„Ich bin ein sehr abergläubischer Mensch“

Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Judith Hermann über Bestseller-Ruhm, Hokuspokus und merkwürdige Komplimente sowie ihr neues Buch „Alice“

Uwe Wittstock: Ihr erstes Buch „Sommerhaus, später“ war außergewöhnlich erfolgreich, über 600 000 Exemplaren wurden bislang verkauft. Hat Sie dieser Erfolg als Schriftstellerin glücklich gemacht?
Judith Hermann: Um diese Frage mit einem Ja oder Nein beantworten zu können, müsste ich mich viel mehr wie eine Schriftstellerin fühlen. Später, in zig Jahren, wenn ich dann den so genannten Rückblick halten darf, wird’s mich vielleicht freuen, dass ich mit 28 dieses Debüt gehabt habe. Interessanter ist, dass ich heute noch, elf Jahre danach, darauf angesprochen und danach gefragt werde. Das erste Buch scheint immer noch die Instanz zu sein, an der alle anderen gemessen werden. Mich macht das nicht nur glücklich.
Uwe Wittstock: Nach einem solchen Erfolg ist der Autor natürlich mit hohen Erwartungen konfrontiert. Haben Sie die beim Schreiben belastet?
Judith Hermann: Jetzt, beim dritten Buch, nicht mehr. Beim zweiten Buch war die Belastung groß und ich habe ziemlich lange gebraucht, bis ich wieder Sätze zu Papier bringen konnte. Nachdem „Nichts als Gespenster“ erschienen war, hatte ich allerdings angenommen, die Erwartungsgeschichte habe sich dann erledigt. Und jetzt merke ich, dass das eben nicht der Fall ist. Uwe Wittstock: Hätten Sie gern weniger Erfolg gehabt? Judith Hermann: Nein, natürlich eben nicht. Der Erfolg war und ist eine Belastung und vor allem ist er schön und alle Beschwerden – wenn man sie so betrachtet – sind Beschwerden auf einem hohen Niveau.
Uwe Wittstock: Wie hat Sie der Erfolg verändert?
Judith Hermann: Ich bin dankbar dafür, dass manches sich gar nicht verändert hat. Dass meine Freundschaften meine Freundschaften geblieben sind. Diese Freundschaften hat es vor „Sommerhaus, später“ schon gegeben und sie bestehen weiter. Bezeichnenderweise sind nicht allzu viel neue dazu gekommen und ich könnte mich fragen, warum eigentlich nicht – vielleicht bin ich misstrauischer, als ich es sonst gewesen wäre, weniger offen, isolierter. Kann sein. Vielleicht ist das aber auch eine Frage des Älterwerdens.
Uwe Wittstock: Sobald die Rede auf Judith Hermann kommt, sprechen oder schreiben manche Kritikern, die sich sonst als seriös betrachten, mehr über die Autorenfotos von Ihnen als über die Inhalte Ihrer Bücher. Woher kommt das?
Judith Hermann: Das würde ich auch gerne wissen. Uwe Wittstock: Viele Ihrer Erzählungen werden in öffentlichen Diskussionen gar nicht wie Literatur, also wie Fiktion behandelt, sondern so, als schrieben Sie an einem Report über das Leben ihrer Generation am Prenzlauer Berg. Wundert Sie das? Judith Hermann: Ja. Sehr.
Uwe Wittstock: Woher kommt das?
Judith Hermann: Weiß ich ebenso wenig.
Uwe Wittstock: Stört es Sie?
