestaltige Ich fühlt sich nicht unwohl in seinen ständig wechselnden Häuten. Was ein wenig an die Formel des Soziologen Zygmund Baumann erinnert: „Wenn das moderne Problem der Identität darin bestand, eine Identität zu konstruieren und sie fest und stabil zu halten, dann besteht das postmoderne Problem der Identität hauptsächlich darin, die Festlegung zu vermeiden und sich Optionen offenzuhalten.“ Doch das soll nicht heißen, dass hier ein ebenso halt- wie geistloser Daseinstaumel behaglich bedichtet würde. Politycki ist jetzt satt über Fünfzig und damit in einem Alter, in dem Unvermeidliches klarer vor Augen tritt. Verschwiegen hat er den Tod als Antriebsmittel seiner lyrischen Arbeit nie, doch in den 44 Gedichten aus „Jenseits von Wurst und Käse“ (1995) und in den 66 Gedichten aus „Ratschlag zum Verzehr von Seidenraupen“ (2003) war doch spürbar häufiger von den Verlockungen guter Bars oder schöner Frauen die Rede als in den 88 Gedichten der jetzt erschienenen „Sekunden danach“. (Nach der Logik der Serie müsste die nächste Lyriksammlung Polityckis 110 Gedichte zählen.) Doch eine intensivere Beschäftigung mit dem Tod muss bekanntlich nicht zwangsläufig Depression und Schwermut zur Folge haben, sondern kann zum Anlass werden, mit geschärften Sinnen zu erleben, was immer es zu erleben gibt. Von der letztgenannten Haltung geben Polityckis neue, auf den ersten Blick so unbeschwerte Gedichte literarisch Auskunft. Das Cover des neuen Bandes zeigt das Foto einer gigantischen Welle, auf deren steiler Flanke ein Surfer reitet. Die Welle verschafft ihm den nötigen Schwung für seinen Ritt. Doch sie wird ihn auch unfehlbar unter sich begraben. Matthias Politycki ist heute, nachdem Robert Gernhardt und Peter Rühmkorf Tod sind, soweit ich sehen kann der größte lebende Sprachkulinariker unter den deutschen Dichtern.

Matthias Politycki: „Die Sekunden danach“. 88 Gedichte
Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 2009 128 Seiten, 17,95 €

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Reisen durchs Reich der Erinnerung

Christa Wolf zum 80. Geburtstag

Christa Wolf ist nicht nur die berühmteste deutsche Schriftstellerin ihrer Generation. Ihr Werk ist darüber hinaus in vielfacher Hinsicht exemplarisch. An ihm lassen sich Größe und Grenzen einer Haltung ablesen, die in den Jahrzehnten vor der Wiedervereinigung die deutsche Literatur lange dominierte. Christa Wolf nimmt damit unweigerlich einen herausragenden Platz in der Literaturgeschichte des geteilten Landes ein. Andererseits aber rückt ihre Arbeit aus Sicht der Gegenwart ebenso unweigerlich in immer größere Ferne. Wer Christa Wolf eine Erzählerin nennen wollte, machte es sich zu leicht. Ihre Sache ist nicht das Erfinden von Geschichten, sondern das Nachsinnen über Geschichte. Sie ist eine emphatische Beschwörerin der Erinnerung, eine Erkundungsreisende durch das persönliche und kollektive, das literaturgeschichtliche und kulturhistorische Gedächtnis. „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, lautet der Satz, mit dem sie ihr „Kindheitsmuster“ (1976) eröffnete und den sie von William Faulkner übernahm. Die Verantwortung der Deutschen, sich ihrer Geschichte zu stellen und Vergangenheit selbstkritisch zu durchleuchten, hat in Christa Wolf eine ihrer literarische Identifikationsfiguren gefunden. Für ihre Neigung zur prüfenden Rückschau gibt es biografische Gründe. Christa Wolf hat sie benannt. Sie wuchs in Landsberg an der Warthe als Tochter einer starken Mutter und eines eher nachgiebigen Vaters auf, der ohne große politische Ambitionen schon 1933 in die NSDAP eintrat. Der Eifer der Tochter war größer, bald wurde sie nicht nur Mitglied im BDM und „Führeranwärterin“, sondern steigerte sich in jugendliche Hitler-Verehrung hinein. Sie hatte gelernt, „dass Gehorchen und geliebt werden ein und dasselbe ist.