Deutscher Wald für Afrika

„Schutzgebiet“ – Thomas von Steinaecker erzählt von sympathisch versagenden Kolonialherren

Henry möchte gern ein großer Architekt sein. Aber er hat es nur bis zum Träumer gebracht. Es wurde noch kein einziges Haus von ihm gebaut, doch er weiß schon, was er tun wird, wenn er sich einen Namen gemacht hat: Er will ein „Streiter für das Reich des Unvollendeten“ sein und all die nie verwirklichten Projekte bedeutender Architekten realisieren, die er im Studium kennen lernte. Henrys Vater dagegen hat ein florierendes Immobilien-Geschäft in New York und – noch – Geduld mit seinem Sohn. Er schickt ihn nach Europa, damit er Kontakte knüpft und die Berliner Außenstelle des Unternehmens übernimmt. Henry aber will von seinen Träumen einfach nicht lassen und brennt mit seiner Frau durch nach Afrika, wo er als Assistent eines deutschen Architekten eine ganze Kolonial-Stadt aus dem staubigen Boden stampfen soll. Thomas von Steinaecker hat seinen dritten Roman „Schutzgebiet“ im Jahr 1913 angesiedelt. Es ist der letzten Augenblick der Belle Epoque und der deutschen Ambition, sich als Kolonialmacht neben Ländern wie Frankreich und Großbritannien zu etablieren. Auf den ersten Blick könnte man vermuten, Steinaecker habe sich an einen Gesellschaftsroman versucht, der den Glanz einer heute wieder gern gerühmten Epoche aufpoliert, der aber auch etwas andeutet von den nationalistischen oder innerfamiliären Ungeheuerlichkeiten, die jene Bürgerkultur um die Jahrhundertwende ausbrütete. Doch Thomas von Steinaeckers Absichten sind bescheidener und origineller zugleich: „Schutzgebiet“ ist viel eher eine Satire auf den kolonialistischen Ehrgeiz jener Zeit und eine psychologische Studie, die eine prachtvolle Sammlung fantasiereicher, aber tatenarmer Charaktere versammelt. Für Henry zum Beispiel beginnt sein afrikanisches Abenteuer katastrophal, geht dann schlecht weiter und endet im Desaster. Das Schiff, das ihn zu der – von Steinaecker erdachten – Kolonie Deutsch- Tola bringen soll, sinkt im Sturm kurz vor dem Ziel. Seine Frau und auch der Architekt, für den er arbeiten wollte, kommen um, Henry ist der einzige Überlebende. Doch von seinen Zukunftsträumen kann ihn selbst das nicht abbringen. Als man ihn für den dringend erwarteten, aber ertrunkenen Architekten hält, stellt er die Verwechslung nicht richtig, sondern sieht sich schon als Schöpfer eine grandiosen Ideal-Stadt, die nach seinen Entwürfen und unter seiner – völlig unerfahrenen – Bauaufsicht entstehen soll. Eigentlich müssten ihn ein paar Dinge nachdenklich machen. So etwa die Tatsache, dass die Kolonie bislang über keine Siedler verfügt, sondern dass dort nur eine handvoll Deutsche leben, die eine kleine Truppe von Einheimischen herumkommandieren. Mit dieser begrenzten Zahl von Arbeitskräften lassen sich größere Bauvorhaben gar nicht umzusetzen. Aber auch alle anderen kommen nicht auf die Idee, ihre hochfliegenden Zukunftsprojekte an den afrikanischen Realitäten zu messen. Gerber zum Beispiel, der sich als Chef der neuen Kolonie betrachtet, ist Forstwirt und will dem Land die deutsche Kultur bringen, indem er einen deutschen Wald pflanzt. Da die Bäume unter südlicher Sonne angeblich schneller gedeihen, sieht er sich schon als Holz-Tycoon, der mit dem Export nach Europa ein Vermögen macht. Kurz: Steinaeckers Figuren halten sich für Gründerväter, denen ein „Schutzgebiet“ anvertraut ist. Tatsächlich aber, so erkennt der Leser, sind sie es selbst, die Schutz brauchen. Denn mit ihrem Talent, Pläne eher zu schmieden als zu realisieren, sind sie in ihre Heimat so oft gescheitert, dass Deutsch-Tola zu ihrer letzten Chance geworden ist. Aber gerade das noch unerschlossene Land erweist sich als fabelhafte Projektionsfläche, so dass ihre Fantasien hier umso kräftiger ins Kraut schießt. Manche ihrer Träumereien erinnern deutlich an Motive aus dem Werk von Jules Verne, dessen utopische Geschichten eben jener Belle Epoque entstammen. Mit einem gewissen Recht kann man Thomas von Steinaeckers Roman als Hommage auf Verne betrachten – allerdings mit dem bezeichnenden Unterschied, dass Verne seine Helden als energische Tatmenschen einer Gründerzeit beschrieb, wogegen auf Steinaeckers Figuren die ganze Müdigkeit und Lähmung des Fin de Siecle zu lasten scheint. „Schutzgebiet“ ist der erste Roman Steinaeckers, in dem er sich ganz auf sein Sprachtalent konzentriert. In seinem viel gepriesenen Debüt „Wallner beginnt zu fliegen“ (2007) ließ er zumindest eine kurze Passage nicht in Worten, sondern als Comic-Strip erzählen, in dem zweite Buch „Geister“ (2008) nahmen die Zeichnungen von Daniela Kohl gegen Ende hin einen so großen Raum ein, dass man es als „Graphic Novel“ bezeichnen konnte. Bei beiden Romanen stach die konstruktive Intelligenz Steinaeckers hervor, sein Talent schien vor allem darin zu bestehen, einen verzwickten, originellen, aber klug durchdachten Plot zu ersinnen. In seinem neuen Buch entfaltet er viel stärker als zuvor die Psychologie seiner Figuren – was dem Roman gut tut. Aus der Innenperspektive ist jede von ihnen von der eigenen Größe und der Genialität seiner Vorhaben überzeugt. Erst in der Außenperspektive, in den Augen der anderen offenbaren sich ihre Schwächen überdeutlich. Was wenig daran ändert, dass sie einem weitaus sympathischer sind als ihre so realitätstauglichen Gegenspieler, denen sie dann am Ende naturgemäß unterliegen. „Ich bin kein romantischer Schriftsteller“, sagte Thomas von Steinaecker einmal in einem Interview. Nach der Lektüre seines dritten Romans hat man den Eindruck, dass auch er sich ein wenig über sich selbst täuscht. Zumindest in diesem Buch zeigt er sich wie sein Held Henry als ein „Streiter für das Reich des Unvollendeten“, dessen romantische Neigungen man aus der Außenperspektive vielleicht deutlicher wahrnimmt als er sie selbst wahrhaben will.

Die Rezension erschien in der Welt vom 10. Oktober 2009

Thomas von Steinaecker: „Schutzgebiet“. Roman
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009 381 Seiten, 19.90 Euro. ISBN 978-3-627-00160-5