Judith Hermann: Ja, manchmal stört mich das. Aber manchmal kann ich dieses Missverständnis auch wie ein etwas merkwürdiges Kompliment betrachten – offensichtlich gibt es da an meiner Weise zu erzählen etwas, das den Eindruck erweckt, ich stünde ganz und gar dahinter. Und so soll es ja im besten Fall auch sein. Es ist nur ein bisschen anstrengend, wenn man nach dem Erzählen auch erklären soll, wie das Erzählte zu verstehen ist und wie man es besser nicht verstehen sollte, wenn man eine Lesart vorschlagen soll. Vielleicht ist dieses neue Buch nicht so leicht wie eine Reportage übers Leben und Sterben zu lesen, zu vieles darin bleibt inkonkret, angedeutet und offen. Uwe Wittstock: Sie sind, wenn nicht gerade ein neues Buch von Ihnen erscheint, sehr zurückhaltend mit öffentlichen Auftritten. Judith Hermann: Ja, und das ist eine instinktive Reaktion und keine Überlegung. Eine Art Intuition? Ich fühl‘ mich nicht berufen, Podien zu besteigen, ich habe keine öffentliche Antwort auf politische und gesellschaftliche Fragen und keine öffentliche Meinung zu meiner Generation im Prenzlauer Berg. Ich denke dieses und jenes und spreche darüber in meinem Freundeskreis und behalt’s darüber hinaus für mich.
Uwe Wittstock: Ihr neues Buch „Alice“ ist kein Roman, sondern wieder ein Band mit Erzählungen. Was reizt Sie an dieser kürzeren Form?
Judith Hermann: Es gibt den schönen Satz von Katja Lange-Müller, die eine große Geschichtenerzählerin ist – „nicht der Autor entscheidet über die Länge eines Textes, sondern der Text an sich.“ Das war bei diesen Erzählungen genau so. Ich habe lange Zeit an einem längeren Text geschrieben, der sich immer weiter drehte, aber nicht auf den Punkt kam, sich im Kreis bewegte und zu nichts führte, was ich hätte abgeben wollen. Erst als ich in der Micha-Geschichte ankam, die dann die erste Geschichte des neuen Buches wurde, stellte sich ein Gefühl der Erleichterung ein, wie ein – Ankommen. Ich kann’s nicht begründen, es hängt vielleicht damit zusammen, dass ich situative, gegenwärtige Momente beschreiben will und die sind nach einem kurzen Brückenschlag eben vorbei.
Uwe Wittstock: Was ist der Vorzug einer Erzählung im Vergleich zum Roman?
Judith Hermann: Im besten Fall ist eine Erzählung so etwas wie eine Fotografie, es ist die sehr präzise Beschreibung eines Augenblickes. Etwas, bei dem man das Davor und Danach nicht erzählen muss, sondern sich beim Jetzt aufhalten kann – aber vielleicht erreicht, dass ein Leser sich dann das Davor und Danach gerne selber überlegen will. Ich kann ganz genau bei dem bleiben, was mich an einer Situation interessiert. Der Nachteil ist, dass auf dieser kurzen Strecke dann alles stimmen muss. Ich kann nichts verbergen und jeder Fehler fällt sofort auf, auf 350 Seiten kann man sich, glaube ich, sehr viel mehr Ungenauigkeiten erlauben.
Uwe Wittstock: Neben der Liebe ist der Tod wohl das wichtigste Thema der Literatur. Ihre Hauptfigur Alice wird in dem neuen Buch gleich mehrfach mit dem Sterben von Menschen konfrontiert, die ihr lieb sind. Sie haben in die Geschichten aber zugleich eine Motivkette eingewebt, die von Zauberern, Hokuspokus, Abrakadabra oder Hexen spricht, ohne dass dabei auf esoterischen Aberglauben gezielt würde.
Judith Hermann: Ich bin ein sehr abergläubischer Mensch. Klassisch abergläubisch und darüber hinaus heimlich, persönlich, geheim. Jeder kennt das, das magische Denken der Kinder – wenn ich es von hier bis zur Schule schaffe, ohne auf die Fugen zwischen den Steinen zu treten, werde ich eine gute Mathematikarbeit schreiben. Dieser kleine Pakt ist ein Schutz und den Erwachsenen soll der Aberglaube vor den möglichen Verlusten schützen. Vor den großen Verlusten des Erwachsenenlebens. Hokuspokus? Vielleicht. Aber vielleicht eben auch nicht.

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