Ansichten vom Schlachtfeld

Paul Michael Lützeler zeigt, welche Rolle der Bürgerkrieg für Schriftsteller heute spielt

Der Literaturbetrieb brummt. Fast 100.000 Neuerscheinungen kommen Jahr für Jahr auf den deutschen Markt. Aber ihre Verweildauer im Buchhandel wird immer kürzer. Früher hatten sie rund sechs Monate, bevor sie von den unvergesslichen Meisterwerken der jeweils nächsten Saison von den Büchertischen geschubst wurden. Heute bleiben ihnen oft nur noch drei Monate. Denn immer mehr Verlage pressen ihre Produktionen inzwischen quartalsweise auf den Markt. Kurz: Der Betrieb ist gefräßig wie nie. Aber, wird überhaupt noch gekaut, was da verschlungen wird? Will sagen: Wer denkt noch nach über all das, was da unausgesetzt über die Verlags-Fließbänder rauscht? Paul Michael Lützeler zum Beispiel, Literaturwissenschaftler an der Washington University in St. Louis, Missouri. Er gehört zu jenen Kennern mit langem Atem, die noch immer mit eingehenden Analysen einen Überblick im Dschungel der Gegenwartsliteratur zu schaffen versuchen, einen Überblick, der über die knappen Wegweisungen des täglichen Rezensionsrummel spürbar hinausgeht. Sein jüngstes Buch „Bürgerkrieg global“ hat er nach thematischen, nicht nach formalen Vorlieben der zeitgenössischen Autoren ausgerichtet: Welche Erfahrungen, Ansichten, Bilder von den Krisenherden und Schlachtfeldern unserer Zeit halten diese Erzähler in ihren Büchern fest? Das Thema ist schon deshalb gut gewählt, weil es naturgemäß einen beträchtlichen existentiellen Ernst einfordert und Autoren wenig Raum für privatistische Unverbindlichkeiten lässt. Es ist so etwas wie eine moralische Nagelprobe für ästhetische Programme, die sich angesichts schwindender universalistischer Gewissheiten eher zu ironischer Relativierungen als zu auftrumpfendem Pathos verpflichtet sehen. Wesentlicher intellektueller Orientierungspunkt bei der Untersuchung der Bücher bleibt für Lützeler der „postkoloniale Blick“ auf die geschilderten Konflikte: „Gemeint ist damit die Sehweise der Empathie, des Verstehenwollens und der transnationalen Anerkennung der Menschenrechte.“ Manche der Romane, denen sich Lützeler widmet, wie Uwe Timms „Schlangenbaum“ oder Nicolas Borns „Fälschung“, stammen noch aus der Zeit, in der die Welt in West- und Ost-Block zerfiel. Die meisten aber sind aus der jüngsten Zeit und spiegeln die, wie Enzensberger sie einmal nannte, „Neue Weltunordnung“ nach dem Ende des Kalten Kriegs. Christian Krachts Roman „1979“ über die islamische Revolution im Iran, Norbert Gstreins Blick auf den Jugoslawienkrieg in „Handwerk des Tötens“ und die Schilderungen des Massenmordes von Ruanda 1994 in „Kain und Abel in Afrika“ von Hans Christoph Buch und „Hundert Tage“ von Lukas Bärfuss sind einige der wesentlichen Bezugspunkte dieser Untersuchung. Bemerkenswert ist daran nicht allein die Sorgfalt, mit der Lützeler diese Romane durchleuchtet, sondern dass er dafür zunächst einmal eine solide Basis schafft, indem er die politischen Entstehungsbedingungen der verschiedenen Kriege nachgeht und ihre entscheidenden Konfliktlinien darlegt. Vor diesem Hintergrund lassen sich dann die ästhetischen Anstrengungen der Autoren, ihren wuchtigen Themen als Romanciers Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, erst in den Feinheiten würdigen. Wer als Schriftsteller auf derart aktuelle und brisante Stoffe zurückgreift, muss es auch ertragen, mit seinem Buch am Gewicht seines Stoffs gemessen zu werden. Lützelers Studie zeigt, wie schwierig und zugleich wie notwendig es für die Literatur geworden ist, ihre eigene, spezifische Position zu politischen Fragen zu formulieren. Die Zeiten, in denen in den Augen vieler Künstler die ästhetische Avantgarde mit der politischen Avantgarde scheinbar problemlos zur Deckung zu bringen war, sind lange verflossen. Wohl kein ernstzunehmender Schriftsteller heute käme auf die Idee, sich als intellektuellen Vorreitern einer Bewegung zu betrachten, die den Wind der Weltgeschichte im Rücken habe. Viel eher sehen sie sich in einem traditionellen literarischen Sinne als Beobachter, die den miserabel Weltzustand beschreiben, ohne ihren Lesern Rezepte für dessen Besserung anbieten zu können. „Sie beschränken sich“ schreibt Lützeler, „auf die faktische Darstellung der Missachtung der Menschenrechte“. In einer Epoche schwindender kultureller Gemeinsamkeiten wirke das allemal überzeugender als jeder Versuch, Menschenrechte universalistisch verordnen zu wollen. Gewinnen also politische Themen ein größeres Gewicht in unserer Gegenwartsliteratur? Die Frage zeigt, welche Bedeutung solche Studien wie die Lützelers haben. Denn in der Flut alljährlicher Neuerscheinungen lassen sich Beispiele für nahezu jede beliebige thematische Vorliebe der Gegenwartsautoren finden. Wer will, kann daraus im Handumdrehen angebliche literarische Trends konstruieren, die schon in der nächsten Saison vergessen und von den nächsten abgelöst werden. Es sind gründliche und genau argumentierende Untersuchungen wie die Lützelers, deren Gedächtnisleistung über die Bücher der jüngsten zwei, drei Jahre hinausgehen, durch die sich einzelne Bücher als relevante Fixpunkte der Gegenwartsliteratur und der literarischen Debatten herauskristallisieren.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 19. Dezember 2009

Paul Michael Lützeler: „Bürgerkrieg global“. Fink Verlag, München 2009 360 Seiten, 29,90 €

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Von der Würde im Arrest

Herta Müllers Nobelpreisrede verrät etwas vom Glauben an die große Kraft der kleinen Gesten  