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Herta Müllers Nobelpreis

Der Literaturnobelpreis für Herta Müller ist auch eine besondere Auszeichnung für die deutschsprachige Literatur. 1999 entschied sich das Stockholmer Komitee für Günter Grass, 2004 für die Österreicherin Elfriede Jelinek und jetzt für die aus dem Banat stammende Herta Müller. Drei Nobelpreise innerhalb von nur zehn Jahren für den selben Sprachraum – das ist ein bemerkenswertes Kompliment für die Qualität und Vielgestaltigkeit der deutschen Literatur und für ihr Ansehen im Ausland. Ohne Herta Müllers persönliche schriftstellerische Leistung schmälern zu wollen, darf man den Nobelpreis zugleich als eine Verbeugung vor der Literatur der deutschen Minderheit in Rumänien insgesamt auffassen – eine Minderheit, die nie groß war und die seit dem Ende der Ceauşescu-Diktatur rapide zusammenschmilzt, da die Ausreise in den Westen nun viel leichter möglich ist. Doch so klein die Gruppe der Deutschsprachigen in Rumänien auch immer war, so erstaunlich ist ihr Beitrag zur deutschen Literatur: Paul Celan und Rose Ausländer wurden in Czernowitz geboren, das seinerzeit zu Rumänien gehörte und heute in der Ukraine liegt. Schon 1926 kam der Lyriker Georg Maurer aus Siebenbürger nach Deutschland. Später lebte er in der DDR und gewann als Professor am Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ großen Einfluss auf viele Dichter der DDR. Zu den Jüngeren, die wie Herta Müller Rumänien erst später verließen, gehörten unter anderem der Büchnerpreisträger von 2006 Oskar Pastior und die Lyriker Rolf Bossert, Helmuth Frauendorfer, Klaus Hensel, Werner Söllner und Ernest Wichner, aber auch die Essayisten Gerhardt Csejka, William Totok und Richard Wagner sowie die Erzähler und Dichter Franz Hodjak, Johann Lippet und Dieter Schlesak. Wie sich eine solche Häufung von literarischen Talenten in einer vergleichsweise kleinen Bevölkerungsgruppe erklären lässt? Vielleicht war die Sprache für sie immer das zentrale Unterscheidungsmerkmal gegenüber einer weit überwiegenden Mehrheit – und wurde deshalb für viele von ihnen zum ausschlaggebenden Merkmal bei der Suche nach Identität. Wer am äußersten Rand eines Sprachraums lebt, erlebt seine Sprache nie als Selbstverständlichkeit, sondern immer als etwas, durch das er sich von anderen unterscheidet und das ihn leicht zu einem Fremden, einem Ausgeschlossenen machen kann. Das ist schmerzhaft für die Menschen, aber produktiv für die Literatur. All das grundiert die Literatur Herta Müllers: Das Bewusstsein, eine besondere und existentiell enge Verbindung zur Sprache zu haben, das Gefühl, durch die Sprache zu einem gefährdeten Außenseiter gemacht zu werden, andererseits aber gerade in der Sprache seine Identität und damit die Kraft zum Widerstand zu finden. Vieles von dem, über das Herta Müller schreibt, liegt uns heute glücklicherweise fern – das archaische Leben auf dem Dorf oder die Brutalität einer Diktatur – aber ihre poetische Sprache hat die Kraft, uns diese Bilder mit beeindruckender Intensität vor Augen zu stellen.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 10. Oktober 2009

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Schwarm der Angst

Mannheim bringt die „Freie Sicht“ von Marius von Mayenburg erstmals auf eine deutsche Bühne  

Wie entsteht ein Gerücht? Woraus speist sich ein Klima der Angst? Was lässt das Gefühl diffuser Bedrohtheit entstehen? Die berühmte Karikatur „Das Gerücht“ von A. Paul Weber zeigt ein lindwurmartiges Monstrum, das durch Straßenschluchten huscht und aus den offenen Fenstern buchstäblich durch die Leiber der Hausbewohner gespeist wird. In dem Stück „Freie Sicht“ des 1972 in München geborenen Dramatikers Marius von Mayenburg verhält es sich ähnlich. Das Personenverzeichnis führt keine individuellen Rollen auf, sondern nur einen anonymen „Schwarm“ von Stimmen. Diese Stimmen lassen in hektischem Satz-Pingpong erkennen, wie sich in einer gesichtslosen Gruppe eine Atmosphäre der Besorgnis und Furcht bis an die Grenzen zum Wahn aufschaukelt. Bezeichnenderweise hat Mayenburg das Stück nicht allein geschrieben. Es beruht auf Material, das bei Improvisationen in Melbourne, Australien, während eines Workshops entstand, an dem neben dem Autor ein Regisseur, ein Bühnenbildner und fünf Schauspieler beteiligt waren. Ein Kollektiv entwickelt einen Text über die Dynamik in einem Kollektiv. In Australien wurde das Stück auch 2008 uraufgeführt, das Mannheimer Nationaltheater stellte es jetzt unter der Regie seines Schauspieldirektors Burkhard C. Kosminski erstmals auf eine deutsche Bühne. So lohnend der Ansatz von Mayenburgs „Freier Sicht“ auf den ersten Blick wirkt, so gründlich wird er gleich wieder entwertet. Denn der konturlose Stimmen-Schwarm fühlt sich durch ein Päckchen bedroht, dass ein zehnjähriges Mädchen auf irgendeinem Parkplatz in einem von Überwachungskameras beobachteten Mülleimer geworfen hat. Da aber die terroristischen Potentiale vorpubertärer Schulmädchen bekanntlich nicht sehr ausgeprägt sind, verwandelt wird das Stück damit in eine eindimensionale Satire auf eine maßlos übertriebene Sicherheitshysterie. Die Gruppen-Angst und ihre Entstehung werden nicht analysiert, sondern denunziert, aus den Figuren werden Schießbudenfiguren. Kosminski Inszenierung gibt dem Ganzen den Rest. Statt einen ungreifbaren Stimmen-Schwarm auf die Bühne zu bringen, arbeitet er aus dem Satz-Gewirr des Textes individuelle Charaktere heraus und teilt seinen Akteuren traditionelle Rollen zu. Damit landet das Stück auf dem Niveau eines mäßig amüsanten und auf siebzig Minuten überdehnten Kabarett-Sketches. Auch der Versuch, das Stück durch Videoeinspielungen zu einem Theater-Kommentar auf Amokläufe in Schulen umzudeuten, rettet hier nichts mehr. Passend dazu ergreifen die Schauspieler die Gelegenheit und chargieren streckenweise auf Teufel komm raus. Sven Prietz und Klaus Rodewald versuchen ihren Figuren wenigstens gelegentlich ein Funken von Glaubwürdigkeit zu verleihen, aber sie kämpfen auf verlorenem Posten. Ganz am Schuss, als die sehr junge Jenny König den Monolog eines hoffnungslos traurigen Mädchens spricht, flackert für Sekunden so etwas wie ein Bühnen-Zauber auf. Für einen ganzen Theaterabend ist das zu wenig.

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Wir sind dagegen!

