Nach der Stasi-Wahrheit über Kurras: Wie ändert sich unser Blick auf die Geschichte der Studentenbewegung?
Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Peter Schneider, einem der Weggefährten Rudi Dutschkes
Uwe Wittstock: Der 2. Juni 1967 mit dem Tod Benno Ohnesorgs war eines der entscheidenden Ausgangsdaten der Studentenbewegung. Muss nach der Nachricht, dass der Polizist, der Ohnesorg erschoss, ein Stasi-Agent war, die Geschichte der Studentenbewegung neu geschrieben werden? Peter Schneider: Sie muss nicht neu geschrieben werden, aber sie wird komplexer. Entschieden komplexer. Natürlich hätte sich vieles, was nach dem 2. Juni geschah, etwas anders abgespielt. Dennoch ändert die Nachricht, dass Karl-Heinz Kurras ein Stasi-Spion war, im Nachhinein nichts an der Gewalt des Berliner Polizeiapparats, die damals zum Ausbruch kam. Die jungen Polizisten, die am 2. Juni auf die Demonstranten einprügelten, waren trainiert worden von Polizeioffizieren, die ihr Handwerk in der Nazizeit gelernt hatten. Wenn man liest, was der damalige Polizeipräsident von Berlin Erich Duensing bei den Schulungen von sich gab, wird einem noch heute übel. Der Mann hatte sich im Zweiten Weltkrieg um die Bekämpfung von Partisanen in der Ukraine verdient gemacht. Diese historischen Tatsachen und die mentale Prägung vieler Polizeiführer werden durch die Neuigkeit, dass Kurras ein Stasi-Spitzel war, nicht weggewischt.
Wittstock: Von den tödlichen Schüssen auf Ohnesorg einmal abgesehen – weshalb war der Demonstration vom 2. Juni so wichtig?
Schneider: Ich war bei dieser Demonstration gegen den Schah dabei. Man muss sich diese Szenen wieder in Erinnerung rufen: Ich glaube, ich war, bevor ich zu dieser Demonstration ging, ein eher gemäßigter Linker. Doch dann erlebte ich einen Gewaltausbruch, den ich nie für möglich gehalten hätte. Ein Gewaltausbruch von Seiten der Polizei. Ich sah junge Polizisten mit entfesselten Gesichtern, mit Schaum vor dem Mund, die auf Demonstranten einprügelten. Ich sah eine blonde Frau, die an den Haaren über den Fahrdamm geschleift wurde. Und dann kam ein Gerücht auf, das durch einen Polizei-Lautsprecherwagen verbreitet wurde: Ein Student habe einen Polizisten mit einem Messer angegriffen und tödlich verletzt. Dass diese Falschmeldung auf die prügelnden Polizisten keinen mäßigenden Einfluss hatte, können Sie sich vorstellen. Ich war entsetzt, weil ich glaubte, ein einzelner Idiot habe jetzt dafür gesorgt, dass die Vorgänge in dieser Nacht auf den Kopf gestellt und die Demonstranten als Gewalttäter erscheinen würden.
Wittstock: Wann klärte sich das auf?