Ein Moment echter Menschlichkeit. Was ist das? Wie erlebt man ihn? Welche Folgen hat er? Er findet sich kaum in lauten Bekenntnissen zu Humanismus oder Brüderlichkeit. Viel eher begegnet man ihm, da sind sich Schriftsteller quer durch die Literaturgeschichte einig, in winzigen Gesten des Alltags. In kleinen Zeichen der Zuwendung, die nicht ausgestellt, sondern oft fast schamhaft verborgen werden. In die Tradition des Glaubens an die große Kraft der kleinen Gesten ordnete sich jetzt auch Herta Müller ein mit ihrer Nobelpreisrede, die sie, wie der Brauch es will, drei Tage vor der Übergabe der Auszeichnung durch König Carl Gustaf in Stockholm hielt. „HAST DU EIN TASCHENTUCH, fragte die Mutter jeden Morgen am Haustor, bevor ich auf die Straße ging. Ich hatte keines. Und weil ich keines hatte, ging ich noch mal ins Zimmer zurück und nahm mir ein Taschentuch. Ich hatte jeden Morgen keines, weil ich jeden Morgen auf die Frage wartete. Das Taschentuch war der Beweis, daß die Mutter mich am Morgen behütet. In den späteren Stunden und Dingen des Tages war ich auf mich selbst gestellt. Die Frage HAST DU EIN TASCHENTUCH war eine indirekte Zärtlichkeit.“ Herta Müller schreibt, das zeigt ihre Rede eindringlich, eine hoch politische und zugleich hoch poetische Prosa. Sie verwandelt das Taschentuch, das ihre Mutter ihr in unablässiger Fürsorglichkeit jahrelang aufdrängte, nicht in ein pathetisches Symbol, sondern betrachtet es viel eher als ein konkretes Zeichen des Widerstandes gegen die Diktatur Ceausescus, der sie als Kind und junge Erwachsene ausgeliefert war. Denn gestärkt auch durch das Gefühl mütterlicher Zuwendung fand sie die Kraft, an ihrem Arbeitsplatz den Anwerbungsversuch der rumänischen Stasi „Securitate“ zurückzuweisen. Als ihre Vorgesetzten sie daraufhin aus ihrem Büro vertrieben und sie als Übersetzerin im Treppenhaus arbeiten musste, breitete sie tagtäglich ihr Taschentuch auf einer der Stufen aus, bevor sie sich setzte – und konnte so in einer würdelosen Lage einen Rest Würde wahren. Nicht nur im eigenen Schicksal verfolgt sie die große Wirkung kleiner Taschentücher. Sondern auch in dem ihres Schriftstellerfreundes Oskar Pastior, ohne dessen Berichte kurz vor seinem Tod sie ihren Roman „Atemschaukel“ über die sowjetischen Arbeitslager aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht hätte schreiben können. Pastior klopfte, berichtet Herta Müller, als halbverhungerter junger Mann an die Tür einer unbekannten Russin. Sie gab ihm nicht nur Suppe, sondern, als es von seiner Nase in den Teller tropfte, auch ein Taschentuch – ein „weißes Taschentuch aus Batist, das noch nie jemand benutzt hatte. Mit einem Ajour-Rand, akkurat genähten Stäbchen und Rosetten aus Seidenzwirn war das Taschentuch eine Schönheit, die den Bettler umarmte und verletzte, einerseits Trost aus Batist, andererseits ein Maßband mit Seidenstäbchen, den weißen Strichlein auf der Skala seiner Verwahrlosung.“ Fünf endlose Lagerjahre lang bewahrte Pastior dieses Tuch in seinem Koffer und brachte es schließlich nach Hause. Es wurde für ihn, so Herta Müller, zu „Hoffnung und Angst. Wenn man Hoffnung und Angst aus der Hand gibt, stirbt man.“ Herta Müllers Rede dokumentiert zweierlei zugleich. Zum einen den enormen Erfahrungsdruck, dem man unter einem so brutalen Regime wie dem Ceausescus ausgesetzt sein kann und die bewundernswerte menschliche Größe, die von manchen im Widerstand gegen dieses Regime aufgebracht wird. Zum anderen aber auch, wie fern derartige Erfahrungen den Bürgern funktionierender rechtsstaatlicher Demokratien – glücklicherweise – stehen. Als sie, so erinnert sich Herta Müller, den Securitate-Mann zurückwies, der sie anwerben sollte, flüsterte der: „’Dir wird es noch leidtun, wir ersäufen dich im Fluß.’ Ich sagte wie zu mir selbst: ‚Wenn ich unterschreibe, kann ich nicht mehr mit mir leben, dann muss ich es selbst tun. Besser Sie machen es.’“ Aus diesem Entschluss zum Widerstand, aus diesem offenen Nein zur Diktatur, ob es nun die Diktatur Ceausescus oder die der patriarchalischen Provinzgesellschaft des rumänischen Banats war, speist sich Herta Müllers Werk thematisch bis heute. Und die Todesfurcht, mit der sie für diese Entscheidung zahlte, verwandelte sich in ihrem Fall offenkundig zu einem mächtigen Antrieb für ihre Arbeit und ihre literarische Unbeirrbarkeit. Unter den ungleich komfortableren Bedingungen eines Rechtsstaates sind derart extreme Erfahrungen seltener und fast immer privater statt politischer Natur. So macht die Literatur des Westens auf die Leser oftmals einen leichtgewichtigeren, beliebigeren Eindruck. Was die Bewunderung für eine existentielle Entschiedenheit wie die Herta Müllers, für die in unserem Alltag fast keine Notwendigkeit mehr besteht, umso mehr steigert. Selbst Herta Müllers Mutter wurde, bevor ihre Tochter in den Westen emigrierte, für einen Tag verhaftet. Auch sie hatte, erzählt Herta Müller in ihrer großen Rede, an diesem Tag ein Taschentuch bei sich. Nach dem Verhör weinte ihrer Mutter lange. Dann nahm sie das tränennasse Tuch und wischte die Möbel und den Boden des Büros, in das man sie eingesperrt hatte. Ihre Tochter war entsetzt über diese Demutsgeste, doch ihre Mutter antwortete ihr: „’Ich habe mir Arbeit gesucht, dass die Zeit vergeht. Und das Büro war so dreckig. Gut, dass ich mir eins von den großen Männertaschentüchern mitgenommen hatte.’ Erst jetzt verstand ich“ ergänzt Herta Müller, „durch zusätzliche, aber freiwillige Erniedrigung verschaffte sie sich Würde in diesem Arrest.“ Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 9. Dezember 2009