Satiremagazin „Titanic“ wird 30 – und mit einer Ausstellung und dem „endgültigen Satirebuch“ gefeiert  
Der Titel „Titanic“ geht noch voll in Ordnung. Er ist in angemessener Weise größenwahnsinnig und katastrophenverliebt zugleich. Aber schon beim Untertitel „Das endgültige Satiremagazin“ beginnen die Probleme. Denn Satiren im klassischen Sinne veröffentlicht die Monatszeitschrift kaum. Auch die Behauptung, sie sei das deutsche Zentralorgan für Komisches in Wort und Bild trifft die Sache nicht genau. Denn regelmäßig druckt die Titanic Essays, die überhaupt nicht komisch, sondern wirr und strunzlangweilig sind. Genau betrachtet ist das Magazin, das jetzt den 30. Jahrestag seines Bestehens feiert, eines der großen Rätsel der deutschen Presselandschaft. Die überzeugendste Charakteristik ihrer Inhalte liefert die Frankfurter Zeitschrift selbst in dem üppig illustrierten Titanic-Jubiläumsband „Das erstbeste aus 30 Jahren“, der jetzt im Rowohlt Verlag erscheint. Gleich auf einer der ersten Seiten heißt es da mit wünschenswerter Deutlichkeit: „Verehrte Leser! Egal, woran Sie glauben, was Sie gut finden, wem Sie vertrauen oder was Sie bewundern – wir sind dagegen! In Liebe, Ihre Titanic.“ Eine intellektuelle Haltung mit Tradition: „Ich bin der Geist, der stets verneint“, legte ein ebenfalls aus Frankfurt stammender Autor namens Goethe seinem Mephisto in den Mund: „Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht.“ Mit einem solchen journalistischen Programm nicht nur drei Jahrzehnte zu überstehen, sondern immer neu entflammte, ja freudetrunkene Leser zu finden, ist ein beachtlicher Coup. Er müsste andere Zeitschriftenmacher, die sich oft genug darüber Gedanken machen, wie sie ihren Zielgruppen noch eifriger nach dem Munde schreiben können, eigentlich nachdenklich machen. Macht er aber nicht. Das Frankfurter Museum für komische Kunst widmet der Zeitschrift zu ihrem Jubiläum eine große Ausstellung. Sehr zu Recht, denn das Museum ist in erster Linie dem Werk der Autoren und Zeichner der Neuen Frankfurter Schule gewidmet – und auch die Titanic ist eine Frucht vom Stamm dieser so überaus produktiven Künstlergruppe. Sie begann sich Anfang der sechziger Jahre um die frisch gegründete Satirezeitschrift „Pardon“ zu formieren. Dieses Monatsmagazin war im Fahrtwind der zunehmend stürmischen Studentenbewegung für ein paar Jahre ungewöhnlich erfolgreich und erreichte Anfang 1969 eine Auflagenhöchstmarke von 320.000 verkauften Exemplaren. Doch ebenso wie die Studentenbewegung blieb auch Pardon von den Zeitläuften nicht ungeschoren: Der Eigentümer des Magazins Hans A. Nikel zeigte neben diktatorischen auch zunehmend esoterische Neigungen, glaubte durchs Meditieren tatsächlich fliegen zu können und dies als Titelgeschichte den Lesern seiner Zeitschrift mitteilen zu müssen. Woraufhin für eher aufklärerisch gesonnene Mitarbeiter dort kein Bleiben mehr war. 1979 gründeten Robert Gernhardt, Pit Knorr, Chlodwig Poth, Hans Traxler und F.K. Waechter die Titanic. Sie investierten pro Nase 50.000 Mark und fanden einen ersten Verleger, dem sie das bis heute gültige Redaktionsstatut abtrotzten, das dem Verlag jeden Einfluss auf die Inhalte der Hefte verwehrt. Als Zielscheiben ihres mephistophelischen Spotts waren die Machthaber, Kirchen oder sonstigen Autoritäten dieser Welt samt dem so genannten guten Geschmack schnell ausgemacht. Als Papst Johannes Paul II. nach Deutschland kam, zeigte das Magazin den guten Hirten auf dem Cover mit Schäfchen in eindeutig schäfchenmissbrauchender Pose und jubelte: „Der Papst kommt!“ Helmut Kohl verfolgte die Zeitschrift über Jahre hinweg als Kanzler Birne: „Wiedervereinigung ungültig! Kohl war gedopt!“. Die Bundeswehr erfreuten sie mit dem Soldatenreport „Berufsbild: Mörder“ und Genscher mit dem Comic-Superhelden „Genschman“. Oder sie klebte nach dem Einsatz der Bundeswehr im Jugoslawienkrieg Kanzler Schröder, Scharping und Joschka Fischer Hitlerbärtchen an. Zur Überraschung der Redakteure machten sie sich damit nicht nur Freunde. Als sie nach dem Selbstmord Uwe Barschels eine Fotomontage druckten, die Barschels Gegenspieler Björn Engholm tot in einer Badewanne zeigte, klagte Engholm und kassierte – obwohl er wegen seiner Verstrickungen in die Braschel-Affäre zurücktreten musste – schließlich 40.000 Mark. Auch die Schriftsteller Gerhard Zwerenz, der sich als „Ansammlung von Körpersekreten“ verunglimpft, und Benjamin von Stuckrad-Barre, der sich als Mörder diffamiert sah, waren vor Gericht erfolgreich. Zahllose andere Verfahren wurden von den Richtern aber eingestellt oder zugunsten der Titanic entschieden. Dennoch stehen mittlerweile 27 Hefte, also mehr als zwei Jahresproduktionen, auf dem Index. Womit die Titanic, wie die Redaktion stolz vermerkt, sich den Ehrentitel der „verbotensten Zeitschrift Deutschlands“ verdient hat. Zu den Eigenheiten der komischen Gewässer, in denen die Titanic kreuzt, gehört nicht zuletzt, dass sie offenbar fantasieaufreibender sind als andere. Die Redaktions-Generationen folgen hier vergleichsweise rasch aufeinander, der harte Stuhl des Chefredakteurs wird nach wenigen Jahren neu besetzt – doch bleiben die ehemaligen Mitarbeiter ihrem Blatt üblicherweise mit Sympathie und Beiträgen verbunden. Mehrere Verleger wurden verschlissen, die Gründungsväter sind inzwischen als Herausgeber sämtlich ausgeschieden. Auch wenn einer von ihnen, Robert Gernhardt, zu seinen Lebzeiten das beste Gegenbeispiel abgab, stammt von ihm die Beobachtung, dass Witz, Frechheit, Satire, Nonsens offenbar zu den besonders kräftezehrenden Ausdrucksformen der Kunst gehört. Weshalb selbst Hochleistungskomiker wie Wilhelm Busch, Keaton oder Chaplin im Alter nicht das Pointen-Niveau ihrer Jugend halten konnten. Neben der schlechten Bezahlung ist wohl auch das ein Grund dafür, weshalb die Titanic-Redaktion junge Kräfte bevorzugt – und besonders gut bei jungen Lesern ankommt. Vom Buntstift-Lutscher, der Thomas Gottschalk bei „Wetten dass…“ aufs Kreuz legte, bis zu den Bestechungsgeschenken, die Deutschland die Fußballweltmeisterschaft 2006 einbrachten, hat die Titanic deutsche Pressegeschichte geschrieben. Trotzdem möchte man lieber nicht zum Gegenstand ihres Interesses werden. Ob sie sich neben anderen europäischen Satireblättern wie dem französischen „Canard Enchaîné“ oder dem britischen „Punch“ sehen lassen kann, ist, wie viele andere Geschmacksfragen auch, schon oft ebenso end- wie fruchtlos debattiert worden. Dass es hierzulande in ihrer Spielklasse derzeit nichts Besseres gibt, steht fest. Erschienen in der „Welt“ vom 5. Oktober 2009 Peter Knorr, Oliver Maria Schmitt, Martin Sonneborn, Mark-Stefan Tietze, Hans Zippert (Hg.): „Titanic – das endgültige Satirebuch. Das Erstbeste aus 30 Jahren.“ Rowohlt Verlag, Hamburg 2009 416 Seiten, 25,00 €. ISBN 978 3 87134 652 1