Schneider: Sehr bald. Aber noch am nächsten Tag war die falsche Version in den Zeitungen übermächtig, vor allem in den Zeitungen des Springer-Verlags. Es wurde versucht, die Verantwortung für den Tod Ohnesorgs den Demonstranten in die Schuhe zu schieben. Auch die Richter bei den späteren Gerichtsverfahren gegen Kurras haben wenig unternommen, um hier für Klarheit zu sorgen. Wittstock: Was hat die rebellierenden Studenten damals stärker erschüttert: Der Tod Ohnesorgs oder der Freispruch für den Täter Kurras vor Gericht? Schneider: Die Erfahrung, dass sich sowohl die Zeitungen als auch die Gerichte blindlings auf die Seite der Polizei stellten und deren Einsatzmethoden überhaupt nicht in Frage zogen, hatte auf viele der beteiligten Demonstranten und sympathisierenden Studenten damals einen ungeheuren Einfluss. Dass Kurras dann auch noch freigesprochen wurde, hat viele in ihrer Ablehnung der Bundesrepublik bestätigt und radikalisiert. Kurras wurde freigesprochen, während Fritz Teufel im Gefängnis saß, weil er Farbeier und womöglich auch einen Stein geworfen hatte. Das alles hat eine ungeheure Empörung ausgelöst und eine neue Qualität der Rebellion erzeugt. Wittstock: Und dazu wäre es nicht gekommen, wenn man damals schon die Wahrheit über Kurras gekannt hätte? Schneider: Ich glaube nicht, dass die Radikalisierung der Studentenbewegung ausgeblieben wäre, aber sie hätte sich sozusagen „gerechter“ verteilt. Viele von uns gaben sich doch der Illusion hin, dass die DDR das bessere Deutschland sei und dass der dortige Sozialismus, auch wenn er noch so schäbig war, die bessere politische Alternative sei. All das wäre dann in einem anderen Licht erschienen.
Wittstock: Wie groß war der Einfluss der DDR auf die Studentenbewegung?
Schneider: Heute wissen wir, dass die DDR permanent versucht hat, Einfluss auf die Studentenbewegung zu nehmen. Ob es die Gerüchte über Heinrich Lübke waren, der als Bundespräsident mit gefälschten Unterlagen beschuldigt wurde, KZ-Baumeister gewesen zu sein, ob es das Springer-Tribunal war – das habe ich im vergangenen Jahr in meinem Buch „Rebellion und Wahn“ ausführlich beschrieben – oder ob es der Vietnam-Kongress war. Es war ein übles und kontraproduktives Spiel, das dieser immer noch so beliebte und bewunderte ‚Gentleman‘-Spion Markus Wolff auf dem Gewissen hat. In Wahrheit ist er doch nichts anderes gewesen als ein gehorsamer Handlanger Erich Mielkes.
Wittstock: Auch wenn Kurras freigesprochen wurde – die wichtigsten politischen Verantwortlichen für den Polizeieinsatz am 2. Juni 1967, der Polizeipräsident Duensing, der Innensenator Wolfgang Büsch und der Regierende Bürgermeister Berlins Heinrich Albertz, traten wegen dieses Polizeieinsatzes zurück. Hätten die Studenten das nicht als einen Triumph der Demokratie feiern müssen, anstatt weiter gegen den angeblich demokratieunfähigen Staat zu protestieren?
Schneider: Unbedingt. Ich gebe Ihnen da Recht. Diesen Erfolg hätten die Studenten und ihre Wortführer damals anerkennen und feiern sollen. Ich erinnere mich an ein Plakat, das bei der Trauerfeier für Ohnesorg am 3. Juni hochgehalten wurde, zu der sich die Studenten damals versammelten. Da stand drauf: „Albertz zurücktreten“, „Duensing zurücktreten“, „Büsch zurücktreten“. Diese drei Forderungen waren bereits im Herbst erfüllt. Seltsamerweise hat dann niemand von uns den naheliegenden Schluss gezogen und gesagt: Dieser Staat hat ein Versagen zugegeben, jetzt müssen wir unsererseits zugeben, dass diese Demokratie funktioniert und reagiert hat. Aber das zuzugeben war verboten, dafür war die Radikalisierung bereits zu weit fortgeschritten. Wittstock: </strong>Verboten von wem? Schneider: Das haben wir uns selber verboten. Wenn wir damals schon gewusst hätten, dass Kurras ein Spion war, wäre es vielleicht weniger vernagelt, weniger einseitig und hasserfüllt, kurz differenzierter weitergegangen. Wittstock: Wäre dem Land und der Studentenbewegung vielleicht auch der spätere Terrorismus (RAF oder Bewegung 2. Juni) erspart geblieben? Schneider: Das bezweifle ich. Denn da unterstellt man den Terroristen eine Rationalität, die sie längst nicht mehr hatten. Diese Leute verfolgten ja schon in der Gründungsphase keine rationalen Ziele mehr, sondern gaben sich einer wilden Selbstermächtigung hin. Immerhin: Eine Terrorgruppe namens „2. Juni“ hätte – wäre die Wahrheit über Kurras damals schon bekannt gewesen – ihrem Namen nur dann gerecht werden können, wenn sie einer Doppelstrategie gefolgt wäre und auch Anschläge in der DDR geplant hätte.