“ Ein Kindheitsprägung, an der sich nach Kriegsende wenig änderte. Aus der halbwüchsigen Anhängerin Hitlers wurde eine strebsam Gefolgsfrau Stalins. Ihren ersten literaturkritischen und literarischen Arbeiten war das anzumerken. Ihr Debüt „Moskauer Novelle“ (1961) ist lupenreine Propagandaprosa und die Erzählung „Der geteilte Himmel“, mit der sie 1963 in beiden deutschen Staaten erste Triumphe feierte, liest sich heute wie ein Traktat, in der die protestantische Entsagungsethik in Dienst genommen wird für den Aufbau einer rosaroten sozialistischen Zukunft. Umso erstaunlicher war ihre folgende Entwicklung. Christa Wolf durchlebte seelisch wie intellektuell, was man seit jenen Sechzigerjahren gern einen Emanzipationsprozess nennt. Sie begann ihre Autoritätshörigkeit zu begreifen. Die SED umwarb sie, und sie ließ sich zur Kandidatin des ZKs machen. Doch als 1965 die Schriftsteller der DDR wieder einmal rüde an die kurze ideologische Leine gelegt wurden, überraschte sie auf dem berüchtigten 11. ZK-Plenum nicht nur die Kulturfunktionäre, sondern wohl ebenso sich selbst mit Mut zum Widerspruch. Auch literarisch wandelte sie sich. In „Nachdenken über Christa T.“ (1968) war sie als Schriftstellerin erstmals ganz bei sich. Es ist ein melancholischer Roman der Rückbesinnung an eine früh an Krebs verstorbene Freundin, die am frostigen Zweckrationalismus der Wiederaufbaujahre litt. Da das Buch nicht nur als Kritik an der dürftigen Nachkriegszeit, sondern auch am dürftigen DDR-Sozialismus verstanden werden konnte, begründete es in Ost und West Christa Wolfs Ruf als Oppositionelle. Manches von ihrer Vorliebe für die literarische Rückschau rührt wohl her aus der protestantischen Tradition bohrender Gewissenserforschung. Doch bei Christa Wolf erhielt sie noch eine andere Dimension. Obwohl Freuds Werk in der DDR als dubiose geistige Konterbande des Klassenfeindes galt, nahm die Selbstbefragung in ihren Büchern einen spürbar psychoanalytischen Zug an. „Kindheitsmuster“ ist kein großer, sondern ein eher zäher autobiografischer Roman, aber gleichwohl das literarische Zeugnis einer hartnäckigen Konfrontation mit der eigenen politischen Glaubens- und Unterwerfungsbereitschaft. Bei Freud ist aber auch zu erfahren, dass Prägungen, nachdem sie erkannt wurden, noch keineswegs überwunden sind. Christa Wolfs politische Position zu den sozialistischen Machthabern war oft ambivalent und nie so eindeutig wie die Václav Havels etwa in der Tschechoslowakei. In ihr eine Dissidentin sehen zu wollen, verkennt die Tatsachen. Ihre Absichten zielten auf die Reform des realen Sozialismus im Sinne eines idealen Sozialismus, und sie gab die Loyalität dem Regime gegenüber nie auf. 1976 unterzeichnete sie mit ihrem Mann Gerhard den Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Aber sie blieb, obwohl ihr Mann aus der SED ausgeschlossen wurde, Mitglied der Partei. Erst im Juli 1989, als das allgemeine Aufbegehren gegen die Diktatur mit Händen zu greifen war, trat sie aus. Ihr schönstes Buch ist „Kein Ort. Nirgends“ (1979). Eine hundertseitige, schwebend leichte und doch schwermütige Erzählung über eine fiktive Begegnung der beiden späteren Selbstmörder Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist in frühromantischer Zeit: Zwei von utopischen Hoffnungen Getriebene, zwei mit der Verfassung ihrer Epoche nicht Auszusöhnende, die einander einen flüchtigen Moment lang als Wesensverwandte entdecken. Als „Vorgänger“ rief sie die beiden an und stellte sich so selbstbewusst in eine anspruchsvolle literarische Ahnenreihe. Ihre in jungen Jahren eingeübte Anhänglichkeit an Weltbilder, die nur in weiß und schwarz gemalt sind, blieb trotz allem groß. Den Trojanischen Krieg in „Kassandra“ (1983) als Konflikt zwischen militaristischen Griechen und kultivierten Trojanern zu schildern, war intellektuell wie künstlerisch unergiebig. Nur vor dem Hintergrund der eisern bipolaren Blockkonfrontation jener Jahre und der hierzulande offenbar unstillbaren