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Vom Glück, nein zu sagen

Mehr als ein Wahltag: Der 27. September hat es Christa Wolf und Thomas Brasch angetan. Ein Tag wie jeder andere, an dem sich ihre literarischen Überzeugungen jedoch fundamental scheiden
Ohne Bundestagswahl wäre der 27. September ein Datum wie jedes andere auch. Mausgrauer Alltag, geläufiger Durchschnitt. Aber, was macht Alltag aus? Was ist das: ein Durchschnittstag? Ein x-beliebiger 27. September? So wie ein Menschen, der weder durch besondere Talente noch durch Schicksalsschläge oder Glücksfälle hervorsticht, ein Jedermann genannt werden kann, so gibt es doch auch Jedertage. Tage ohne Wahlen, ohne historische Ereignisse, ohne Sensationen und Katastrophen. Tage, an denen man nicht die große Liebe trifft, nicht befördert wird, vom Arzt keine bittere Diagnose gestellt bekommt, Jedertage, an die später keine Erinnerung bleibt, die sich aber im Kalender häufen, die zu einer blassen Masse Zeit anwachsen, aus der nüchtern betrachtet der größte Teil des Lebens besteht. Die Literatur ist ein miserables Instrument, um Jedertage zu erforschen. Die Literatur liebt es, das Leben zu dramatisieren. Sie strafft und konzentriert die Ereignisse, sie inszeniert sie, sie spitzt sie zu, sie verdichtet sie im doppelten Sinne des Wortes. In der Literatur ist das Leben überlebensgroß. Noch aus der Ereignislosigkeit möchte sie ein Ereignis machen – doch zum Wesen des Jedertags gehört, kein Ereignis zu sein. Das ist die Stärke der Literatur und ihre Schwäche: Die blasse, formlose Masse Zeit, die einen wesentlichen Teil des Lebens ausmacht, kommt in der Literatur nicht vor. Auch der Erzähler und Theaterautor Maxim Gorki (1868 bis 1936) wusste das. Er hatte sich längst ins Korsett eines Klassikers der Sowjet-Literatur zwängen lassen und lebte in einer von Stalins Agenten streng überwachten Ville bei Moskau, als er wenige Monate vor seinem Tod die Schriftsteller in aller Welt aufforderte, jeder für sich und doch gemeinsam einen durchschnittlichen, nicht weiter auffälligen Tag des Jahres zu schildern. Zusammen müssten diese Beschreibungen so etwas ergeben wie das Porträt eines Jedertags auf dem Planeten Erde. Näher wäre die Literatur dem Leben, wie es gewöhnlich ist, nie gekommen. 1960 erinnerte sich die Moskauer Zeitung „Iswestija“ an den Vorschlag Gorkis und richtete einen Aufruf an die Schriftsteller weltweit, einen Tag des Jahres aufzuzeichnen, ein beliebig ausgewähltes Datum: den 27. September. Christa Wolf war damals 31 Jahre alt und hatte, neben ihrer „Moskauer Novelle“ – ein Anfängerbüchlein voller Anfängerfehler – noch kaum etwas veröffentlicht. Die Aufgabe reizte sie. „Wie kommt Leben zustande? Die Frage hat mich früh beschäftigt“, schrieb sie später. Wenn es gelänge, ganz subjektiv und authentisch, jenseits der üblichen literarischen Formzwänge und Inszenierungen Alltag festzuhalten – müsste man dann nicht einer Antwort auf die Frage näher kommen, was das eigene Leben ausmacht? „Ich setzte mich also hin und beschrieb meinen 27. September 1960.“ Doch dabei ließ sie es nicht. Sie blieb dieser Übung auch in den folgenden Jahren treu und publizierte 2003 den Band „Ein Tag im Jahr“, ein eigenwilliges Tagebuch in Jahressprüngen, das die Aufzeichnungen sämtlicher ihrer 27. September von 1960 bis 2000 vereint. Einen dieser Tagesberichte, und zwar den ersten von 1960, veröffentlichte Christa Wolf allerdings schon 1974, noch in der DDR, unter dem Titel „Dienstag, der 27. September“. Darin berichtet sie ausführlich, ja erschöpfend von den Mühen des Gewöhnlichen: vom Versorgen ihrer kleinen Töchter, von einem Besuch beim Arzt, von einem Waggonwerk, in dem sie hospitiert, von einem Gespräch mit ihrem Mann über „Kunst und Revolution“ und nicht zuletzt von der Arbeit an ihrer nächsten Erzählung, zu der sie erst am Abend kommt, ausgelaugt von einem langen Tag. Nichts davon ist sonderlich bemerkenswert, nichts wird mit den dramatisierenden Mitteln der Literatur effektvoll arrangiert. Dennoch schildert Christa Wolf all das mit Sorgfalt, denn sie sieht darin, wie sie gegen Ende andeutet, potentielle Bausteine zu einem umfassenden Ganzen: „Vor dem Einschlafen denke ich, dass aus Tagen wie diesem das Leben besteht. Punkte, die am Ende, wenn man Glück gehabt hat, eine Linie verbindet. Dass sie auch auseinanderfallen können zu einer sinnlosen Häufung vergangener Zeit, dass nur eine fortdauernde unbeirrte Anstrengung den kleinen Zeiteinheiten, in denen wir leben, einen Sinn gibt…“ Nichts davon in Thomas Braschs dem Gedicht „Der schöne 27. September“. Brasch und Christa Wolf kannten und respektierten sich, obwohl zwischen ihnen nicht viele literarische Gemeinsamkeiten zu entdecken sind. Als Christa Wolf 1987 gebeten wurde, als alleinverantwortliche Jurorin den Kleistpreis an einen Schriftsteller ihrer Wahl zu vergeben, sprach sie ihn Thomas Brasch zu. Er gehörte zu den großen literarischen Talenten seiner Generation. Aber auch zu jenen Getriebenen, die wenig Scheu kennen, die eigene Gesundheit zugrunde zu richten – er starb 2001 im Alter von nur 56 Jahren. Hinterlassen hat er eine handvoll Theaterstücke, Filme, Erzählungen, Übersetzungen und eben Gedichte, die bezeugen, mit welcher Radikalität, mit welcher wütenden, hasardeurhaften Entschlossenheit er lebte, dachte und schrieb. In seinem Gedicht ist von keiner „fortdauernden unbeirrten Anstrengung“ die Rede, wie bei Christa Wolf. Ebenso wenig wie von irgendeinem „Sinn“ oder einer „Linie“, die im Glücksfall die auseinanderfallenden Tage verbinde. Im Gegenteil, selbst die schlichten Verrichtungen, die gewöhnlich die Jedertage füllen, all dieses Zeitungslesen, Frauen-Nachschauen, Briefkastenöffnen, Guten-Tag-Wünschen wird hier schroff verneint. Aber auch den üblichen moralischen Forderungen nach Selbsterkenntnis, Arbeit, Veränderungswille, die so gern als Richtschnur des menschlichen Handelns ausgegeben werden, ergeht es nicht besser: „Ich habe nicht über mich nachgedacht. / Ich habe keine Zeile geschrieben. / Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.“ Dieses Gedicht ist eine einzige Unterlassungserklärung. Hier meldet sich einer zu Wort, für den die Gewohnheiten, Konventionen und philosophischen Maximen, die dem Leben inneren oder auch nur äußeren Halt geben können, ihre Macht verloren. Auch den literarischen Formen, die Harmonie signalisieren könnten, misstraut er – und unterbricht deshalb in der siebten Zeile demonstrativ das Gleichmaß der mit „Ich habe…“ beginnenden Zeilen. Kurz: Das „Ich“ dieses Gedichts ist aus jeder Ordnung gefallen. Aber dennoch gibt Brasch seinem 27. September einen ebenso einfachen wie großartigen Beinamen, zu dem Christa Wolf bei ihren Alltags-Aufzeichnungen niemals zu greifen gewagt hätte: Er nennt ihn „schön“. Denn indem das „Ich“, das hier in zehn Zeilen neunmal stolz an die Spitze gestellt wird, die gängigen Ordnungsmuster hinter sich lässt, wird es frei von gängigen Pflichten und Regeln. Es verzichtet bewusst auf die bei Christa Wolf skizzierte „fortdauernde unbeirrte Anstrengung“, das eigene Tun auf einen höheren Zusammenhang hin zu organisieren. Es entzieht sich den üblichen Normen, seien es gesellschaftlichen Übereinkünfte („Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht“) oder seien es die Zwänge der Biologie („Ich habe keiner Frau nachgesehn“). Dafür gewinnt es die Chance und Bereitschaft zum Selbstgenuss und zum Genuss des Augenblicks. Ein literarischer Widerspruch, wie er sich grundsätzlicher kaum formulieren lässt: Wie auf den Spuren des Deutschen Idealismus will Christa Wolfs Tagebuchprosa selbst banale Details eines Jedertags festhalten, da auch in ihnen ein universaler Plan aufscheinen könnte, ein Plan, dem sich alles und jeder unterzuordnen hat. Dagegen polemisieren Braschs lakonische Verse der Verneinung. Der Gedanke, es gebe eine allgemeingültige, alles überwölbende Ordnung, der wir uns zu unterwerfen haben, erschien Brasch schlicht lächerlich. Er entwarf das Bild einer hoffnungslos chaotischen Welt, aus der einen keine Geschichtsphilosophie, Meta-Erzählung oder Religion retten kann und feiert in seinem Gedicht gerade deshalb die anarchische Freiheit des einzelnen. Brasch wäre, steht also zu befürchten, morgen nicht zur Wahl gegangen. Sie hätte ihn wohl nicht sehr interessiert. Doch auch diese Weigerung wäre ihm nicht beispielhaft vorgekommen, er sah sich nicht als politisches Vorbild. Staat in jeder Form war sein Gegner, Ordnung jeder Art macht ihn argwöhnisch, Autorität jeder Ausprägung lehnte er ab. Leicht hat er es sich auf diese Weise nicht gemacht: In der DDR wurde er von zwei Hochschulen gefeuert und zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Im Westen eckte er in den Theatern an, sorgte 1981 bei der Annahme des bayerischen Filmpreises für Skandal und hinterließ ein Roman-Manuskript, das sich mit mehr als 10.000 Seiten dem Literaturbetrieb bislang als unverdaulich entzieht. Nach den handelsüblichen Kategorien wird so einem Schriftsteller gern das Etikett „Rebell“ angeheftet. Tatsächlich war Thomas Brasch wohl auf der Suche nach einer Freiheit, wie sie nur in der Literatur zu finden und für die in der Wirklichkeit kein Platz ist.

Erschienen in der „Welt“ am 26. September 2009

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960 – 2000 Suhrkamp, Frankfurt am Main 704 Seiten, 14,00 € ISBN 978-3-518-46007-8 Thomas Brasch: Der schöne 27. September. Gedichte Suhrkamp, Frankfurt am Main 83 Seiten, 10,80 € ISBN 3-518-02264-4

