„Alice“, das neue Buch mit fünf Erzählungen von Judith Hermann
Ein Kritiker sollte sich entscheiden können. Wer mit dem Fuß aufstampft und „Ja ja“ ruft oder „Nein nein“, hat er bessere Chancen verstanden zu werden. Selbst in unserer kleinen literarischen Öffentlichkeit herrscht heute solcher publizistischer Lärm, dass jedes laue „Jein“ bald untergeht. Da braucht es schon den Mut zur Zuspitzung. Andererseits aber hat man als Literaturkritiker seinen Lesern ja nicht viel mehr anzubieten, als das Versprechen, sie mit aller Erfahrung so aufrichtig wie möglich über das jeweilige Buch zu unterrichten. Mit Kritikern, die um ihrer Entschiedenheit Willen die Hälfte dessen beiseite lassen von dem, was sie zu sagen haben, ist niemandem gedient. Ein neues Buch von Judith Hermann ist auf jeden Fall ein Ereignis. Sie ist eine der wichtigsten Autorinnen der letzten Jahre, verfügt über enormes Talent, hat eine unverwechselbare Stimme und sehr zu Recht großen Erfolg. Wenn jetzt mit dem Band „Alice“ nach fast sechs Jahren des Schweigens neue Erzählungen von ihr erscheinen, wird in der fälligen Flut von Rezensionen ohnehin kein Mangel an Superlativen sein. Vielleicht ein guter Anlass bei aller Bereitschaft zur Zuspitzung einmal zu betonen, dass es zwiespältige Bücher gibt, denen man weder mit Begeisterungsschreien noch mit Ablehnungsgesten gerecht wird. Judith Hermanns neuer Band enthält fünf Erzählungen, alle kreisen um die gleiche Hauptfigur, um eine Frau mittleren Alters namens Alice. Jede trägt als Titel den Namen eines Mannes, von dessen Tod oder Sterben berichtet wird. Jeder davon steht in einem engen Verhältnis zu Alice, mal ist es ein Ex-Geliebter, mal ein Onkel, mal der Lebensgefährte. Doch letztlich geht es nicht um diese Männer, sondern um die Titelheldin Alice und die Frage, wie sie sich durch die Begegnungen mit dem Tod verändert. Judith Hermann hat die Geschichten durch Details behutsam miteinander verknüpft. In der letzten tauchen, wie beim klassischen Bühnenfinale, Figuren aus allen vorangegangenen Teilen wieder auf. Zusammen bilden sie einen durchkomponierten Erzählungszyklus. Die erste Geschichte ist fabelhaft. Rund fünfzig Seiten großartiger Prosa von einer Dichte, Intensität und Vielschichtigkeit, wie sie nicht viele Schriftsteller hierzulande erreichen. Judith Hermann verfügt über die Gabe, einem mit zwei, drei Sätzen Schauplätze und deren Stimmung so vor Augen zu rücken, dass man glaubt, sie mit Händen greifen zu können. Ihre Erzählsprache hat regelrecht lyrische Qualitäten, sie ist durchgearbeitet nach Melodie, Rhythmus, Klangfarbe, ohne deshalb je angestrengt oder geziert zu wirken. Alles liest sich schwebend leicht. Erzählt wird von einer einfachen, aber einschneidenden Erfahrung. Alice steht für einige Tage einer Freundin bei, deren Mann (ein Ex-Freund Alices) im Krankenhaus irgendeines Provinzkaffs den Krebstod stirbt. Die beiden Frauen sind für diese Zeit in einer schäbigen Ferienwohnung untergekommen und fühlen sich, als sei ihnen die Haut vom Leib gezogen. Alle anderen Leute sind zwar nicht ohne Mitgefühl, leben verständlicherweise aber ihren Alltag weiter – ja der Vermieter der Ferienwohnung macht Alice sogar unappetitliche sexuelle Avancen. Viel mehr geschieht nicht, aber mehr braucht Judith Hermann auch nicht, um zu zeigen, dass allein schon dieses brutale Nebeneinander zwischen emotionaler Not hier und ganz gewöhnlicher Ungerührtheit dort einem dünnhäutigen Menschen unwiderruflich jede Fassung rauben kann. Von Beginn an zählte es zu Judith Hermanns besonderen Fähigkeiten, die Lebenshaltung von Menschen vergegenwärtigen zu können, die in den konventionellen Sinnangeboten der Gesellschaft weder Schutz suchen, noch ihn dort finden können. Früher einmal, in den guten alten pathetischen Zeiten, hätte man vielleicht von der metaphysischen Obdachlosigkeit ihrer Figuren gesprochen. Doch Judith Hermann siedelte sie in unserer popkulturell geprägten Gegenwart an – weshalb man ihre Geschichten gern als melancholische Selbstbespiegelungen einer partygeilen Wohlstands-Boheme missversteht. So als suche einen das Wissen um die absurde Verlorenheit des Lebens und der Wunsch, ihm einen eigenen Sinn zu geben, nur beim Studium von Sartre heim und nicht genauso gut in der Kneipe beim Bier. Der Tod ist naturgemäß der härteste und hoffnungsloseste Prüfstein dieser Haltung: „Astronauten“, schießt es Alice durch den Kopf, als sie die Nachricht vom Tod des Freundes erhält, „wir sind wie Astronauten, es gibt nirgends einen Halt.