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Yoram

Ulrike Kolb erzählt von einer jüdisch-deutschen Liebe

Carla möchte so gern zu den Guten gehören. Sie ist im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen, geht in den sechziger Jahren zur Universität und fragt, wie ihre Kommilitonen, immer fordernder danach, was die Elterngeneration den Juden angetan hat. Sie studiert Pädagogik und fährt nach Israel, um das Erziehungssystem des Kibbuz kennenzulernen. Dort verliebt sie sich in Yoram, einen jungen Juden, der in Frankfurt aufwuchs und wie sie erfüllt ist von lauter Aufbruchsideen. Gemeinsam gehen sie zurück nach Deutschland, bekommen eine Tochter, Vered, und obwohl Carla genau weiß, dass ein Verbrechen wie der Holocaust lange historische Schatten wirft, scheint sie heimlich doch zu glauben, an der Seite Yorams den finsteren Teil der deutschen Vergangenheit hinter sich gelassen und eine Eintrittskarte in die Welt der Verfolgten, der Opfer, der Guten gezogen zu haben. Aber so einfach ist das nicht. Wie schwierig es vielmehr sein kann, davon erzählt Ulrike Kolb in ihrem Roman „Yoram“. Zu den großen Stärken des Buches gehört die Genauigkeit, mit der es das psychische Spannungsfeld auslotet, in das Carla und Yoram – und später ihre Tochter Vered – geraten. Yorams Mutter zum Beispiel, deren Familie von den Nazis ermordet wurde, ist nicht begeistert, als sich ihr Sohn für eine deutsche Frau und für ein Leben in Deutschland entscheidet. Auch Carlas Familie ist – milde formuliert – nicht frei von Vorbehalten. Mit ihr und mit anderen nicht-jüdischen Freunden kommt es immer wieder zu Debatten über die Vergangenheit oder über Israel, die unversöhnlich bleiben und mit dem Abbruch der Kontakte enden. Mit anderen Worten: Für Carla stellen sich politische und historische Fragen nun mit einer unerbittlichen Direktheit, von der sie sich oft überfordert fühlt. Nicht immer ist Ulrike Kolbs Zugriff auf das Thema originell. So findet auch Carla, wie schon einige Romanhelden der deutschen Nachkriegsliteratur vor ihr, verfängliche Fotos vom geliebten Vater in Wehrmachtsuniform, die ihn in Verdacht geraten lässt, am Massenmord in den KZs beteiligt gewesen sein. Ein Fund, der Carla fast so gründlich ums seelische Gleichgewicht bringt, wie Yorams Mutter es durch die Ermordung ihrer Familie verlor: Beiden zerfällt die Welt in Splitter, die eine zitiert Unzusammenhängendes aus Büchern über Nazi-Verbrechen, die andere notiert schon seit Jahrzehnten beziehungslose Gedanken auf kleine Zettel. Es sind solche Korrespondenzen im Schicksal ihrer Figuren, mit denen Ulrike Kolb die fortwirkenden Folgen des Holocaust kenntlich macht. Schon in ihrem „Roman ohne Held“ schrieb sie von den Wiederholungszwängen innerhalb einer Familie und den „durch die Generationen treibenden Gefühlsströmen“. Auch im Leben Vereds, der Enkelin, finden die Schrecken, die ihre Großmutter erlebten, noch immer ein spürbares Echo. Ob deren Sohn David sich endlich befreien kann? Ulrike Kolb lässt ihren Roman ambivalent ausklingen: Als der kleine David bei seiner Urgrußmutter zu Besuch ist, krabbelt er durch die Wohnung, schiebt er sich ihre Zettel in den Mund und isst sie auf.

Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 5.Dezember 2009

Ulrike Kolb: „Yoram“. Roman
Wallstein Verlag, Göttingen 2009 297 Seiten, 19,90 € ISDN 978-3-8353-0559-5

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„Ich bin gegen jede Kanonisierung“

Die Literaturkritikerin Elke Heidenreich über Musik-Bücher, Marcel Reich-Ranicki und ihren Rückzug aus dem Internet 