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„Juliet, Nacked“

Nick Hornby erzählt von Nerds, Pop-Musik und einer scheiternden Ehe  

Natürlich gibt es neue, noch nie erzählte Geschichten. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie besonders gut sind. Im Gegenteil. Andere Geschichten dagegen sind schon seit Jahrhunderten erzählt worden, millionenfach, weil sie milliardenfach erlebt wurden. Es sind die immer gleichen Geschichten über Kindheit und Liebe und Tod, also über Vergänglichkeit und die Erinnerung an das Verlorene. Zum Geheimnis eines großen Schriftstellers gehört die Fähigkeit, diese alten Geschichten neu zu erzählen, will sagen: den Figuren die jeweils aktuellen Kostüme auf den Leib zu schneidern und die Schauplätze mit den Kulissen der Gegenwart auszustatten. Das ist weitaus mehr als nur eine Frage der Dekoration. Denn wenn einem Autor das gelingt, fängt er etwas ein vom Geist seiner Zeit, der in diesen Oberflächen steckt. Er macht sichtbar, was einem so dicht vor Augen steht, dass man es nicht sehen kann. Der Engländer Nick Hornby erzählt in seinem neuen Roman „Juliet, Naked“ vom Zerfall einer Ehe, vom Ende einer Liebe. Zweifellos einer der ältesten Stoffe der Weltliteratur. Und er erzählt davon, wie unsere Sehnsucht nach Liebe, nach Leidenschaft, nach einem erfüllten Leben in der Kunst bewahrt und zugleich von ihr in verführerisch bequemer Weise ersatzbefriedigt wird. Auch das ein literarisches Thema mit ehrwürdigem Stammbaum. Doch sowohl die Sprache wie auch die Ausstattung seiner Geschichte, ihre Kostüme und Kulissen, sind von so bedingungsloser Aktualität, dass man sich unter den Figuren bewegt wie unter vertrauten Freunden und man – selbst falls man glaubt, sich seiner eigenen Liebe sicher sein zu können – bald merkt: Tua res agitur, hier wird deine Sache verhandelt. Schon Hornbys bislang bester Roman „How to be good“ (2001) handelte von einer Frau, die sich von ihrem Mann trennt. Ein sehr komisches und doch beklemmend hoffnungsloses Buch. Auch „Juliet, Naked“ ist oft sehr witzig, wie fast alles was Hornby schreibt, aber nicht ganz so finster – am Ende des Buches flackert ein winziges, fernes Lichtlein. Die Heldin des Romans heißt diesmal Annie, lebt in einem winzigen, nordenglischen Badeort, leitet das dortige, sehr provinzielle Heimatmuseum und teilt Tisch und Bett mit Duncan, einem College-Dozenten. Große Leidenschaft war es nie, was sie zueinander brachte, eher eine gewisse Trägheit, die es sich im Bewährten bequem macht, da sie Risiken, Anstrengungen und Aufregungen eines Aufbruchs zu neuen Ufern scheut. Doch inzwischen geht Annie auf ihren vierzigsten Geburtstag zu und das Empfinden, etwas Wesentliches zu versäumen, wird immer dringlicher. Wie so viele kinderlose Frauen ihres Alters meint auch sie, Nachwuchs könnte ihrem gleichförmig dahinplätschernden Leben eine neue Energie und Bedeutung geben. Doch Duncan wäre alles andere als ein vorbildlicher Vater. Er gehört zu jenen Männern, die seit Jahrzehnten auf der Stelle treten, deren Leben um die immer gleichen Vorlieben oder Gewohnheiten kreisen und die für die Welt jenseits ihrer Scheuklappen lediglich miesepetrige Verachtung übrig haben. Hornby ist ein Virtuose in der Beschreibung solcher fader männlicher Obsessionen. Den manischen Fußball-Fan porträtierte er in „Fever Pitch“, den Pop-Besessenen in „High Fidelity“, einen unbeirrbar dem Traum von Star-Ruhm nachhetzenden Musiker namens JJ in „A Long Way Down“. Sie alle eint eine beunruhigende Neigung zur Realitätsflucht, zum Abtauchen in Parallelwelten und zur sozialen Selbstverstümmelung, die heute vor allem unter jüngeren Männern zuzunehmen und für die sich der Begriff „Nerd“ durchzusetzen scheint. Duncans Besessenheit gilt Tucker Crowe, einem amerikanischen Singersongwriter, der von der Bühne abtrat und sich seit mehr als zwanzig Jahren konsequent in Schweigen hüllt. Doch Duncan hält ihn unbeirrbar für den Shakespeare und Mozart der Pop-Musik in einer Person und betreibt mit einigen Gleichgesinnten eine Internetseite, auf der sie noch den obskursten Informationen oder Ideen zu Crowes Werk nachgehen. Wie Hornby in der Figur Duncans die Vorliebe des Nerds für Rechthaberei, Machtfantasien und sektenartige Sinnstiftung sowohl analysiert wie auch parodiert zählt zu den amüsantesten und zugleich erhellendsten Passagen dieses Romans. (Doch ist es für jeden Literaturkritiker heikel, sich unbeschwert über Duncan lustig zu machen. Schließlich ist er nüchtern betrachtet nicht anders als ein verbohrter Musikkritiker – und für manche seiner Eigenschaften, wie etwa seine Selbstgefälligkeit, seine Besserwisserei oder seinen offenkundigen Wunsch, die Leser mit entlegenen Kenntnissen einzuschüchtern, statt sie an seiner Freude über das besprochene Werk teilhaben zu lassen, gibt es allzu offensichtliche Parallelen in Literaturbetrieb.) An Tucker Crowe scheiden sich dann auch die Geister von Annie und Duncan – obwohl sie sich erst nach einem Seitensprung Duncans endgültig trennen. Als frühe Arbeitsfassungen von Crowes besten Songs auftauchen, ist Duncan grenzenlos begeistert, Annie jedoch skeptisch. Duncan lobt auf seiner Internetseite diese noch unfertigen Versionen wegen ihrer Authentizität, in der er das Kennzeichen höchster Kunst sieht. Annie dagegen plädiert für die ausgearbeiteten, sorgfältig durchgeformten Studiofassungen – und erhält für ihre Rezension mitten aus dem zwanzigjährigen Schweigen heraus ein anerkennendes E-Mail von Tucker Crowe höchst persönlich. Aus diesem Zufallskontakt entwickelt sich eine Art Liebesgeschichte zwischen Annie und Crowe. Wer will, kann darin eine allzu märchen- oder hollywoodhafte Wendung der Geschichte sehen. Doch durch sie eröffnen sich zum einen dramaturgisch wunderbar überraschende und komische Möglichkeiten für den Roman. Zum andern hat sie den Witz, dass sich Crowe als ein verarmter, durch sich selbst zugrunde gerichteter Ex-Alkoholiker entpuppt. Er ist kein Nerd, sondern stattdessen ein ergrauter, ziemlich orientierungsloser Macho alter Schule, der als verlässlicher Partner für Annie ebenso wenig in Frage kommt. Sie muss begreifen, wie viele Lebenschancen sie an der Seite des kaum geliebten Duncan regelrecht vertrödelt hat, und dass es, so sehr sie sich das auch wünschen mag, keinen Weg gibt, Versäumtes nachzuholen. Sie erlebte Leidenschaften eben lieber in Filmen, Büchern oder den Songs von Tucker Corwe statt in der Realität – also muss sie sich mit einem leidenschaftsarmen Leben arrangieren, und nicht einmal Tucker Crowe persönlich kann das ändern. Verblüfft stellt sie im Rückblick auf ihr so behagliches, wohltemperiertes Leben fest: Nicht an Gelegenheiten fehlte es ihr, sondern an der Entschlossenheit, sie zu ergreifen.

Nick Hornby: „Juliet, Naked“
Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009 304 Seiten, 19,95 Euro

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Ein Jahrgang und die deutsche Literatur

