Julia Schoch im Gespräch über Christa Wolf
Uwe Wittstock: Sie sind in der DDR aufgewachsen. Beim Mauerfall waren Sie 15 Jahre alt. Spielte Christa Wolf damals als politische Orientierungsfigur für Sie schon eine Rolle?
Julia Schoch: Nein. Weder Christa Wolf noch Heiner Müller, die ja der gleichen Generation angehören. In meinem Elternhaus wurde zwar viel gelesen, aber die realen Personen hinter den Büchern waren doch sehr fern. Insofern habe ich Christa Wolf erst nach der Revolution für mich entdeckt.
Uwe Wittstock: Wann haben Sie Christa Wolf gelesen? Julia Schoch: Anfang der neunziger Jahre. Der Name war mir natürlich ein Begriff. Aber sie war für mich nicht mehr die große Dame der Ersatzöffentlichkeit, die „Seelenautorin“. Ihre Bücher gehörten zum Kanon, das wusste man, auch wenn man noch nichts von ihr gelesen hatte. Ich habe sie gewissermaßen rückblickend gelesen. Um mich endlich mal dieser Autorin zu widmen, von der alle sprachen.
Uwe Wittstock: Auch den Roman „Nachdenken über Christa T.“, der ja seit seinem Erscheinen 1968 als einer der wichtigsten Christa Wolfs gilt? Julia Schoch: Ja, „Christa T.“ habe ich mir damals antiquarisch besorgt. Vor der Universität gab es immer fliegende Bücherhändler, ich glaube, dort hab ich mir mein Exemplar gekauft. Es ist die DDR-Ausgabe von 1972. Im Buch steckt noch ein Zettel von Jugendtourist, dem DDR-Reisebüro, von 1973, eine Bestätigung für die Käuferin des Buches – sie war damals 19 Jahre alt –, dass sie für zwei Wochen nach Mittelasien reisen darf. Offenbar hat sie das Buch als Reiselektüre mitgenommen und auch ein paar Anstreichungen gemacht. Uwe Wittstock: Das muss eine kundige Bücherkäuferin gewesen sein. Denn die Erstausgabe von „Christa T.“ wurde ja 1968 von den Zensoren erst verzögert und dann 1969 gleich wieder aus dem Verkehr gezogen, so dass nur 4000 Exemplare tatsächlich die Leser erreichten. Julia Schoch: Die Ausgabe von 1972 hat wohl eine höhere Auflage erreicht und konnte tatsächlich auch verkauft werden. Ich kenne nicht die genauen Zahlen, aber später war das Buch in der DDR durchaus – mit Beziehungen – zu bekommen. Uwe Wittstock: Hat das Buch heute für sie literarisch eine besondere Bedeutung gewinnen können? Julia Schoch: Für meinen jetzt erschienenen Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ eigentlich nicht. Da ist mir Christa Wolfs „Kein Ort. Nirgends“ schon näher. Das ist herrlich verknappt. Eigentlich ein Gedankenbuch, das meinem Hang, schnell zum Wesentlichen zu kommen, sehr entspricht. Allerdings ist das in der „Christa T.“ schon angelegt, was das Buch auch handwerklich so aufregend macht. Christa Wolf verquickt da auf ganz engem Raum sehr viel: Sie schildert nicht nur eine Geschichte, sondern unterfüttert sie zugleich immerzu mit Autorenkommentaren, Fragen, Überlegungen. Räume und Zeiten folgen nicht dem Zwang eines Plots, sondern den Gedanken der Autorin. Dadurch entsteht eine hochkonzentrierte Atmosphäre. Was das betrifft, fühle ich mich Christa Wolf unbedingt verbunden. Man ist als Autor eben nicht nur Beobachter und schildert ungerührt eine Geschichte ab, sondern man ist zugleich mit der Geschichte verwoben. Uwe Wittstock: Christa Wolf hat ja einmal geschrieben, es komme nicht nur darauf an, eine Geschichte zu erzählen, sondern zugleich zu berichten, welches Echo diese Geschichte in uns hervorruft. Julia Schoch: Ja, sie ist verstrickt in jeden Stoff, über den sie schreibt. Dadurch ist sie nie belanglos. Man hat immer das Gefühl, sie arbeitet ein tiefgreifendes Problem aus ihrer eigenen Person heraus ab. Sie ist nie nur Beobachterin, sondern immer Beteiligte. Das ist bei allen Autoren so, die ich als wichtig empfinde. Auch bei Malern. Ich habe gerade die Edward Hopper-Ausstellung in Hamburg gesehen. Auch er malte nicht einfach, was er sah, sondern zugleich die Wirkung, die das Gesehene in ihm hinterließ. Nicht die Tatsache macht das künstlerische Thema aus, sondern die Frage, wie sich die Tatsache in mir spiegelt. Uwe Wittstock: In „Christa T.“ ist die Erzählerin ja mit der Hauptfigur des Romans, also mit der Figur Christa T., befreundet. Die Erzählerin gehört zu den handelnden Figuren, und zugleich denkt sie darüber nach, was die inzwischen verstorbene Christa T. für ein Mensch war – woran sie litt und schließlich starb. Julia Schoch: In den Neunzigern, als ich Christa Wolf für mich entdeckte, wurde diese Erzählhaltung, auch der berühmte „heilige Ernst“, ja sehr geschmäht. Das Abschildern, das „normale“, auch spaßige Erzählen standen viel höher im Kurs. Umso wichtiger war Christa Wolf für mich, weil ihre Bücher ungeheuer dicht sind. Oft hat man als Leser das Gefühl, drum herum, vor und nach dem Buch, ist noch viel mehr in der Geschichte geschehen, aber das hat halt einfach keinen Platz gefunden im Buch. Uwe Wittstock: Es gibt den bekannten Satz Marcel Reich-Ranickis zu „Christa T.“, die Heldin dieses Romans sei an Leukämie gestorben, haben aber an der DDR gelitten. Julia Schoch: Ich halte das für eine Verkürzung. Das Buch war ja nicht nur in der DDR ein Erfolg, sondern fast überall auf der Welt. Die Leser müssen also etwas von sich darin wiedererkannt haben, und nicht nur etwas von der DDR. In dem Roman geht es nie nur um das private Leben Christa T’s. Sie ist eine klarsichtige Einzelne, die mit einem titanischen Gegner ringt – mit sich selbst, aber eben vor dem Hintergrund der Gesellschaft, in der sie lebt. Und das gab es nicht nur in der DDR. Dieser Kampf des Einzelnen gegen den großen, allgegenwärtigen Gegner, gegen den er nie ankommt – der ist international. Uwe Wittstock: Nun waren die Widerstände in der DDR sicher besonders stark und es gab viele Gründe, mit der Gesellschaft zu hadern. Julia Schoch: Das Besondere an „Christa T.“ ist doch, dass der Roman von einer Generation handelt, die den sozialistischen Staat mit aufbaute und seine Gesellschaft eigentlich bejahte, oder bejahen wollte. In den Achtzigern hätte man das Buch so nicht mehr schreiben können. Diese Verunsicherung der Empfindungen ist für den Leser einfach entwaffnend: Die Figuren beginnen an einer Gesellschaft zu hadern, die sie selbst mit aufbauen, die sie geformt und so gewollt haben, weil sie sie für eine bessere Gesellschaft halten. Auf diese Art von aufrichtigem Zweifel könnte man heute fast neidisch werden.