Alice, das leichte Spiel und der Ruhm

Na, also ein Trend ist das nicht. Überhaupt bekommen wir Kritiker ja oft etwas leicht Penetrantes bis schwer Peinliches, sobald wir glauben, die allerneuesten Moden der Literatur verkünden zu müssen. Da werden dann ein paar frisch erschienene Bücher, die eben noch verträumt auf eigenen Pfaden durch die Landschaften der Dichtung stapften, im heiseren Kommandoton in Formation gebracht und zu Spähtrupps erklärt, die ästhetisches Neuland erkunden. Schon zwei, drei Jahre später spricht niemand mehr vom angeblichen Trend – schon weil dann alle von den Trends der aktuellen Saison sprechen – und es ist offensichtlich, dass die damals so eifrig hergezählten Titel kaum mehr gemeinsam hatten als dasselbe Erscheinungsjahr. Hier nun soll es um Judith Hermanns neues Buch gehen, das nächste Woche herauskommt und fünf Erzählungen umfasst, die alle von der Titelfigur „Alice“ berichten. Und um Botho Strauß‘ neues Stück „Leichtes Spiel“, das in zehn Szenen „neun Personen einer Frau“ vorführt. Und um Daniel Kehlmanns Band „Ruhm“, der in neun Geschichten zwar nicht immer von derselben Figur, wohl aber immer vom selben kunstvoll verknüpften Figurenensemble erzählt. Neu ist das Verfahren nicht. Statt in einem Roman oder einem Drama eine lange, zusammenhängende Geschichte über die Hauptfigur auszubreiten, lässt es die Autorin oder der Autor bei kurzen Handlungsausschnitten. Es wird kein Porträt des Helden entworfen, sondern eine Serie von Schnappschüssen geliefert, die ihn aus verschiedenen Perspektiven zeigt. Die unübersehbaren Bruchkanten zwischen diesen Fragmenten betonen vor allem eines: Dass der Autor nicht alles über seine Figuren weiß, dass er sie zwar erfunden hat, sie aber dennoch ihre Geheimnisse bewahren, kurz: dass sich ein Leben nicht lückenlos erzählen lässt. Neu ist das, wie gesagt, nicht. Vielmehr gehören solche Überlegungen spätestens seit Beginn der Moderne, also seit rund hundertfünfzig Jahren zum kleinen Einmaleins der literarischen Ästhetik. Und natürlich gibt es Möglichkeiten, auch in traditionell gebauten Romanen oder Dramen die unaufklärbaren Resträtsel jeder Persönlichkeit zu betonen. Dennoch ist bemerkenswert, wie viele Erzählungsbände – Ingo Schulzes „Simple Storys“ etwa oder Judith Hermanns „Sommerhaus, später“ – in den letzten Jahren auf überraschend starke Resonanz stießen. Sicher, auch heute noch stehen fast ausschließlich Romane auf den Bestsellerlisten. Doch immer häufiger gelingt Geschichtensammlungen oder anspruchsvoll durchkomponierten Erzählungszyklen wie Kehlmanns „Ruhm“ der Einbruch in diese Phalanx. Offenbar scheinen immer mehr Leser nicht nur Genuss am epischen Langstreckenlauf, sondern auch am Erzählsprint zu entwickeln. Was erfreulich ist. Denn es gibt weit mehr makellose Kurzgeschichten als makellose Romane. Fast jeder Roman enthält auch schwache Passagen, denn kaum ein Autor kann mehrere hundert Seiten perfekte Prosa liefern. Zwei, drei Dutzend perfekte Seiten aber schon

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