Angstlust angesichts apokalyptischer Prophezeiungen ist zu begreifen, mit welcher Begeisterung dieses Buch aufgenommen wurde. Christa Wolf ließ wenige geistige Strömungen der Zeit aus. In den Vorlesungen zu „Kassandra“ entdeckte sie den Feminismus, in „Störfall“ (1987) Ökologie und Technikkritik für sich. Wenn sie zu einer Volksschriftstellerin für die gebildeten Stände heranwuchs, dann auch deshalb, weil ihr kein Modethema fremd war. Wie illusionär, oder schonender ausgedrückt: wie idealistisch verklärt ihr Weltbild war, erwies sich in dem Monat der Mauerfalls. In ihrer Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989, in einer Fernsehansprache oder im Aufruf „Für unser Land“ plädierte sie für einen Fortbestand der DDR als „sozialistischer Alternative“ zur Bundesrepublik. Sie versprach ihren Mitbürgern „kein leichtes, aber ein nützliches Leben.“ Doch die Resonanz war gering und politisch folgenlos. Woraufhin sie, die seit Jahrzehnten schon Reiserechte genoss, die „überstürzte Öffnung“ beklagte und von einer „millionenfachen Bekanntschaft mit der westlichen Konsumgesellschaft“ sprach, die den „Konsens zwischen linker Intelligenz und Massen“ untergrub. Selbstgerechtigkeit ging hier eine innige Verbindung ein mit Oberlehrerattitüden und einer grotesken Überschätzung der Rolle, die Intellektuelle in Demokratien spielen können. Die öffentliche Zäsur kam mit dem Streit über ihre autobiografische Erzählung „Was bleibt“. Darin stellte sie sich nach dem Sturz des DDR-Systems als Stasi-Verfolgte dar, die sie zweifellos war, ohne die privilegierte, von ihren exzellenten Verbindungen im Osten und durch die Aufmerksamkeit des Westens geschützte Großautorin zu erwähnen, die sie zweifellos auch war. Doch es ging nicht allein um ein missratenes Buch. Christa Wolf Rang als politische Orientierungsfigur, die sie in der DDR für viele gewesen war, wurde in Zweifel gezogen, da sie dem Regime zwischen Kritik und Ergebenheit schwankend so lange verbunden geblieben war und erst in letzter Sekunde mit ihm brach. Auch ihre Literatur wirkte allmählich überlebt: Das Verdienst der Nachkriegsliteratur in West und Ost, den Deutschen ihre Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus hartnäckig ins Bewusstsein zu bringen, ist unbestritten. Christa Wolf hat Bedeutendes dazu beigetragen. Doch in der liberalen Öffentlichkeit des vereinten Deutschland wurde und wird diese Aufgabe mehr und mehr von Historikern, Pädagogen, Journalisten übernommen. Von einem Schlussstrich kann hier keine Rede sein, aber die (Selbst-)Aufklärung der Deutschen über ihre Geschichte wird immer seltener zum erregenden literarischen Thema. Die Fähigkeit, psychische Innenwelten zu schildern, ist eine der größten Gaben dieser Schriftstellerin. Mit welcher Einfühlungskraft sie in ihrer späten Erzählung „Leibhaftig“ (2002) die Befindlichkeiten einer vom Fieber zerrütteten Schwerkranken zu vergegenwärtigen versteht, nötigt Respekt ab. Ihr ersehntes literarisches Ziel, schrieb sie einmal, sei „subjektive Authentizität“. Natürlich ist es gut, wenn sich Christa Wolf dennoch nicht auf eine Innerlichkeit hat festlegen lassen, die in der DDR offiziell kritisiert und im Westen der Siebzigerjahre als Neue Innerlichkeit gefeiert wurde. Aber aus heutiger Sicht liegt auf der Hand, dass der politische Roman nicht zu den spezifischen Talenten Christa Wolfs gehört. Wenn sie sich angesichts der deutschen Geschichte dennoch in eine politische Rolle gedrängt sah oder drängte und vom „Geteilten Himmel“ bis „Kassandra“ politisch intendierte Romane schrieb, gehört das zu den wenig glücklichen Umständen ihrer künstlerischen Biografie. Ihre Meisterschaft erweist sich in anderen Büchern, in „Christa T.“ und „Kein Ort. Nirgends“, in denen sie unverwechselbare Figuren erschuf, die an ihrer Zeit scheitern – womit diese Bücher indirekt sehr wohl zeitkritische, will sagen: politische Ausstrahlungskraft entfalten.

