„Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch“

 Gespräch mit Reinhard Kaiser, der den großen Barock-Roman Grimmelshausens in das Deutsch der Gegenwart übertragen hat  

Uwe Wittstock: Grimmelshausens Roman erzählt vom Dreißigjährigen Krieg, einem der zerstörerischsten Kriege, die je in Deutschland und Europa wüteten. Was ist aus dem Roman über diesen Krieg zu lernen?
Reinhard Kaiser: Der »Simplicissimus« handelt ja von Vielem, nicht nur vom Dreißigjährigen Krieg, aber auf den Strecken, wo er es tut, erfährt und spürt man etwas von der Traumatisierung eines ganzen Landes und seiner Bevölkerung und kann sich wohl fragen, ob da nicht bis heute etwas nachwirkt. Die unmittelbare Erfahrung, die der »einfältige« Held von Grimmelshausens Roman macht, scheint die einer Zerstückelung des Erlebens und der Erfahrung zu sein, eines Lebens in der Unberechenbarkeit, im jähen Auf und Ab. Glück und Unglück wechseln einander in unberechenbaren Verwicklungen ab, und überall lauern Gewalt und Lebensgefahr. Das einzig Beständige in dieser Welt ist die Unbeständigkeit.
Wittstock: Der Roman Grimmelshausens ist heute 340 Jahre alt. Er wurde stets hoch gerühmt, aber im vergangenen Jahrhundert wohl immer weniger gelesen – nicht zuletzt weil das Deutsche der Barock-Zeit immer schwieriger zu verstehen ist. Dennoch ist der Simplicissimus, der „Einfältige“, für die Deutschen bis heute eine vertraute Figur geblieben. Wie kommt das?
Kaiser: Ich bin mir nicht sicher, dass er uns eine vertraute Figur ist. Aber sein Name ist weithin bekannt und ebenso der Name seines Schöpfers Grimmelshausen. Deshalb scheint es jetzt vergleichsweise leicht zu sein, sehr plötzlich und ziemlich überraschend ein enormes Interesse für das Buch neu zu wecken, von dem jeder gehört hat, das aber, wie es scheint, viele nicht oder nur in kleinen Ausschnitten gelesen haben. Wittstock: Wie würden Sie den Romanheld Grimmelshausens beschrieben: Ist er ein Eulenspiegel, ein schlitzohriger Schelm, der die Leute hinters Licht führt? Ein Tor und Dummkopf, der einfach Glück hat? Ein heiliger, frommer Narr, der sich auf Gottes Schutz verlässt? Kaiser: Ja, das alles ist er und noch manches mehr. Er ist der Narr, der bisweilen weiser ist als alle anderen um ihn herum. Er ist, als man ihn in eine Kalbshaut steckt, sogar ein Tier, das sich dumm gibt, aber klüger ist als die Menschen, die sich über es lustig machen wollen, und das sich als Tier Freiheiten im Urteilen und Spotten herausnehmen kann, die ein Herr in jener Welt keinem Untergebenen, wohl auch keinem Hofnarren, durchgehen ließe. Wittstock: Auffällig ist, wie oft Simplicissimus in der Not die Kleider wechseln muss. Er trägt Narrenkleider, Frauenkleider, die Uniformen verschiedener Kriegsherren, aber er wehrt sich gegen diese Verkleidungen nicht. Er scheint sich ganz gern in verschiedenen Rollen zu erproben. Ist er damit ein Verwandter von uns heute, die wir ebenfalls in vielen Identitäten zu Hause sein müssen? Kaiser: Mir scheint, das wäre eine etwas abrupte Aktualisierung. Das Spiel mit verschiedenen Rollen ist bestimmt ein zentrales Element im »Simplicissimus« – zu Füßen der grotesken Figur, die uns aus dem Titelkupfer fast zeitlos modern entgegenlächelt, liegen lauter Theatermasken. Aber gespielt wird dieses Spiel und komisch wirkt es, weil in jener Welt die Rollenzwänge ungleich viel größer sind als in der unseren. Da herrschen strikte Kleiderordnungen, und wer gegen sie verstößt, macht sich sogleich zum Außenseiter, zum Sonderling, zum