Wittstock: Sie haben damals mit vielen Wortführern der Studentenbewegung eng zusammengearbeitet. Unter anderem mit Rudi Dutschke. Haben Sie selbst erlebt, dass es Versuche der Einflussnahme auf die Studentenbewegung gab, die erkennbar von der DDR ausgingen?
Schneider: Als wir das Springer-Tribunal vorbereiteten, tauchte bei uns ein als DDR-Spitzel erkennbarer Mann auf. Der wollte uns mit einem angeblich sensationellen Dossier über Axel Springer unterstützen. Da waren wir natürlich neugierig. Aber in dem Dossier stand überhaupt nichts drin, was gegen Springer publizistisch verwendbar gewesen wäre. So war zum Beispiel zu der Frage, was Axel Springer in den Jahren des Dritten Reichen gemacht hatte – dazu gibt es inzwischen einige Forschungen – in dem Dossier nichts zu finden. Das einzige was zu finden war, waren Informationen über Springers Frauengeschichten. Und soviel kann ich zu unserer Ehrenrettung sagen: Dieses Zeug haben wir mit spitzen Fingern in einen Papierkorb befördert und keine Zeile davon benutzt. Wittstock: Rudi Dutschke war doch DDR-Flüchtling. Warum hat er sich nicht stärker gegen die Illusionen der Studentenbewegung, die DDR sei das bessere Deutschland, zur Wehr gesetzt? Schneider: Vor dem Vietnam-Kongress hatte er die Illusion, dass er die Freie Deutsch Jugend der DDR gewissermaßen umpolen und für seine Ziele gewinnen könnte. So wie ja auch manche andere Leute glaubten, sie könnten sich diesen oder jenen Stasi-Mann zunutze machen. Im Ergebnis kam dann meistes das Umgekehrte heraus. Es steht aber fest, dass sich Rudi Dutschke über die Natur des Staates DDR keine Illusionen machte und sogar – wie ich jetzt von Dutschkes Sohn las – gegen Ende seines Lebens vermutete, dass der Attentäter Josef Bachmann, der ihn so schwer verletzte, ebenfalls von der Stasi gewesen sei. Dazu kann ich nichts sagen, aber was ich bestätigen kann, ist, dass sich Dutschke in den Jahren nach dem Attentat am meisten vor einem Anschlag der Stasi fürchtete. Nicht vor Verfolgung durch den CIA, sondern durch die Stasi.
Wittstock: Viele der ehemaligen Achtundsechziger betätigten sich gleich nach der Nachricht über Kurras als nahezu blinde Verteidiger der Bewegung ihrer Jugend. Benehmen sich diese Altachtundsechziger nicht wie ihre Eltern, wenn sie nicht bereit sind, sich nun offen und schonungslos mit der Vergangenheit zu beschäftigen?
Schneider: Man kann es uns Achtundsechzigern doch nicht anlasten, dass unsere damalige Hassfigur Kurras sich nun als Stasi-Spion erweist. Dafür sind wir nicht verantwortlich. Ich finde es allerdings albern, wenn jetzt einige von uns so tun, als würde diese Entdeckung gar nichts bedeuten und hätte seinerzeit keine Wirkungen gehabt. Ebenso albern ist es, wenn andere behaupten, die Geschichte der Achtundsechziger müsse komplett umgeschrieben werden, weil sie völlig anders verlaufen wäre. Nicht alles, aber manches wäre anders gelaufen und viele junge Leute hätten ihre besten Jahre wahrscheinlich nicht in der SEW und der DKP vertrödelt.
Das Interview erschien in der „Welt“ vom 30. Mai 2009