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Drei Meilensteine, eine Zäsur

Böll, Johnson, Grass: Auf der Buchmesser 1959 jubelten die Kritiker, die deutsche Literatur habe endlich wieder Weltniveau erreicht   Des Beifalls, des Gläserklingens, des Schulterklopfens war kein Ende. Auf der Buchmesse in Frankfurt wird immer gern gefeiert. Dafür ist sie da. Aber 1959 zelebrierte sich die Branche noch selbstbewusster als sonst. Drei große deutsche Romane in einer Saison! Drei Bücher, die Literaturgeschichte schreiben würden! Man war wieder wer. 14 Jahre nach dem kompletten politischen, militärischen, moralischen Ruin hatte Deutschland sich in der Weltliteratur zurückgemeldet. Heinrich Bölls „Billard um halb zehn“ – was für ein Wurf. Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ – was für ein Debüt. Günter Grass’ „Blechtrommel“ – was für ein literarisches Erdbeben. Drei Meilensteine, eine Zäsur. Nach ihr strukturieren noch heute manchen Fachleute die Literaturgeschichte der Bundesrepublik. Von 1945 bis 1959 die Stunde Null, die Literatur des Kahlschlags und der Abschied von den großen Alten: Heinrich Mann, Thomas Mann, Brecht, Benn, Döblin, sie alle starben bis 1957. Die literarische Bühne hatte sich geleert, sie war bereit für den neuen Auftritt. Dann 1959 der dreifache Paukenschlag – und in seiner Folge die Politisierung der Literatur und des Literaturbetriebs bis hin zur Studentenbewegung 1968. So lehrt es die literaturwissenschaftliche Schulweisheit. Liest man den legendären Jahrgangs-Dreier heute, fünfzig Jahre danach, begegnet man zwei starken Romanen, auf die sich zart, aber unabweisbar der Staub der Jahrzehnte gelegt hat, und einem Meisterwerk, das mit ungebrochner erzählerischer Macht überwältigt. Mit „Billard um halb zehn“ wurde Heinrich Böll noch entschiedener zum politischen Schriftsteller. In seinen frühen Erzählungen litten seine Helden am sinnlosen Schrecken des Krieges. In seinem Roman nun richtet er den Blick auf die Verantwortlichen, die willigen Vollstrecker des Nationalsozialismus, am Beispiel einer Architektenfamilie: Der nazinahe Vater hat bei Kriegsende eine vom Großvater erbaute Abtei gesprengt, der Enkel errichtet sie in Friedenszeiten neu. Die Symbolsprache des Buches, die von Büffeln und Lämmern spricht und Täter und Opfer meint, nimmt sich nicht eben leichfüßig aus. Aber Bölls Scharfblick auf die Milieus und auf die Details ihres täglichen Lebens lässt beim Lesen die Atmosphäre der fünfziger Jahre eindrucksvoll wiederauferstehen. Uwe Johnsons „Mutmaßungen“ sind im Vergleich dazu viel kühler, intellektueller. Johnson machte die deutsche Teilung zum Thema der Literatur und deklinierte in seinem Roman einen ganzen Katalog moderner Schreibtechniken durch: abrupte Schnitte wie im Film, innerer Monolog, vielfach wechselnde Erzählperspektiven, ein Konzert von Stimmen, das wie aus dem Nichts zum Leser dringt. Vor allem damit entlockte Johnson den Kritikern seinerzeit triumphale Lustschreie: Die Spuren von James Joyce fanden sie in seiner Prosa wieder, von Döblin, Faulkner oder Arno Schmidt. Doch heute wirkt das wie die Avantgarde von gestern, ein wenig zu formal, zu gewollt, zu hochfahrend. Eher Pflichtlektüre. Die wahre Lust des Lesens dagegen überkommt einen, sobald man die „Blechtrommel“ wieder aufschlägt. Dieser Roman hat tatsächlich Epoche gemacht. Seine Mischung aus Realismus und Groteske, aus historischer Genauigkeit und Sprachartistik, märchenhaftem Gläserzersingen und bitterer Kleinbürgersatire ist eine bis heute mitreißende literarische Wildwasserfahrt. Vielleicht, so schrieb das amerikanische Magazin „Time“ noch zehn Jahre nach der „Brechtrommel“, vielleicht sehe Grass „nicht so aus wie der größte lebende Romancier der Welt oder Deutschlands, aber er mag beides durchaus sein.