Die Kritikerin und Moderatorin Elke Heidenreich (65) führte von April 2003 bis Oktober 2008 durch die ZDF-Sendung „Lesen!“ Nach der Ablehnung des Deutschen Fernsehpreises durch den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki attackierte sie ebenfalls das öffentlich-rechtliche Fernsehen und bot ihre Kündigung an. Seit November 2008 produziert sie „Lesen!“ beim Internet-Literaturportal litCOLONY. Heidenreich, die sich auch als Autorin und Opernlibrettistin einen Namen gemacht hat, startet im Herbst ihre eigene Edition bei Bertelsmann.
Uwe Wittstock: Sie starten keinen eigenen Verlag, aber eine Buchreihe unter Ihrem Namen: Edition Elke Heidenreich. Darin bringen sie nur Bücher, in denen Musik eine wesentliche Rolle spielt?
Elke Heidenreich: Ja, es wird eine monothematische Reihe: Alle vier Monate vier Bücher, in denen Musik oder Musiker im Zentrum stehen. Es ist so ähnlich wie bei dem Verlag Mare, der lauter Bücher über Meer oder Seefahrt bringt. Eine Konzept-Buchreihe: Hier soll jeder, der sich für Lesen und Musik interessiert, blind zugreifen können und sich gut bedient fühlen.
Wittstock: Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Heidenreich: Ich habe immer mit Büchern zu tun gehabt. Das ist mein Beruf geworden. Meine große Liebe war daneben die Musik – wie dilettantisch auch immer. Zwischen beidem gibt es viele Berührungspunkte: Jeder Oper liegt eine Geschichte, ein Drama oder ein Roman zugrunde: Vom Orpheus-Mythos bis Kameliendame. Oder Gedichte werden zu Liedern vertont. Die Musik erzählt im Grunde auch die gleichen Geschichten wie die Literatur: Sie erzählt von Liebe und Tod. Musik ist wie Literatur Trost angesichts der Vergänglichkeit. Als ich dann vor fünf Jahren den Roman „Der Klang der Zeit“ von Richard Powers las, dachte ich darüber nach, wie viele Bücher mit Musik zu tun haben. Dann kam Steven Galloways „Der Cellist von Sarajevo“, dann kam „Konzert für die linke Hand“, ein Buch über Wittgenstein. Da dachte ich, es wäre schön, solche Bücher in einer Reihe zusammenzustellen. Damals wollte mich Random-House für ein Projekt gewinnen, ich sollte Verlegerin werden. Da aber alles Geschäftliche nicht mein Ding ist, kam das nicht in Frage. Dann habe ich diese Buchreihe vorgeschlagen, und das machen wir jetzt zusammen. Hier bin ich zwar Herausgeberin, aber nicht fürs Geld zuständig. So gefällt’s mir. Wittstock: Feinheiten der Musik und ihre Wirkung sprachlich wiederzugeben ist nicht einfach. Da ist der Kitsch immer sehr nah. Auch für große Autoren ist das eine Herausforderung. In welchen Büchern ist das Ihrer Ansicht nach am besten gelungen? Heidenreich: Bei Helmut Krausser zum Beispiel. In seinem großartigen Roman „Die kleinen Gärten des Maestro Puccini“, in dem er über die Affären Puccinis schreibt. Wunderbar. Oder im Sachbuch-Bereich: Oliver Hilmes mit seinen Büchern über den Wagner-Clan. „Herrin des Hügels“ über Cosima Wagner und jetzt sein Buch über „Cosimas Kinder“. Das sind Bücher, in die falle ich richtig hinein und lebe in ihnen. Großartig. Die Familie Wagner ist mindestens so interessant wie die Familie Mann. In der nächsten Staffel meiner Buchreihe habe ich einen Roman, der heißt „Die Geigenlehrerin“. Geschrieben von einer amerikanischen Rock-Musikerin namens Barbara Hall. Sie beschreibt, wie man als Musikerin scheitern kann und sich dann in einem Musikalienhandel verdingen muss, zusammen mit lauter anderen Freaks, die auch gescheitert sind, die glaubten, sie würden so gut Gitarre spielen wie Jimi Hendrix und nun verkaufen sie Kolofonium und Geigensaiten. Toller Roman über’s Musikermilieu. Wittstock: Marcel Reich-Ranicki hat, als er das Literarische Quartett aufgab, einen Kanon der deutschen Literatur in 5 großen Kassetten herausgegeben. Sehen Sie ihre Edition als eine Art Parallel-Unternehmen unter dem Vorzeichen der Musik?
Heidereich: Nein. Ich bin gegen jede Kanonisierung. Und ich bin auch dem Kanon Reich-Ranickis gegenüber skeptisch. Das weiß er. Ich habe ihn damals mit seinem Kanon in der Kölner Oper vorgestellt. Die Kassetten habe ich selbst auf die Bühne geschleppt: 13 Kilo Romane, 7 Kilo Dramen und noch 5 Kilo Essays. Ein verdienstvolles Nachschlagewerk, zusammengestellt nach seinem Geschmack. Für Schüler und Studenten ist das eine feine Sache als erste Orientierung. Doch ansonsten muss sich jeder selbst auf die Suche machen und seine Literatur entdecken: Was passt zu mir, was trifft meinen Geschmack. Ich würde nie einen Musik-Literatur-Kanon machen. Bei mir werden nicht nur die hohen Heiligen der Musikgeschichte vorkommen, nicht nur Bach, Verdi, Puccini, Strauß, Wagner, sondern auch Bücher über Pop-Musik. Wittstock: Wie ist Ihr Verhältnis heute zu Marcel Reich-Ranicki? Sie haben sich ja zerstritten, nachdem Sie ihn wegen seines Auftritts bei der Verleihungsgala zum Deutschen Fernsehpreis und seiner Kritik an vielen Fernsehprogrammen doch eigentlich unterstützt hatten. Heidenreich: Um das in Kurzform zu erzählen: Wir waren jahrelang distanziert befreundet, so befreundet, wie man mit ihm befreunden sein kann. Ich war auf seinen Hochzeitstagen, war mit ihm in der Oper, wir haben uns oft getroffen. Es hat uns viel verbunden und er hat mich nach jeder „Lesen!“-Sendung angerufen und oft gelobt, nur immer gesagt, ich rede zu schnell, und da hat er Recht.
Wittstock: Es wird ihn freuen, dass Sie seine Kritik schätzen. Heidenreich: Dann kam die Fernsehpreis-Verleihung für sein Lebenswerk, und er bat mich, die Laudatio auf ihn zu halten. Das hätte ich auch gern gemacht und habe bei den Veranstaltern der Verleihungsgala angerufen. Doch die sagten mir, die Laudatio hält Thomas Gottschalk. Darauf sagte Reich-Ranicki zu mir: Dann musst Du eben das nächste Mal in die Jury gehen, dann kannst Du auch die Laudatio halten. Aber es war für ihn kein großes Thema, für mich auch nicht: Macht es eben Gottschalk. Wittstock: Wie fanden Sie die Gala? Heidenreich: Zu diesem Verleihungsabend bin nur Reich-Ranicki zuliebe hingegangen, ich hasse solche Veranstaltungen. Es war so unvorstellbar primitiv, das kann man sich als Zuschauer gar nicht vorstellen, weil das Schlimmste natürlich rausgeschnitten wird. Es war unglaublich peinlich. Ich saß hinter Reich-Ranicki und merkte, dass er immer wütender wurde. Mir war klar, der explodiert gleich. Man hat den alten, fast neunzigjährigen Mann drei Stunden warten lassen, bevor er drankam. Als er dann dran war, hat er sofort losgepoltert und den Preis nicht angenommen. Ich fand das wunderbar.
Wittstock: Und Sie polterten mit?
Heidenreich: Sobald ich von der Veranstaltung nach Hause kam, habe ich voller Wut einen Artikel in die Tasten gehauen, gegen diesen Fernsehmist, spontan, undiplomatisch, direkt. Eine Nacht drüber schlafen, wäre wohl klüger gewesen. Weil der Artikel so ein Schnellschuss war, habe ich dann eine Woche später noch einen geschrieben, der etwas ruhiger war. Ich sehe einfach nicht ein, dass jeder Unterhaltungsscheiß die besten Sendezeiten kriegt und die Kultursendungen kommen erst um Halbelf dran. Witzig ist, dass ich zu dieser Zeit schon beim ZDF gekündigt hatte zum Ende des Jahres. Im Überschwang schrieb ich daraufhin in dem Artikel: Schmeißt mich doch raus, mit euch kulturlosen Banausen will ich nichts mehr zu tun haben. Also schmissen sie mich tatsächlich raus mit Pauken und Trompeten. Aber das war wegen meiner Kündigung nicht weiter schlimm für mich. Schlimm war, dass Reich-Ranicki nun seinerseits nachlegte und öffentlich sagte, ich sollte mich nicht wichtig machen, ich sei unverschämt. Er fiel mir in den Rücken, worüber ich mich sehr geärgert habe. Wittstock: Gab es seither Kontakt zwischen Ihnen und Reich-Ranicki? Heidenreich: Drei Wochen später war er auf meinen Anrufbeantworter: Liebste, ruf mich zurück, wir sollten mal wieder etwas zusammen machen. Ich habe ihn nie mehr zurückgerufen. Kurze Zeit später war er bei Beckmann in der Talk-Show und wurde gefragt: Wollen Sie sich denn nicht mit Elke Heidenreich vertragen? Er antwortete: Ich bin ihr ja nicht böse, sie ist mir böse, ich bin jederzeit bereit, mich zu versöhnen. Wenig später war ich bei Beckmann, wurde dasselbe gefragt und sagte: Nein. Und dabei bleibt’s. Ich habe Respekt vor ihm und seinem Lebenswerk. Aber ich war nicht so innig mit ihm befreundet, dass er mir bis auf die Knochen fehlt. Ich will seine vielen kleinen Bosheiten nicht mehr haben, die große Bosheit hat mir gereicht. Aber ich grüße herzlich seine liebe Frau Tosia. Wittstock: Fehlt Ihnen die Fernseharbeit? Fehlt ihnen die Möglichkeit, so viele Zuschauer zu erreichen? Heidenreich: Ja. Fehlt mir. Ich bin mit meinen Buchempfehlungen jetzt ein Jahr lang im Internet gewesen, das lief gut, hat Spaß gemacht, aber ich habe bei weitem nicht die Wirkung, wie früher durch das Fernsehen. Irgendjemand schrieb kürzlich, ich hätte aus dem Internet heraus immer noch größere Wirkung als alle anderen Literatursendungen im Fernsehen. Man sieht es an den Internet-Klicks. Das ist schön. Ich habe viele Leute ans Lesen gebracht, und das macht mir Freude. Die Möglichkeit, sie übers Fernsehen ans Lesen zu bringen, die fehlt mir. Aber nicht unter der Bedingung, dass das ZDF meine Sendung irgendwo spät abends versteckt. Das fehlt mir nicht. Und im Internet höre ich zum Jahresende auf, um mehr Zeit für meine Edition zu haben und um mich mal aus der aktuellen Dauer-Leseschleife auszuklinken.