Na gut, zugegeben, es ist nicht die gesamte erste Reihe der deutschen Nachkriegsautoren, die 2009 Jahr 80 wird. Einige der Schriftsteller, die bis heute das literarische Profil des Landes mitprägen, haben dieses Jubiläum schon hinter sich, wie Martin Walser und Günter Grass, die 1927 geboren wurden. Ansonsten aber ist der Jahrgang 1929 unter denen, die zu den herausragenden Köpfen unserer Literatur gerechnet werden, auffällig stark vertreten. Entsprechend voll mit 80. Geburtstagen ist der Gedenktagskalender für 2009: Heiner Müller (9. Januar), Günter Kunert (6. März), Christa Wolf (18. März), Walter Kempowski (29. April), Ralf Dahrendorf (1. Mai), Jürgen Habermas (18. Juni), Walter Helmut Fritz (26. August), Peter Rühmkorf (25. Oktober) und Hans Magnus Enzensberger (11. November). Eine solche Häufung ist natürlich Zufall. Literarisches und intellektuelles Talent wird schließlich nicht nach Jahreszahlen oder Sternkonstellationen unter Neugeborenen ausgeteilt. Schriftstellerische Leistungen sind immer individuell. Keiner bekommt seine Romane, Gedichte, Essays, Theaterstücke geschenkt, nur weil er im richtigen Jahr geboren wurde. Eine solche Häufung ist natürlich kein Zufall. Alle Karrieren, auch die von Schriftstellern, entfalten sich vor dem Hintergrund historisch festgelegter Bedingungen. Manche geschichtliche Augenblicke sind für literarische Laufbahnen günstiger als andere. Wer zum Beispiel ein paar Jahre älter war als die 1929 Geborenen und dazu männlichen Geschlechts, hatte gute Chancen, als Soldat in Hitlers Krieg verheizt zu werden. Wer aber zum Jahrgang 1929 zählte, kam als Flakhelfer oft glimpflicher davon, war mit 16 Jahre alt genug, das Kriegsende samt seinen epochalen Umbrüchen mit vollen Bewusstsein zu erleben, andererseits aber jung genug, um danach als unbestreitbar unbelastet zu gelten. 1949, als Bundesrepublik und DDR gegründet wurden, waren die 1929iger zwanzig: Sie hatten als Heranwachsende wuchtige historische Erfahrungen gemacht, brauchten keine Vorwürfe für das Vergangene zu fürchten und vor ihnen lagen die Anfangsjahrzehnte zweier Staaten, die nach moralischer Orientierung gierten und sie nicht zuletzt in der Literatur suchten. Kürzlich erst stellte die Schriftstellerin und Moderatorin Thea Dorn fest, für sie seien Begegnungen mit Autoren der ältesten Generation durchweg beeindruckender als mit jüngeren Kollegen. Selbst wenn man ihr nicht zustimmen mag – es gibt gute Gründe für ihre Beobachtung. Die Erfahrungen von Krieg, Zerstörung und Neuanfang betrafen alle. Wer unter ihrem Eindruck zu Schreiben begann, schrieb, auch wenn er nur von sich schrieb, von Themen, die alle berührten. Heute ist die Gesellschaft in ungezählte Milieus zersplittert. Ein Schriftsteller, der von sich spricht, findet nur bei kleinen Gruppen Gleichgesinnter Resonanz. Andere haben ganz andere Erfahrungen gemacht als er. Das muss ihm klar sein und also ist er gut beraten, sich nicht zu ernst zu nehmen und seiner Literatur eine Portion Ironie beizumengen. Solche kluge Selbstrelativierung wirkt aber auf den ersten Blick selten beeindruckend.

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„Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch“

 Gespräch mit Reinhard Kaiser, der den großen Barock-Roman Grimmelshausens in das Deutsch der Gegenwart übertragen hat  

Uwe Wittstock: Grimmelshausens Roman erzählt vom Dreißigjährigen Krieg, einem der zerstörerischsten Kriege, die je in Deutschland und Europa wüteten. Was ist aus dem Roman über diesen Krieg zu lernen?
Reinhard Kaiser: Der »Simplicissimus« handelt ja von Vielem, nicht nur vom Dreißigjährigen Krieg, aber auf den Strecken, wo er es tut, erfährt und spürt man etwas von der Traumatisierung eines ganzen Landes und seiner Bevölkerung und kann sich wohl fragen, ob da nicht bis heute etwas nachwirkt. Die unmittelbare Erfahrung, die der »einfältige« Held von Grimmelshausens Roman macht, scheint die einer Zerstückelung des Erlebens und der Erfahrung zu sein, eines Lebens in der Unberechenbarkeit, im jähen Auf und Ab. Glück und Unglück wechseln einander in unberechenbaren Verwicklungen ab, und überall lauern Gewalt und Lebensgefahr. Das einzig Beständige in dieser Welt ist die Unbeständigkeit.
Wittstock: Der Roman Grimmelshausens ist heute 340 Jahre alt. Er wurde stets hoch gerühmt, aber im vergangenen Jahrhundert wohl immer weniger gelesen – nicht zuletzt weil das Deutsche der Barock-Zeit immer schwieriger zu verstehen ist. Dennoch ist der Simplicissimus, der „Einfältige“, für die Deutschen bis heute eine vertraute Figur geblieben. Wie kommt das?
Kaiser: Ich bin mir nicht sicher, dass er uns eine vertraute Figur ist. Aber sein Name ist weithin bekannt und ebenso der Name seines Schöpfers Grimmelshausen. Deshalb scheint es jetzt vergleichsweise leicht zu sein, sehr plötzlich und ziemlich überraschend ein enormes Interesse für das Buch neu zu wecken, von dem jeder gehört hat, das aber, wie es scheint, viele nicht oder nur in kleinen Ausschnitten gelesen haben. Wittstock: Wie würden Sie den Romanheld Grimmelshausens beschrieben: Ist er ein Eulenspiegel, ein schlitzohriger Schelm, der die Leute hinters Licht führt? Ein Tor und Dummkopf, der einfach Glück hat? Ein heiliger, frommer Narr, der sich auf Gottes Schutz verlässt? Kaiser: Ja, das alles ist er und noch manches mehr. Er ist der Narr, der bisweilen weiser ist als alle anderen um ihn herum. Er ist, als man ihn in eine Kalbshaut steckt, sogar ein Tier, das sich dumm gibt, aber klüger ist als die Menschen, die sich über es lustig machen wollen, und das sich als Tier Freiheiten im Urteilen und Spotten herausnehmen kann, die ein Herr in jener Welt keinem Untergebenen, wohl auch keinem Hofnarren, durchgehen ließe. Wittstock: Auffällig ist, wie oft Simplicissimus in der Not die Kleider wechseln muss. Er trägt Narrenkleider, Frauenkleider, die Uniformen verschiedener Kriegsherren, aber er wehrt sich gegen diese Verkleidungen nicht. Er scheint sich ganz gern in verschiedenen Rollen zu erproben. Ist er damit ein Verwandter von uns heute, die wir ebenfalls in vielen Identitäten zu Hause sein müssen? Kaiser: Mir scheint, das wäre eine etwas abrupte Aktualisierung. Das Spiel mit verschiedenen Rollen ist bestimmt ein zentrales Element im »Simplicissimus« – zu Füßen der grotesken Figur, die uns aus dem Titelkupfer fast zeitlos modern entgegenlächelt, liegen lauter Theatermasken. Aber gespielt wird dieses Spiel und komisch wirkt es, weil in jener Welt die Rollenzwänge ungleich viel größer sind als in der unseren. Da herrschen strikte Kleiderordnungen, und wer gegen sie verstößt, macht sich sogleich zum Außenseiter, zum Sonderling, zum Narren. Wittstock: Einen der zentralen Romane der deutschen Literaturgeschichte aus dem Barock-Deutsch ins Deutsch der frühen 21. Jahrhunderts zu