Narren. Wittstock: Einen der zentralen Romane der deutschen Literaturgeschichte aus dem Barock-Deutsch ins Deutsch der frühen 21. Jahrhunderts zu übersetzen, ist ein gewagten Unternehmen. Was war für Sie der schwierigste Punkt dieser Arbeit? Kaiser: Ich habe viele Bücher aus dem Englischen, einige auch aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. Aber für mich war Übersetzen immer eine genuin literarische Betätigung, ein schöpferisches Umgehen mit der eigenen Sprache anlässlich eines Buches in einer fremden Sprache. Und den literarischen Reiz, den das Übersetzen für mich hat, habe ich schon während des Studiums zum erstenmal im Mittelhochdeutsch-Seminar wahrgenommen. Insofern war mir die Idee, in diesem Falle aus dem Deutschen ins Deutsche zu übersetzen, von Anfang an sehr verlockend. Was ich dabei nicht unbedingt erwartet habe: dass diese Übersetzungsarbeit in mancher Beziehung tatsächlich schwieriger war als das Übersetzen aus einer der Fremdsprachen, die mir vertraut sind. Das hing, glaube ich, damit zusammen, dass die Spielräume größer, die Wahlmöglichkeiten zahlreicher und damit die unzähligen Entscheidungen, die man als Übersetzer fällen muss, komplizierter waren, als dies im Umgang mit den anderen Sprachen der Fall ist. Aber auch das machte mir diese Arbeit nur umso interessanter – das Neuerschaffen dieses ungeheuer vielschichtigen alten Texgebildes in einer gegenwärtigeren Sprache und zugleich das abenteuerliche Ausloten und Durchdringen der Sprache des Originals und der Welt, aus der sie stammt und von der sie erzählt. Wittstock: Wenn Ihnen Kritiker vorhalten, ihre Übersetzung könne gar nicht so gut sein wie das Original – was halten Sie denen entgegen? Kaiser: Die Übersetzung eines Textes ist nicht das Original. Wer das Original in seiner ursprünglichen Sprache lesen und verstehen kann und will, bedarf ihrer nicht. Wem die fremde Sprache des Originals nicht verständlich oder so schwer verständlich ist, dass er mit dem Text die Geduld verliert und aufgibt, dem kann eine Übersetzung, wenn sie gelingt, zwar nicht das Original, aber doch einiges von ihm in neuem Gewand vor Augen stellen, kann etwas begreiflich, lesbar, erfahrbar und erlebbar machen. Mir scheint, die Sprache von Grimmelshausens großem Roman ist inzwischen für viele seiner potentiellen deutschen Leser so fremd, dass eine Übersetzung sinnvoll. Wittstock: Wem würden sie heute zur Lektüre des Romans in Übersetzung raten und wem zur Lektüre des Originals? Kaiser: Allen, die vielleicht ahnen, aber noch nicht wirklich realisiert haben, dass Grimmelshausens »Simplicissimus« keine altbackene, abgelebte Scharteke ist, sondern unter die fünf oder zehn bedeutendsten deutschen Romane gehört – durch seine Fülle, seinen sprachlichen Reichtum, seinen Witz, seine literarische Kunstfertigkeit, seine Welthaltigkeit. Wittstock: Als „Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch“ 1668 erschien, wurde der Roman zu einem großen Erfolg. Zu einem so großen, dass sich Grimmelshausen von den Lesern zu einer Fortsetzung der Geschichte genötigt sah. In Hollywood nennt man so etwas heute ein Sequel. Ist das Buch in ihren Augen tatsächlich ein Roman mit genau kalkuliertem Aufbau und Spannungsbogen oder doch eher ein Bündel von abenteuerlichen Geschichten, die nur von der Hauptfigur zusammengehalten werden? Kaiser: Die Geschichte, die das Buch erzählt ist zu unserem Leseglück keine geordnete – sie ist geprägt von jähen Wendungen, von Auf und Ab, von Brüchen und Überraschungen. Mit