Das Interview erschien in der „Welt“ vom 26. November 2009

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Wortstoffhof, Wumbaba und das Beste aus meinem Leben als kleiner Erziehungsberater

Axel Hacke auf Tauchfahrt zwischen Kröte und Keller

Die Wirklichkeit nimmt sich gern wichtig. Sie ist eitel wie eine Diva. Immer steht sie da, die Wirklichkeit, reckt sich auf Zehenspitzen, plustert die Backen auf, fuchtelt mit den Händen und will auf keinen Fall übersehen werden. Doch schaut man näher hin, merkt man, wie unbeständig sie ist. Kaum macht man die Augen zu, ist sie weg. Kaum beginnt man, sich was vorzustellen, ist sie plötzlich nur eine von unendlich vielen Möglichkeiten. Kaum schlägt man ein Buch auf, beginnt sie zu verschwimmen und zu verschwinden. Ich möchte hiermit eine neue literarische Maßeinheit vorschlagen: Die kürzeste Entfernung von der Wirklichkeit zur Nicht-Wirklichkeit beträgt exakt ein „Hacke“. Benannt nach Axel Hacke, dem Erfinder zahlloser kleiner Geschichten, die alle in der Wirklichkeit wurzeln, aber auf schnellstem Weg über sie hinausführen. Vor rund zwanzig Jahren begannen Hackes Geschichten zu wuchern. Inzwischen sind sie zu einem ausgedehnten Geschichten-Urwald aufgeblüht. Manche von ihnen sind gar nicht mehr so kurz, sondern gleich mehrere „Hacke“ lang. Einer ihrer frühesten Helden ist ein sprechender, etwas ängstlicher Kühlschrank, der zum festen literarischen Begleiter Hackes wurde. Aber der ist nicht festgelegt auf Küchengeräte mit psychischen Problemen. In seinen Geschichten kommt alles möglich vor: Geldsaft zum Beispiel, oder ein fingergroßer, schrumpfender König, oder ein weißer Neger, dazu ein Sohn namens Luis, Doris Becker, Wutbomben und Liebesraketen, jede Menge Leserbriefe, jede Menge Tiere, Orlando der Vielfache, eine Ehefrau namens Paola, München, sehr viel München sogar, Doktor Leibtrost, Erich Scheitelmüller und ein prächtig sortierter Wortstoffhof. Doch zu dem später. Als die ersten Geschichten zu keimen und sprießen begannen, war Hacke Journalist bei der „Süddeutschen Zeitung“. Das hätte schlecht enden können für die Geschichten, denn nach landläufigem Verständnis geht es beim Journalismus um harte Fakten und nicht um den Versuch, sie auf kürzester Distanz hinter sich zu lassen. Doch Hacke hatte Glück, er bekam von seiner Zeitung eine Kolumne und die Leser damit einen Autor, der ihnen zeigt, wie man sogar mitten zwischen den wichtigsten Nachrichten und Kommentaren der Wirklichkeit eine Nase drehen kann. Hackes Kolumne gibt es bis heute, die ARD hat einiges daraus als Serie verfilmt, und ihre dauerhafte literarische Existenz hat sie in etlichen Büchern Hackes gefunden. Irgendwann einmal kamen in einer seiner Geschichten auch eine Kröte und mehrere Keller vor. Die Geschichte beginnt mit dem denkwürdigen Fragesatz: „Die Keller meines Lebens?“ Danach gibt Hacke dann Auskunft über prägende Kellererlebnisse, als hätte ihn tatsächlich jemand genau danach gefragt. Der Satz verrät einiges über die erzählerische Perfektion und den Witz Hackes. Denn natürlich verfallt kein Mensch je auf die reichlich abwegige Idee, irgendjemanden auf dieser Welt nach den Kellern seines Lebens zu fragen. Doch dieser erste Satz kommt so natürlich und mit so viel Freude an windschiefen Themen daher, dass man sich als Leser erwartungsvoll zurücklehnt und mit einem Mal neugierig ist auf diese Keller. Viel mehr kann ein Erzähler mit einem gerade mal vier Worte langen Eröffnungssatz kaum erreichen. Natürlich sind die Keller dieser Geschichte nicht einfach Keller, sondern so etwas wie das Unterbewusste all der luftig-hohen Wohnungen, in denen man lebt. In Hackes Kellern sieht es, gesteht er, reichlich wirr und wüst aus, und er beneidet die Nachbarn, bei denen es aufgeräumter zugeht. Und dann schreibt er etwas, das für Hackes Geschichten bezeichnend ist: Er schreibt, wie er das Ohr an die Tür legt, hinter der sein Keller-Chaos lauert, und nach den „Geräuschen seiner Unordnung“ lauscht. Das scheint mir eines der Geheimnisse von Hackes Erzählungen zu sein: Wer die Haltegriffe der Wirklichkeit hinter sich lässt – selbst wenn er das nur für Momente wagt – der muss auch den Mut haben, all dem Kuriosen, Abwegigen, dunkel Rumorenden zuzuhören, das in seinen Träumen und Phantasien zum Vorschein kommt. Hacke hat diesen Mut und das macht seine Kolumne zum Logbuch einer Tauchfahrt durch die eigenen Hirngespinste. Nicht alles, was einem dabei begegnet, ist immer angenehm. Hacke weiß das, also kommt in seinen Keller-Bekenntnissen auch ein Bauernhaus vor mit modrigem Lehmkeller. Als er, schreibt er, dessen Tür öffnete „schlug mir ein feuchter Hauch entgegen, ich sah eine riesige, den Raum füllende weiße Kröte sitzen. Sie blickte mich verwundert an und machte ein gurgelndes Geräusch. Ich schloss die Tür und machte sie nie wieder auf.“ Lesern ist das offenbar nicht fremd, im Gegenteil, sie lieben es, wenn Hacke das Nicht-Wirkliche, das Phantastische literarisch in greifbare Nähe rückt. Hacke ist heute kein Journalist mehr, sondern so etwas wie ein Volksschriftsteller: „Am Samstag sagt mir die Gemüsehändlerin auf dem Vikualienmarkt, wie ihr meine neue Kolumne vom Freitag gefallen hat“. Und das, obwohl Hacke kein jovialer Münchner, sondern in Braunschweig geboren und ein eher kühler Kopf ist. Auf Lesetourneen füllt er große Säle quer durch Deutschland. Im Münchner Lustspielhaus steht er monatlich auf dem Programm. Sein „Kleiner Erziehungsberater“, eine Kolumnenreihe, die von dem Dauer-Tumult berichtet, in den Kinder den ganz gewöhnlichen Familienalltag verwandeln, hat sich zu einem kleinen Welterfolg entwickelt: 600.000 Exemplare wurden in Deutschland verkauft, noch einmal so viel im Ausland. Von seinem Buch über den schrumpfenden „König Dezember“ eine halbe Million. Von den Bänden über Herrn Wumbaba etwa doppelt so viel. Womit wir schon fast beim anfangs angekündigten „Wortstoffhof“ angekommen sind. Hackes Leidenschaft, herauszufinden was hinter den Grenzen der Wirklichkeit zu entdecken ist, erstreckt sich nämlich nicht nur auf Phantasie-, sondern auch auf Sprachwelten. Wenn einer etwas sagt und andere ihn verstehen, bleibt in der Sprachwelt alles an seinem Platz. Falls sich aber einer verhört, falls es zu Missverständnissen kommt, dann tun sich mit einem Mal noch nie betretene, ungeahnte Sprachräume auf. Die verzeichnet Hacke in seinen „Handbüchern des Verhörens“, die schon in ihrem Titel den nicht nur farblich bemerkenswerten „Weißen Neger Wumbaba“ führen – der aus Matthias Claudius’ Gedichtzeile „die weißen Nebel wunderbar“ mittels eines prachtvollen Hörfehlers geboren wurde. Wumbaba hat Hacke auch Ärger eingetragen. Um Anstoß am bösen N-Wort im Titel zu nehmen, kamen zu einer Lesung Zuhörer, die weder Ironie noch Spaß verstanden. „Nenn’ mich nicht Neger, stand auf Schildern, die sie sich um den Hals gehängt hatten“, sagt Hacke. Schon am Teint Wumbabas hätten sie erkennen können, dass er dem Reich der Poesie, nicht den Territorien des Rassismus entstammt. Doch da Wumbaba in Hackes Hörfehler-Handbüchern ohnehin nur die Rolle eines einzelnen Beispiels und eines Maskottchens spielt, lieferte er auch in dieser Lesung letztlich keine Munition für den Versuch, selbst das Verhören noch an die Kette politischer Korrektheit zu legen. In seinem „Wortstoffhof“, um endlich zu ihn zu kommen, sammelt Hacke nicht Hör-, sondern Schreibfehler: „Schlecht übersetzte Speisekarten, rätselhafte Schild-Texte, kryptische Gebrauchsanweisungen“. Aus all dem macht er Baumaterial zu den erstaunlichsten und oft sehr komischen Sprachabenteuergeschichten. Nicht um Duden-Genauigkeit geht es ihm, sondern um die Lust am Spiel mit Worten: „Ich halte nicht viel von denen, die das Deutsche ‚pflegen’ wollen, als sei es ein Patient. Oder die nach aussterbenden Wörtern suchen, als sei die Sprache ein bedrohtes Ökosystem und der Verlust des Wortes ‚Backfisch’ dem Aussterben des Kabeljaus gleichzusetzen. In Wahrheit stehen bei uns, wenn ein Wort ausstirbt, doch gleich zwei neue an den nächsten Straßenecke, und noch im letzten Ich-mach-dich-Messer-Dialog zweier Neuköllner Türkenjungs steckt mehr von der Kraft des Deutschen als in den Teilnehmern betulicher Sprachhütertagungen.“ Wer so viele Leser hat, wer so viel Genuss bereitet, wer so viel Vertrauen in die Sprache samt ihrer unordentlichen Schönheit hat – der hatte es in unserem Literaturbetrieb schon immer schwer, Anerkennung zu finden. Bis heute bekam Hacke von den zahllosen deutschen Literaturpreisen keinen einzigen. Keine der fünf Akademien, die sich hierzulande für Sprache, Literatur oder Dichtung zuständig fühlen, hat Hacke bislang zum Mitglied gemacht. Er ist einer der erfolgreichsten Vorkämpfer der Sprachlust, ein Popstar der Wörterliebe, aber der Betrieb zeigt ihm die kalte Schulter. Die Leser haben schnell gemerkt, was für einen Dichter sie in ihm haben. Die Fachleute brauchen länger. Vielleicht sollten sie sich an den heute viel gefeierten Peter Altenberg erinnern, der vor 100 Jahren starb und die Feuilletons seiner Zeit mit kleinen Geschichten belieferte, die Fluchtwege aus der Wirklichkeit wiesen. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen Altenberg und Axel Hacke: Hacke ist besser.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 14. November 2009