übersetzen, ist ein gewagten Unternehmen. Was war für Sie der schwierigste Punkt dieser Arbeit? Kaiser: Ich habe viele Bücher aus dem Englischen, einige auch aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. Aber für mich war Übersetzen immer eine genuin literarische Betätigung, ein schöpferisches Umgehen mit der eigenen Sprache anlässlich eines Buches in einer fremden Sprache. Und den literarischen Reiz, den das Übersetzen für mich hat, habe ich schon während des Studiums zum erstenmal im Mittelhochdeutsch-Seminar wahrgenommen. Insofern war mir die Idee, in diesem Falle aus dem Deutschen ins Deutsche zu übersetzen, von Anfang an sehr verlockend. Was ich dabei nicht unbedingt erwartet habe: dass diese Übersetzungsarbeit in mancher Beziehung tatsächlich schwieriger war als das Übersetzen aus einer der Fremdsprachen, die mir vertraut sind. Das hing, glaube ich, damit zusammen, dass die Spielräume größer, die Wahlmöglichkeiten zahlreicher und damit die unzähligen Entscheidungen, die man als Übersetzer fällen muss, komplizierter waren, als dies im Umgang mit den anderen Sprachen der Fall ist. Aber auch das machte mir diese Arbeit nur umso interessanter – das Neuerschaffen dieses ungeheuer vielschichtigen alten Texgebildes in einer gegenwärtigeren Sprache und zugleich das abenteuerliche Ausloten und Durchdringen der Sprache des Originals und der Welt, aus der sie stammt und von der sie erzählt. Wittstock: Wenn Ihnen Kritiker vorhalten, ihre Übersetzung könne gar nicht so gut sein wie das Original – was halten Sie denen entgegen? Kaiser: Die Übersetzung eines Textes ist nicht das Original. Wer das Original in seiner ursprünglichen Sprache lesen und verstehen kann und will, bedarf ihrer nicht. Wem die fremde Sprache des Originals nicht verständlich oder so schwer verständlich ist, dass er mit dem Text die Geduld verliert und aufgibt, dem kann eine Übersetzung, wenn sie gelingt, zwar nicht das Original, aber doch einiges von ihm in neuem Gewand vor Augen stellen, kann etwas begreiflich, lesbar, erfahrbar und erlebbar machen. Mir scheint, die Sprache von Grimmelshausens großem Roman ist inzwischen für viele seiner potentiellen deutschen Leser so fremd, dass eine Übersetzung sinnvoll. Wittstock: Wem würden sie heute zur Lektüre des Romans in Übersetzung raten und wem zur Lektüre des Originals? Kaiser: Allen, die vielleicht ahnen, aber noch nicht wirklich realisiert haben, dass Grimmelshausens »Simplicissimus« keine altbackene, abgelebte Scharteke ist, sondern unter die fünf oder zehn bedeutendsten deutschen Romane gehört – durch seine Fülle, seinen sprachlichen Reichtum, seinen Witz, seine literarische Kunstfertigkeit, seine Welthaltigkeit. Wittstock: Als „Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch“ 1668 erschien, wurde der Roman zu einem großen Erfolg. Zu einem so großen, dass sich Grimmelshausen von den Lesern zu einer Fortsetzung der Geschichte genötigt sah. In Hollywood nennt man so etwas heute ein Sequel. Ist das Buch in ihren Augen tatsächlich ein Roman mit genau kalkuliertem Aufbau und Spannungsbogen oder doch eher ein Bündel von abenteuerlichen Geschichten, die nur von der Hauptfigur zusammengehalten werden? Kaiser: Die Geschichte, die das Buch erzählt ist zu unserem Leseglück keine geordnete – sie ist geprägt von jähen Wendungen, von Auf und Ab, von Brüchen und Überraschungen. Mit einem Entwicklungs- oder Bildungsroman im erhabenen Sinne haben wir es hier nicht zu tun. Aber in seinem Aufbau, in der Abfolge von Handlungsstufen, im Spiegeln und Widerspiegeln von Bildern, Motiven und Gedanken ist dieser Roman sehr sorgfältig und umsichtig konstruiert – so sehr, dass man in der Vielfalt der Beziehungen und Verweise immer wieder neue Entdeckungen machen kann. Das gilt zumindest für die ersten fünf Bücher. Beim sechsten Buch, der »Continuatio«, auf die Sie hinweisen, verhält es sich etwas anders. Da hat man den Eindruck, dass der Zusammenhang sich lockert, dass die Konstruktion bisweilen aus den Fugen und ins Provisorische gerät. Aber ich glaube, auch das liegt nicht an einem Mangel an Sorgfalt, sondern daran, dass sich Grimmelshausen im Bewusstsein dessen, was ihm in seinem Werk als Kunststück schon gelungen ist, zuletzt auf ein literarisches Experimentieren in einem ziemlich modernen Sinne einlässt: Er probiert aus, was auf dem Papier mit Buchstaben, Wörtern und Sätzen überhaupt alles möglich ist: die Lebesngeschichte eines Stücks Klopapier, von ihm selbst erzählt. Eine Reise um die Welt auf zweieinhalb Seiten… Wittstock: Grimmelshausen hat nicht alle Episoden seines Romans selbst erfunden, sondern viel von andern Autoren und Dokumenten übernommen. Würde man seinen Roman heute in manchen Passagen ein Plagiat nennen? Kaiser: Wohl nicht. Grimmelshausen schreibt nicht aus dem Leeren heraus. Er verwendet Literatur, er lässt sich von den Werken mancher Kollegen anregen, er stützt sich auf einschlägiges Material – etwa auf Kriesgchroniken seiner Zeit. Er geht mit diesem Material um, wählt aus, verarbeitet es, macht etwas daraus für sein Buch. Auch in Abschnitten, wo er Lesefrüchte und Bildungsschnitze anhäuft, weiß er immer sehr genau, warum er das tut. Auf Zeilenschinderei hat er es nirgendwo abgesehen. Wittstock: Als der Roman „Simplicissimus Deutsch“ 1944 in Schweden in Übersetzung erschien, schrieb Thomas Mann mit Blick auf den vom 2. Weltkrieg zerfleischten Kontinent: „Europa ist heute wieder in der rechten Verfassung für dieses Buch.“ 65 Jahre später sind wir in einer unvergleichbar glücklicheren Lage: Vom Balkan abgesehen schaut Europa heute auf eine der längsten Friedensphasen der Geschichte zurück. Ist uns Grimmelshausens Kriegsroman damit nicht in weite Ferne gerückt? Kaiser: Die Balkan-Kriege sind bei uns nicht in Vergessenheit geraten. Der Irak und Afghanistan sind uns, dank unserer Medien, ziemlich nahe. Eine Weltgegend, in der sich zwei Sekten einer Religion im Namen ihres einen Gottes bis aufs Blut bekämpfen und, indem sie die Auseinandersetzung mit Machtpolitik und Herrschaftsansprüchen verquicken, weite Landstriche und ganze Länder mit einem Grauen überziehen, in dem Massaker, gegenseitiges Abschlachten, Mord und Plündern für Jahre und Jahrzehnte zum Alltag wurden – das war auch unser Deutschland einmal. – Aber nicht nur deshalb gilt der Satz Thomas Manns über die »rechte Verfassung für dieses Buch« auch heute. Es geht auch um die Chance, die Freude und das Glück, ein literarisches Kunstwerk, ein Weltbuch, einen Roman, der zu den großartigsten unserer Literatur gehört, zu entdecken oder wiederzuentdecken. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: „Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch“ Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts und mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2009 762 Seiten, 49,95 €