einem Entwicklungs- oder Bildungsroman im erhabenen Sinne haben wir es hier nicht zu tun. Aber in seinem Aufbau, in der Abfolge von Handlungsstufen, im Spiegeln und Widerspiegeln von Bildern, Motiven und Gedanken ist dieser Roman sehr sorgfältig und umsichtig konstruiert – so sehr, dass man in der Vielfalt der Beziehungen und Verweise immer wieder neue Entdeckungen machen kann. Das gilt zumindest für die ersten fünf Bücher. Beim sechsten Buch, der »Continuatio«, auf die Sie hinweisen, verhält es sich etwas anders. Da hat man den Eindruck, dass der Zusammenhang sich lockert, dass die Konstruktion bisweilen aus den Fugen und ins Provisorische gerät. Aber ich glaube, auch das liegt nicht an einem Mangel an Sorgfalt, sondern daran, dass sich Grimmelshausen im Bewusstsein dessen, was ihm in seinem Werk als Kunststück schon gelungen ist, zuletzt auf ein literarisches Experimentieren in einem ziemlich modernen Sinne einlässt: Er probiert aus, was auf dem Papier mit Buchstaben, Wörtern und Sätzen überhaupt alles möglich ist: die Lebesngeschichte eines Stücks Klopapier, von ihm selbst erzählt. Eine Reise um die Welt auf zweieinhalb Seiten… Wittstock: Grimmelshausen hat nicht alle Episoden seines Romans selbst erfunden, sondern viel von andern Autoren und Dokumenten übernommen. Würde man seinen Roman heute in manchen Passagen ein Plagiat nennen? Kaiser: Wohl nicht. Grimmelshausen schreibt nicht aus dem Leeren heraus. Er verwendet Literatur, er lässt sich von den Werken mancher Kollegen anregen, er stützt sich auf einschlägiges Material – etwa auf Kriesgchroniken seiner Zeit. Er geht mit diesem Material um, wählt aus, verarbeitet es, macht etwas daraus für sein Buch. Auch in Abschnitten, wo er Lesefrüchte und Bildungsschnitze anhäuft, weiß er immer sehr genau, warum er das tut. Auf Zeilenschinderei hat er es nirgendwo abgesehen. Wittstock: Als der Roman „Simplicissimus Deutsch“ 1944 in Schweden in Übersetzung erschien, schrieb Thomas Mann mit Blick auf den vom 2. Weltkrieg zerfleischten Kontinent: „Europa ist heute wieder in der rechten Verfassung für dieses Buch.“ 65 Jahre später sind wir in einer unvergleichbar glücklicheren Lage: Vom Balkan abgesehen schaut Europa heute auf eine der längsten Friedensphasen der Geschichte zurück. Ist uns Grimmelshausens Kriegsroman damit nicht in weite Ferne gerückt? Kaiser: Die Balkan-Kriege sind bei uns nicht in Vergessenheit geraten. Der Irak und Afghanistan sind uns, dank unserer Medien, ziemlich nahe. Eine Weltgegend, in der sich zwei Sekten einer Religion im Namen ihres einen Gottes bis aufs Blut bekämpfen und, indem sie die Auseinandersetzung mit Machtpolitik und Herrschaftsansprüchen verquicken, weite Landstriche und ganze Länder mit einem Grauen überziehen, in dem Massaker, gegenseitiges Abschlachten, Mord und Plündern für Jahre und Jahrzehnte zum Alltag wurden – das war auch unser Deutschland einmal. – Aber nicht nur deshalb gilt der Satz Thomas Manns über die »rechte Verfassung für dieses Buch« auch heute. Es geht auch um die Chance, die Freude und das Glück, ein literarisches Kunstwerk, ein Weltbuch, einen Roman, der zu den großartigsten unserer Literatur gehört, zu entdecken oder wiederzuentdecken. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: „Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch“ Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts und mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2009 762 Seiten, 49,95 €

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