Axel Hacke: „Wortstoffhof“. Sprachgeschichten von Äh bis Zeitfenster Kunstmann Verlag, Monchen 2008 223 Seiten, 16,80 € ISBN 978-3-88897-508-0
Axel Hacke & Michael Sowa: „Wumbabas Vermächtnis“. Drittes Handbuch des Verhörens Kunstmann Verlag, München 2009 77 Seiten, 9,90 € ISBN 978-3-88897-555-4
Axel Hacke: „Das Beste aus meinem Leben“. Mein Alltag als Mann Kunstmann Verlag, München 2006 284 Seiten, 9,90 € ISBN 978-4-88897-459-3
Axel Hacke: „Der kleine Erziehungsberater“. Mit Bildern von Michael Sowa. Kunstmann Verlag, München 2006 96 Seiten, 9,90 € ISBN: 978-3-88897-448-9

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Schaukämpfe im KZ

Die Überlebensgeschichte des jüdischen Boxers Hertzko Haft

Es ist eine dieser Geschichten aus dem Holocaust, die einen noch Tage später verfolgen: Hertzko Haft wurde 1925 als Sohn einer armen jüdischen Familie geboren. Mit 15 verschleppen ihn die Nazis in die Arbeitslager Poznan und Strzelin. 1943 wird er ins KZ Auschwitz eingeliefert. Da er jung und stark ist, teilt man ihn den Männern zu, die gezwungen werden, die gerade durch Gas getöteten Menschen in die Öfen des Krematoriums zu befördern. Haft hält die grauenvolle Arbeit nicht durch, bricht zusammen und wird aus purem Zufall nicht getötet, weil ein deutscher Offizier ihn für persönliche Interessen einsetzen will. Erst bringt ihn dieser Offizier in der Baracke unter, in dem die Kleider der Ermordeten nach Wertsachen durchsucht werden und verlangt von Haft, über Wochen hinweg einige der wertvollsten Stücke heimlich für ihn zu unterschlagen. Als der Schmuggel auffliegt, wird Haft fast zu Tode gefoltert, aber von dem Offizier wieder gerettet und in das Nebenlager Jaworzno verlegt. Dort lässt er ihn als Boxer aufstellen, der zur Unterhaltung des Wachen wöchentlich fünf bis sechs weit unterlegene Gegner in einem improvisierten Ring bewusstlos schlagen soll. Haft ist ein athletischer Mann und entwickelt sich zu einem kraftvollen Puncher. Schließlich kann er sogar einen jüdischen Ex-Champion aus Frankreich schlagen, der im Gefolge hoher Militärs zum Schaukampf nach Jaworzno gebracht wurde. Als die sowjetische Armee näher rückt, wird Haft mit anderen Häftlingen in Todesmärschen in weiter westlich gelegene Lager geschickt. Auf einem dieser Transporte gelingt ihm im April 1945 die Flucht. Nach der Kapitulation macht man ihn in Straubing unter der Hand zum Leiter eines Bordells für amerikanische Soldaten, bevor er 1946 in München bei einer jüdischen Boxmeisterschaft siegt und ein paar Monate später in die USA auswandert. Auch hier macht er als Boxer Karriere – und bringt es unter dem Namen Harry ‚Herschel’ Haft 1949 sogar bis zu einem Kampf gegen den späteren Schwergewichts-Weltmeister Rocky Marciano. Allerdings geht er schon in der dritten Runde endgültig zu Boden. Nicht nur, weil ihm Marciano überlegen ist, sondern auch – so hat es Haft dem Autor dieses Buches, seinem Sohn Alan Scott Haft, erzählt – weil ihm drei finstere Männer vor dem Kampf versicherten, ihn umzubringen, fast er Marcianos Sieg gefährdet. Das Buch ist ein knapper Bericht ohne literarische Ambitionen. Er wird abgerundet durch drei Nachworte, in denen Hafts haarsträubenden Erinnerungen von Historikern bestätigt werden. Vor allem die Boxkämpfe im KZ Jaworzno vor johlendem Wachpersonal wirken wie groteske Fantasien Quentin Tarantinos, sind aber im Archiv des Auschwitz-Museums belegt.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 7. November 2010