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Das Leben der Wünsche

Der Roman als Versuchsanordnung: Thomas Glavinic fragt, was geschieht, wenn plötzlich alle Träume wahr werden

Das Motiv ist so alt wie die Märchen. Jonas, ein Mann mittleren Alters, kommt aus dem Büro irgendwo in Wien. Er hat den Geburtstag eines Kollegen gefeiert und ist leicht angetrunken. Auf der Straße spricht ihn ein Unbekannter an, der genau über seine Lebensverhältnisse orientiert ist, ja sogar von seinen Seitensprüngen mit der verheirateten Marie weiß. Doch der Unbekannte – er riecht nach Bier und macht mit Goldkettchen und verspiegelter Sonnenbrille einen reichlich unseriösen Eindruck – will Jonas nicht erpressen. Vielmehr kündigt er wie eine Märchenfee an, Jonas drei Wünsche seiner Wahl zu erfüllen. Natürlich nimmt Jonas den Kerl nicht ernst, aber um ihn endlich loszuwerden, antwortet er, was Kinder gern antworten, wenn man ihnen beliebige Wünsche freistellt: „Ich wünsche mir, dass sich alle meine Wünsche erfüllen. Dies ist mein erster Wunsch, und auf die anderen zwei kommt es nun nicht mehr an, ich schenke sie Ihnen.“ „Das Leben der Wünsche“, das neue Buch des Österreichers Thomas Glavinic, hat von den ersten Seiten an etwas von einem literarischen Versuchsaufbau: Was geschieht, wenn für einen Romanhelden plötzlich alle Wünsche wahr werden? Schon Glavinics Roman „Die Arbeit der Nacht“ von 2006 war eine solche Versuchsanordnung mit erzählerischen Mitteln: Was geschieht, wenn ein Romanheld plötzlich feststellt, dass er der letzte Mensch ist? Auch hier hieß der Held Jonas, lebte in Wien und hatte eine Geliebte namens Marie. Doch im damaligen Buch wurde Jonas von mysteriösen Mächten eben nicht beschenkt, sondern beraubt: Er erwacht eines Morgens und stellt fest, dass außer ihm alle Menschen verschwunden sind. Jonas beginnt eine panische, hilflose Suche, die Glavinic geschickt mit Spannungs- und Schauereffekten garniert. Doch wohin Jonas auch kommt, er begegnet immer nur den eigenen Spuren, immer nur sich selbst, er ist und bleibt der einzige Mensch weltweit. Im neuen Roman Glavinics sind Wien und der Rest der Welt wieder normal bevölkert. Beschäftigt mit gewöhnlichen Sorgen im Beruf, mit dem Kummer über die ständig keifende Ehefrau und mit der Sehnsucht nach seiner Geliebten Marie, hat Jonas die seltsame Begegnung mit dem geheimnisvollen Unbekannten bald vergessen. Er kommt gar nicht auf die Idee, dessen Versprechungen einlösen zu wollen, er lebt vielmehr ein aufs Durchschnittsmaß herabgedimmtes wunschloses Unglück. Allerdings muss man kein sehr eifriger Leser Sigmund Freuds sein, um zu wissen, wie viele Begierden und Begehrlichkeiten im Unbewussten auch (oder gerade) dann sprießen, wenn das Bewusstsein konkrete Wünsche gar nicht registriert. Zuerst stirbt Jonas’ Frau. Sie liegt plötzlich tot in der Badewanne. Bei der Autopsie wird Herzversagen festgestellt: „Es hat einfach aufgehört zu schlagen.“ Der Schock ist groß und Jonas’ Trauer ebenso. Noch begreift er die Verbindung zu der ihm verliehenen Wunschmacht nicht. Auch als ein von ihm bewunderter Kollege und dessen Frau ihn zu sexuellen Feierabendvergnügungen zu dritt auffordern, oder als Marie sich endlich von ihrem Mann trennt und sich für Jonas entscheidet, ahnt der noch nichts. Doch manches ist einfach zu seltsam und irritierend, als dass es sich als natürlicher Zwischenfall abtun ließe. Eines Nachts zum Beispiel, als Jonas nicht schlafen kann, steht plötzlich die Straße vor seinem Haus unter Wasser, ohne dass irgendjemand erklären könnte, woher das Wasser kam. Als Jonas schließlich die Zusammenhänge begreift, versucht er seine Fähigkeiten gezielt einzusetzen und zum Beispiel eine vom Krebs gepeinigte Freundin vor ihrer Krankheit zu retten. Doch all das ändert wenig an seinen unbewussten Wünschen, und da er die naturgemäß nicht kontrollieren kann, steuert die Geschichte für ihn, und nicht nur für ihn, unaufhaltsam in die Katastrophe. Ein Problem des Buches liegt nicht zuletzt darin, dass man als Leser in jeder Romanhandlung instinktiv nach Symbolen, verborgenen Zusammenhängen oder versteckten Bedeutungen fahndet. Anders als Jonas hält man also gleich nach dessen Begegnung mit der recht schlawinerhaften männlichen Wunschfee Ausschau nach Indizien, ob und auf welche Weise sich die Träume des Helden realisieren – und hat deshalb lange vor ihm begriffen, wie der Hase läuft. Glavinic ist ein fähiger Erzähler und es gelingt ihm, mit allerlei rätselhaften Andeutungen und überraschenden Wendungen auch dann noch für Spannung zu sorgen, wenn man das Erzählprinzip längst durchschaut hat. Ein wenig fad und schmalspurig kommt einem Jonas dennoch vor. Wie schon in „Die Arbeit der Nacht“ wird er von spätpubertären Phantasien verfolgt, in denen er die Rolle eines Auserwählten spielt, eines Mannes, der knapp irgendwelchen Schicksalsschlägen entkommt oder als einziger schreckliche Unglücksfälle überlebt. In gewisser Hinsicht erforscht Glavinic in beiden Romanen die Welt des narzisstischen Charakters: Ob nun Jonas die Rolle des letzten verbliebene Menschen spielt, oder ob buchstäblich alles den Befehle seiner bewussten oder unbewussten Wünschen gehorcht – in beiden Büchern dreht sich für Jonas die ganze Welt um Jonas und mit einiger Verblüffung registriert er hin und wieder mal, dass es neben ihm auch andere Menschen gab oder gibt. Viel zu lachen hat der Leser bei all dem nicht. Was schade ist. Zur Hauptfigur seines Romans „Das bin doch ich“ hatte Glavinic 2007 einen Wiener Schriftsteller gemacht, der den Namen Thomas Glavinic trägt und ihm ähnelt wie ein Ei dem anderen. Aus der im Literaturbetrieb nicht selten anzutreffenden, ein wenig unreifen Neigung zu Narzissmus, Egozentrik und Hypochondrie macht er hier eine federleichte, aber hochkomische Milieustudie. In den beiden andern Romanen macht er aus dem gleichen Material literarische Versuchsanordnungen, die sich zu Tragödien von Weltmaßstab entfalten. Das wirkt auf den ersten Blick gewichtiger. Besser ist es nicht.

Thomas Glavinic: Das Leben der Wünsche. Roman
Hanser Verlag, München 2009 319 Seiten, 21,50 €

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Alles drin

Volker Reiche ist einer der erfolgreichsten Comic-Künstler Deutschlands und sonnt sich vor allem in der Anerkennung des Kulturbetriebs. Eine Aussrtellung am Tegernsee  

Der eine tritt ab, der andere tritt an, um höchste Ehren einzuheimsen. Während die deutschen Comic-Helden „Fix und Foxi“ vom Markt verschwinden, da ihr Verlag Insolvenz angemeldet hat, wurde der Zeichner Volker Reiche für seinen Comic „Strizz“ in den letzten Jahren sowohl mit dem Olaf-Gulbransson-Preis als auch mit dem Swift-Preis und gleich zwei Mal mit dem Max-und-Moritz-Preis ausgezeichnet. Jetzt wird er zudem für seine Arbeit mit einer Retrospektive im Olaf Gulbransson Museum für Grafik und Karikatur am Tegernsee gefeiert. Während also der deutsche Kinder-Comic, der seine populärste Zeit in den Sechziger- und Siebzigerjahren erlebte, seine Leser vor allem an die japanischen Mangas verliert, sonnt sich der Erwachsenen-Comic von Reiche in der Anerkennung des deutschen Kulturbetriebs. Wie er die errang, macht die Ausstellung des Gulbransson-Museums verständlich. Seit Mai 2002 zeichnet Reiche für die FAZ einen erst täglich, inzwischen wöchentlich erscheinenden Comic-Strip, in dem er ganz unterschiedliche, einander auf den ersten Blick ausschließende Talente vereint. Denn Reiche ist ein Erzähler mit langem Atem, ein echter Epiker, dem es gelingt, in seinem Comic eine komplexe fiktive Welt zu errichten und bis in Details hinein mit Leben zu erfüllen. Zugleich aber beherrscht er die Kurzstrecke des klassischen Zeitungsstrips, vermag also seine Fortsetzungsgeschichten jeweils nach einigen wenigen Bildern schon auf die Pointe bringen. In seinem Comic-Kosmos gelten einerseits die fantastischen Gesetze eines Traumreiches, in dem Tiere sprechen können, Kinder mit Spielfiguren philosophische Seminare abhalten und selbst die faulsten Angestellten nie entlassen werden. Andererseits zielt Reiche nicht auf die quasi-literarische „Graphic Novel“, sondern verknüpft all das seinem journalistischem Temperament folgend eng mit der politischen oder gesellschaftlichen Tagesaktualität – so dass sein „Strizz“ auch als getuschte Chronik der laufenden Ereignisse gelesen werden kann. Die Ausstellung des Gulbransson-Museums präsentiert Reiche allerdings nicht nur als Könner des Comic-Strips, sondern auch als Maler. Und in dieser Disziplin wird noch eine weitere seiner vielen Begabungen deutlich, nämlich die zum kalkulierten Stilbruch, zur bewusst grotesken Parodie. Reiche übernimmt hier Farbpalette, Formensprache und Duktus großer Maler der klassischen Moderne, wie Max Beckmann oder Francis Bacon, wie Picasso oder Monet, und bevölkert einige ihrer bekannten Bilder mit seinen Comic-Charakteren. Tassilo, der bullige Hofhund mit der sanften Seele, findet sich auf einem Porträt nach der Art Picassos wieder, Strizz samt Freundin Irmi und Chef Leo auf einem Triptychon, das in der Manier Beckmanns gehalten ist. Dieses Talent zur Vereinigung von scheinbar Unvereinbarem, zur Kombination von Gegensätzlichkeiten zeigt sich auch in einer sonnigen Frühstücksszene, die fast alle wichtigen Gestalten aus Reiches Comic-Welt an einem Tisch vereint. Das Gemälde zitiert zwar diskret, aber dennoch spürbar das berühmte „Déjeuner“ von Claude Monet aus dem Jahr 1868. Natürlich geht es an Reiches Tisch etwas lebhafter zu in dem bürgerlichen Salon des französischen Meisters. Aber auf beiden Bildern wird aus einem Ensemble individueller Figuren erkennbar etwas gemeinsames Ganzes, nämlich eine Familie, geformt. Und eben darin besteht wohl eine der besonderen Fähigkeiten Reiches, die ihm Beifall und Bewunderung des Kulturbetriebs einträgt. Er versteht es, in seine Comics die unterschiedlichsten, scheinbar comicfeindlichen Kulturbereiche zu integrieren: Nicht nur große Werke der Kunstgeschichte, sondern ebenso Oper, Film, Literatur oder Philosophie. Seine Strizz-Welt wird so zu einem Abbild eines postmodernen Bewusstseins, das die traditionellen Kulturhierarchien und erst recht keine Gräben zwischen E- oder U-Kultur mehr anerkennt. Eines Bewusstseins also, das im ungenierten Genuss der Vielfalt erst das Ganze entdeckt.

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