“ Auch die zweite Erzählung ist großartig, aber vielleicht um eine Nuance konventioneller. Alice reist mit zwei gleichaltrigen Begleitern an den Gardasee zu einem väterlichen Freund – der schon am Tag nach ihrer Ankunft an einer plötzlichen Erkrankung stirbt. Hier ist es der Gegensatz zwischen der Erwartung unbeschwerter Ferientage und dem Entsetzen angesichts des überraschenden Todes, der Kontrast zwischen der berauschenden Schönheit des Gardasees und dem ernüchternden Bewusstsein von der Verletzlichkeit des Daseins, der die Geschichte trägt. Wenn Alice auf diese Erfahrung mit einem Ausbruch von Lebensgier reagiert und mit einem ihrer Begleiter schläft, „zornig und wüst, heruntergekommen“, dann ist das als literarischen Motiv nicht brandneu, aber psychologisch rundum einleuchtend. Das Problem des Buches sind aus meiner Sicht die folgenden Erzählungen. Spätestens mit Beginn der dritten hat man als Leser das dramaturgische Konstruktionsprinzip begriffen, weiß, dass uns hier Alices Wandlungen im Umgang mit dem Tod vorgeführt werden. Doch statt die Geschichten nun mit überraschenden Elementen anzureichern, um die thematische Monotonie aufzulockern, verengt Judith Hermann den Blickwinkel zunehmend. Alles konzentriert sich auf die Hauptfigur. Suggestive atmosphärischer Schilderungen wie die der Kleinstadt oder des Gardasees in den ersten beiden Geschichten gibt es kaum noch. Die Erzählungen färben sich grau in grau ein, die Kontraste, die den ersten beiden so viel Spannung gaben, treten zurück. Natürlich hat das eine gewisse psychologische Folgerichtigkeit. Für den Trauenden wird das Leben jenseits seines Schmerzes zur bloßen Banalität. Der Alltag, der die Menschen gewöhnlich in Atem hält, erscheint ihm wie eine Pappfassade. Denn seine Sehnsucht gilt dem unwiederbringlich Verlorenen und nicht mehr dem, was gegenwärtig ist. Doch ändert das nichts daran, dass die zweite Hälfte von Judith Hermanns Buch verglichen mit der ersten spürbar schlichter wirkt und auf eine voraussehbare Weise konsequent auf Moll gestimmt. Mehr noch: Es gibt so etwas wie eine Verliebtheit des Trauernden in seine Trauer. Eine Ergriffenheit über die eigene Ergriffenheit. Sein Leid wird dann zu so etwas wie einem Feldzeichen, das er vor sich herträgt. Mir scheint die zweite Hälfte von Judith Hermanns Buch nicht frei zu sein von einer solchen Selbstfeier des Schmerzes. Es mischt sich damit in ihre so geschmeidige, stimmungsvolle Prosa ein unschöner Unterton von Trauerbesessenheit, ja Trauerbegeisterung. Alice wirkt nicht wie zerstört, sondern so als zelebrierte sie ihren Kummer wie ein Zeichen der Auserwähltheit. Und Judith Hermann führt das nicht aus einigem Abstand zu ihrer Hauptfigur als Beispiel einer missratenen, von der eigenen Sensibilität verzückten Schwermuts vor, sondern bleibt ohne Distanz zu ihr. Kurz: Ein zwiespältiges Buch. Ein grandioser Beginn, der erkennen lässt, dass Judith Hermann trotz all der selbsternannten Generations-Experten, die in ihren frühen Geschichten Sex-und-Drogen-Reports von der Jugendfront sehen wollten und den Hass-Kampagnen manchen Kritiker, die ihr partout ihren Erfolg nicht verzeihen können, nach wie vor zu den besten Erzählerinnen gehört, die gegenwärtig in deutscher Sprache schreiben. Eine missglückte zweite Hälfte jedoch, in der bei aller stilistischen Brillanz, ein Leidensstolz mitschwingt, der einem die Lektüre spürbar verderben kann.
Judith Hermann Alice. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009 189 Seiten, 18,95 Euro