Alan Scott Haft: „Eines Tages werde ich alles erzählen“. Die Überlebensgeschichte des jüdischen Boxers Hertzko Haft.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Patrick Bartsch. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 191 Seiten, 16,90 € ISBN 978-3-89533-638-6

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„Das Judenauto“

Franz Fühmann zeigt, welche Folgen die Gewöhnung an den alltäglichen Antisemitismus hat  

Gelb, ganz gelb ist das Judenauto. Vier schwarze Gestalten sitzen darin. Sie rollen abends über einsame, entlegene Straßen und schwingen blutige Messer. Selbst vom Trittbrett des Wagens tropft Blut. Denn die vier Juden mit ihren langen Messern fangen Mädchen von der Straße weg und schlachten sie, um das Blut aufzufangen und daraus Brot zu backen, das sie dann bei finsteren Feiern zu Mitternacht essen. Ein neunjähriger Junge hört dieses antisemitische Greuelmärchen, das in leicht modernisierter Form die immer gleichen Motive jahrhundertealter judenfeindlicher Hetze variiert. Die Schauergeschichte wird ihm von seinen Mitschülern in einem kleinen böhmischen Städtchen Anfang der Dreißigerjahre erzählt. Die Kinder sind aufgewühlt, sind entsetzt, aber zugleich schwelgen sie in den blutrünstigen Details, die ein Hauch von Abenteuer in ihr Provinzleben bringen. Und sie glauben jedes Wort. Denn sie kennen sich aus mit den Juden. Zwar sind die meisten noch nie im Leben einem Juden begegnet. Aber von den Erwachsenen haben sie viel über die Juden gehört, und immer wieder das gleiche: Nämlich dass die Juden schuld sind an allem Schlechten in der Welt. Franz Fühmann (1922 – 1984) gehört nicht zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern seiner Generation, aber vielleicht zu den bedeutendsten. Die Geschichte von dem kleinen böhmischen Jungen und seiner Angst vor dem Judenauto zählt zu seinen besten. Sie ist ein Selbstporträt des Autors als Kind. Hier forscht er nach seinen frühesten Erinnerungen und Erfahrungen, die später dazu beitrugen, ihn zu einem willigen Gefolgsmann der Nationalsozialisten werden zu lassen. Ein Thema, dem Fühmann den ganzen Band „Das Judenauto“ widmet: Er schildert eine Reihe von Stationen aus seiner Kindheit und Jugend während Deutschlands dunklen Dreißigerjahren, aus seiner Zeit als Soldat in Hitlers Wehrmacht und als Kriegsgefangener in Stalins Lagern. Und er zeigt, welche katastrophalen Folgen die Gewöhnung an einen allgegenwärtigen, alltäglichen Antisemitismus für ihn letztlich hatte. In Fühmanns Lebensweg spiegelt sich viel von der verheerenden Geschichte der Deutschen während des vergangenen Jahrhunderts. Geboren wurde er nur vier Jahre nach dem Ende des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn in Rochlitz, einer Kleinstadt auf der tschechoslowakischen Seite des Riesengebirges. Seine Familie fühlte sich der deutschen Kultur verbunden und wurde – wie er im „Judenauto“ beschreibt – anfällig für die nationalistische Propaganda der Epoche. Sie betrachtete sich als Opfer politischer Bevormundung und einer feindlichen tschechischen Fremdherrschaft. Als mit dem Münchner Abkommen von 1938 das Sudetengebiet dem Deutschen Reich zugeschlagen wurde, führte Fühmanns Weg folgerichtig in die SA und später in die Wehrmacht als füg- und folgsamer Anhänger Hitlers. Seine frühe politische Verführbarkeit und die Suche nach ihren Ursachen wurden zum literarischen Lebensthema des Schriftstellers Franz Fühmann. Denn seine Anfälligkeit für totalitäre Ideen war mit dem Ende des Krieges nicht überwunden. Wie er in „Das Judenauto“ erzählt und später in seinem autobiografischen Essay „Vor Feuerschlünden“ (1982) aus größerer kritischer Distanz analysierte, wandelte er sich in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zunächst von einem glühenden Anhänger Hitlers zu einem begeisterten Parteigänger Stalins. Obwohl er durch die Kultur des ehemaligen Österreich-Ungarns und die Landschaft des Riesengebirges geprägt war, wählte er aus der Lagerhaft kommend die DDR als das Land seiner Entlassung. Lange versuchte er in der dort herrschenden sehr preußischen Spielart des realen Sozialismus und in den endlosen Waldebenen der Mark Brandenburg eine neue Heimat für sich zu finden. Obwohl Siegmund Freuds Werke in der DDR jahrzehntelang mit großem politischen Misstrauen beäugt wurden und seine Behandlungsmethoden bis zum Fall der Mauer 1989 verpönt blieben, beschäftigte sich Fühmann schon seit den frühen Sechzigerjahren mit der Psychoanalyse. Als Böhme, der noch dazu einige Jahre lang im Jesuiteninternat in Kalksburg bei Wien zur Schule gegangen war, spürte er eine geradezu instinktive Verbundenheit zum Denken Freuds. Daneben wurden seine Zweifel an der DDR immer quälender. Doch als ehemaliger Nationalsozialist hielt er sich lange Zeit nicht für berechtigt, am neuen sozialistischen Staat Kritik zu üben. Diese Zerrissenheit reichte tief: Fühmann betäubte sie lange mit Alkohol, was ihn um ein Haar das Leben kostete. Doch auch hier wurde wiederum die Politik zu einem Wendepunkt seiner Biografie. Als die Truppen des Warschauer Pakts 1968 dem Prager Frühling ein Ende machten, konnte Fühmann seine Sucht überwinden – denn nun, als wieder einmal deutsche Panzer durch die Tschechoslowakei rollten, gestand er sich endlich ein, dass er in den Machthabern der DDR letztlich Diktatoren sah, denen er außer Kritik nichts schuldig war. Man kann das Werk Fühmanns, beginnend mit dem „Judenauto“ als große literarische Selbstanalyse auf den Spuren Freuds lesen. Durch sie machte er sich nicht nur das eigene, vom Totalitarismus verführte Denken bewusst, sondern wurde auch fähig, die Mechanismen einer Erziehung zum Faschismus jenseits alle Theorien mit eindrucksvoller poetischer Kraft zu beschreiben. Ein willfähriger Untertan entwickelte sich zu einem Schriftsteller, der unterschiedlichste Lebensentwürfe und Weltanschauungen nebeneinander als gleichberechtigte Perspektiven auf die Wahrheit gelten lassen konnte. Schon 1980, als die DDR noch neun Jahre zu leben hatte, Fühmann aber nur noch vier, schrieb er: „Unsre Gesellschaft ist pluralistisch, Gottseidank ist sie es, bloß offiziell will man das eben nicht wahrhaben. Die verschiedenen Moralen sind nicht auf 1 Nenner zu bringen, na Gottseidank, und so etwas wie die ‚moralischen Anschauungen unserer Werktätigen‘ gibt es nicht, oder es sind immer die Repräsentanzen des Muffigen, Spießigen, Kleinkarierten.“ Ein deutlicheres Bekenntnis zur offenen Gesellschaft hat es in der Literatur der DDR nicht gegeben. Die Suche nach einer neuen Heimat war, gestand sich Fühmann gegen Ende seines Lebens ein, sowohl in politischer wie persönlicher Hinsicht gescheitert. Er fühlte sich, schrieb er in einem erst postum veröffentlichten Tagebuch, im realsozialistischen Preußen so fremd wie auf der Rückseite des Mondes.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 31. Oktober 2009
Franz Fühmann: „Das Judenauto“ Welt-Edition, 2009 205 Seiten, 9,95 € ISBN 978-3941711235