“ Noch vierzig Jahre danach, 1999 erhielt Grass vor allem für die „Blechtrommel“ den letzten Literaturnobelpreis des 20. Jahrhunderts. Ohne das Vorbild dieses Buches wären John Irvings „Garp“ und „Hotel New Hampshire“ oder Salman Rushdies „Satanische Verse“ nicht denkbar. Wie immer man zu den anderen Romanen von Grass steht, wie immer man seine spätere politische Rolle beurteilt – mit der „Blechtrommel“ stieg die bundesdeutsche Literatur der ersten Nachkriegsjahrzehnte in eine andere Gewichtsklasse auf. Nüchtern betrachtet wäre von der Zäsur des Jahren 1959 ohne dieses Buch wohl kaum je die Rede gewesen – selbst wenn man addiert, dass neben den drei Romanen in jenem Jahr noch Paul Celans „Sprachgitter“, Nelly Sachs’ „Flucht und Verwandlung“ und Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ erschienen. Mit der „Blechtrommel“ aber wurde das neunundfünfziger Jahr zur Legende – und weil im Literaturbetrieb zugleich wichtige Personalentscheidungen fielen, fanden sich viele, die an der Legende gern fortgestrickt. Im Sommer 1958 war Marcel Reich-Ranicki in die Bundesrepublik übergesiedelt, Joachim Kaiser übernahm 1959 sein Amt in der Süddeutschen Zeitung – damit gingen führende Kritiker der folgenden Jahrzehnte auf ihre Startpositionen. Ähnlich im Verlagsgeschäft: Am 31. März 1959 starb Peter Suhrkamp, 1960 Ernst Rowohlt. Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ wurde im Herbst 1959 der erste große Erfolg Siegfried Unselds als Herr des Suhrkamp Verlags. An Suhrkamps Sterbetag, schrieb Unseld später, habe er Johnsons Manuskript auf seinen Schreibtisch geholt und schließlich für die Publikation entschieden. Unselds Biograph Peter Michalzik notiert dazu lakonisch, der Verlagsvertrag zu den „Mutmaßungen“ wurde schon am 2. und 9. März unterschrieben, drei Wochen vor Peter Suhrkamps Tod, könne also nicht ohne Suhrkamps Zustimmung zustanden gekommen sein. 1959 habe, so klang es schon damals in Rezensionen an und ist bis heute in einigen Literaturgeschichten zu lesen, die deutsche Prosa nach dem Kulturbruch der Nazi-Jahre wieder Anschluss an die Moderne gefunden. Keine sehr überzeugende Behauptung, wenn man bedenkt, welche Bücher von Arno Schmidt, Wolfgang Koeppen oder Max Frisch schon zuvor erschienen waren. Gleichwohl ist die Behauptung bezeichnend. Denn ebenfalls 1959 gab im fernen New York der Kritiker Irving Howe in der Zeitschrift Partisan Review einen Essay zum Druck mit dem Titel „Mass Society and Post-Modern Fiction“. Mit ihm wurde, als man sich hierzulande beglückwünschte, die Moderne wiederentdeckt zu haben, in Amerika die Debatte eröffnet darüber, wie eine zu Norm und Fessel gewordene literarisch Moderne endlich überwunden werden könne. In Deutschland gab es nur einen Schriftsteller, der zu dieser Zeit die Moderne bereits aus historischer Distanz zu betrachten begann. 1960 eröffnete Hans Magnus Enzensberger sein „Museum der modernen Poesie“ mit den Sätzen: „Die moderne Poesie ist hundert Jahre alt. Sie gehört der Geschichte an“, und fuhr fort: „In Bewegungen und Gegenbewegungen, Manifesten und Antimanifesten ist der Begriff des Modernen ermüdet. Seine Energie hat sich verbraucht.“ Es dauerte noch über ein Vierteljahrhundert, bis diese Sätze hierzulande nicht nur gehört, sondern verstanden und die Postmoderne zum literarischen Thema wurde.

Veröffentlicht unter Literatur Jahrgang 1959 | Hinterlasse einen Kommentar