„Reise zu Lena“

Alfred Neven DuMonts spätes Romandebüt  

Es ist kein Zufall, wenn alte und sehr alte Menschen immer öfter zu Hauptpersonen unserer Literatur avancieren. Schon 2005 waren, rechnen die Statistiker vor, 16 Millionen Menschen in Deutschland 60 Jahre oder älter – bald wird es mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung sein, etliche Millionen davon über achtzig. Derart exakte Erhebungen über das Durchschnittsalter von Romanhelden gibt es zwar nicht. Dennoch sollte es niemanden wundern, wenn Schriftsteller nun häufiger aus der Perspektive der Ergrauten und Betagten schreiben. Mit der Alterung des literarischen Personals verschieben sich aber auch die Akzente der Literatur. Der Lebensausblick nimmt eine geringere, der Lebensrückblick eine gewichtigere Rolle ein. Statt des Aufbruchs zu neuen Taten, rückt der Abschied vom Getanen in dem Mittelpunkt. Statt der Frage, wie die Zukunft gestaltet werden soll, die Frage, wie die Vergangenheit zu rechtfertigen ist. Eben jene Motive prägen Alfred Neven DuMonts „Reise zu Lena“. Der Autor, der mit 82 Jahren ein spätes Romandebüt vorlegt, ist ein erfolgreicher Zeitungsverleger, ein veritabler deutscher Pressezar. Sein Held heißt Albert, ist ungefähr ebenso alt wie der Autor und blickt auf eine nicht minder erfolgreiche Karriere als Geschäftsmann zurück. Dennoch wäre es leichtfertig, allzu rasch von Albert auf Alfred schließen zu wollen. Denn Albert, der Romanheld, empfindet sich in der Abenddämmerung seines Lebens als das Opfer der Verhältnisse. Über ihn, den ehemals Entscheidungsgewaltigen und Machtgewohnten, wird nun von anderen fürsorglich verfügt. Noch einmal erlebt er, mit der titelgebenden Reise zu Lena, so etwas wie eine Rebellion gegen diese sanfte Gefangenschaft, doch selbst zu der schwingt er sich nicht aus eigener Souveränität auf, sondern lässt sich zu diesem Ausbruchsversuch von anderen verführen. Der Autor des Buches dagegen beschreibt und reflektiert die Situation seines Helden in einem wunderbar melancholischen, knappen, präzise gebauten Roman, und gewinnt schon damit als Künstler und Mensch eine Souveränität, die seinem Helden verschlossen bleibt. Das Einprägsamste am Auftakt dieses Romans ist – um es auf eine literarische Formel zu bringen – der King Lear-Effekt. Albert, der Held, hat sein Erbe an den Sohn übergeben. Niemand lässt es daraufhin an Respekt vor ihm oder seiner Lebensleistung fehlen. Aber wie die Familie den Entmachteten nunmehr in Obhut nimmt, wie sie für ihn vorgeblich zu sorgen, ihn aber tatsächlich zu entmündigen beginnt, ist letztlich zermürbender als offene Respektlosigkeit, gegen die er sich verwahren könnte. Und natürlich schwingt in dem Eifer, mit dem sich nun alle um den Altgewordenen kümmern, auch etwas von dem unbewussten Bedürfnis seiner Mitmenschen mit, dem ehemals großen, unabhängigen Mann endlich auf Normalmaß zurechtzustutzen und auch einmal das Gefühl von Anhängigkeit spüren zu lassen. Das andere Hauptmotiv des Romans ist das Lebensresümee: Albert, dem so vieles gelang, kann nicht vergessen, was ihm missglückte. Glorie, seine so talentierte und vielversprechende Tochter, versank als junge Frau in Depressionen, aus denen weder der Vater noch die Ärzte sie befreien konnten. Nach wiederholten Aufenthalten in Sanatorien kommt sie während eines Tauchurlaubs ums Leben – ein Unfall, der, so berichtet eine Freundin, vielleicht ein Freitod war. Es gehört zur künstlerischen Aufrichtigkeit dieses Romans, dass er die Leser nicht mit einem begütigenden, versöhnenden Abschluss der Geschichte abspeist. Die Depression der Tochter ist, so wird immer deutlicher, kein Zufall, sondern hat familiäre Vorläufer. Zwar konnte der Vater sich jahrzehntelang durch die Arbeit für sein Unternehmen ablenken. Doch mit dem Rückzug von den Geschäften ist auch seine Depression nicht mehr zu verleugnen. Nur für einen kurzen Moment lässt Neven DuMont gegen Ende des Romans das Bild eines friedvollen Lebensausklangs aufleuchten: Er zeigt seinen Helden zusammen mit der späten Freundin Lena auf einem Waldspaziergang wie Philemon und Baucis in der Abendsonne. Lena presst ihn, im Gegensatz zu Frau und Familie, nicht in die Rolle des gedemütigten Dauerpatienten. Doch Albert fehlen sowohl Mut wie auch Kraft, noch einmal in seinem Leben ein neues Kapitel aufzuschlagen. So wird das angedeutete Altersidyll mit Lena nicht zum kitschigen Abschiedsversprechen des Romans, sondern zur bitteren Erinnerung an ein unerreichtes Glück.

Alfred Neven DuMont: „Reise zu Lena“. Roman
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009 255 S., 19,90 Euro

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