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Das Haus am Ende der Insel

„Blut im Wasser – Alexander Schimmelbusch erzählt von der Sinnsuche reicher Erben

Goethes Werther hat nicht nur in Liebes-, sondern auch in ökonomischen Fragen eine empfindsame Seele. Die Welt läuft, schreibt er, letztlich „auf eine Lumperei hinaus, und ein Mensch, der um anderer Willen, ohne dass es seine eigene Leidenschaft, sein eigenes Bedürfnis ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst etwas abarbeitet, ist immer ein Tor.“ In diesem Sinne sind die Figuren Alexander Schimmelbuschs späte Nachfahren Werthers. Wie ihr Urahn sehen sie keine Leistung, sondern eine Schande darin, das Leben beim ewigen Affenrennen nach Geld oder Ehre zu vertun. In seinem ersten Roman „Im Sinkflug“ bedachte Schimmelbuschs Held die damals noch als Idole des Erfolgs verehrten Investmentbanker mit hinreißenden Hasstiraden. Denn er sah in ihnen den Inbegriff blinder, komplett sinnfreier Vorteilsgier. Bei seinem Erscheinen 2005 fand das Buch wenig Beachtung. Heute, vier Jahre und eine Bankenkrise später, könnte es wohl mit spürbar höheren Sympathiewerten rechnen. Auch die beiden Hauptfiguren aus Schimmelbuschs neuem Roman „Blut im Wasser“, mit dem er auf der Buchmesse 2009 den ersten Preis der Hotlist, den Buchpreis der unabhängigen Verlage, gewann, haben mit traditioneller Lohnarbeit nichts im Sinn. Allerdings fällt ihnen der Verzicht darauf ebenso leicht wie dem Helden des Erstlingsromans. Denn sie alle sind Erben steinreicher Familien und verfügen, selbst wenn sie lebenslang nicht einen Finger krumm machen, über sämtliche Segnungen des Luxus‘ und des Wohllebens. Doch andererseits: Da sie allen Sorgen um die tägliche Existenzsicherung enthoben sind, stellt sich für sie die Aufgabe, ihrem Dasein eine Bestimmung zu geben, die auf Selbstverwirklichung und nicht auf eine der von Werther schon verachteten Lumpereien hinausläuft, besonders deutlich und ungeschminkt. Natürlich wäre es leicht, sie als verwöhnte Snobs abzutun, denen sie oft genug zum Verwechseln ähnlich sehen. Doch damit machte man es sich zu einfach und verfehlte das Thema, von dem Schimmelbusch erzählen will. Wie gestaltet man sein Leben sinnvoll, wenn man nahezu alle materiellen Möglichkeiten hat? Wenn es ausschließlich darum gehen muss, den eigenen Leidenschaften zu folgen? Für Alex und Pia, die beiden Hauptfiguren des neuen Romans, scheint sich diese Frage schnell entschieden zu haben. Kaum sind sie sich begegnet, kommen sie mit allen Anzeichen bemerkenswerter Frühreife zu der Überzeugung, einander in tiefer Liebe verfallen zu sein. „Von Anfang an“, erinnert sich Pia, „wollte Alex mit mir schlafen, bedrängte mich regelrecht, charmant zwar, aber bestimmt. ‚Wir sind doch erst zehn‘, gab ich zu bedenken und Alex sagte: ,Wir haben keine Zeit zu verlieren.'“ Der Beifall Werthers wäre ihnen sicher: Eine intensiv gelebte Liebe als Daseinssinn und Selbstverwirklichung. Als die Romanhandlung einsetzt, sind die beiden längst erwachsen, leben in Amerika und haben sich schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Pia hat ihre Eltern und ihre Schwester verloren und erfährt nun von ihrem Arzt, dass sie todkrank ist und ihr wenig Zeit bleibt. Alex lässt es sich gut gehen. Er hat es sich als gebildeter, etwas hochnäsiger Playboy bequem gemacht – auch wenn er sich bei seinen sexuellen Eroberungen inzwischen gehörig langweilt. Es ist Winter, New York versinkt im Schnee, und sowohl Pia wie auch Alex entschließen sich unabhängig voneinander, aus entgegengesetzten Richtungen zu Alex‘ Landhaus bei Montauk an der Nordostspitze Long Islands aufzubrechen. Im raschen Wechsel zwischen Pias und Alex‘ Perspektive erlebt der Leser mit, wie sich die beiden einander annähern. Und vor allem durch Pias Erinnerungen klärt sich, weshalb es vor Jahren zu dem Zerwürfnis zwischen ihnen kam, das sie beide aus der Bahn warf. Das Ganze wird durchaus spannend erzählt. Doch ist es zugleich ein wenig sentimental und melodramatisch: die verunglückte Liebe der beiden, die ausweglos tödliche Erkrankung Pias und die unabgesprochenen Entscheidungen, nach Montauk zu reisen, durch die ausgerechnet zu Weihnachten ein Wiedersehen der ehemaligen Geliebten möglich werden könnte. Im Vergleich dazu war der Erstling Schimmelbuschs kaltschnäuziger und vor allem ironischer – was dem Thema gut tut, denn natürlich ist eine derart komfortabel abgefederte Lebenssinnsuche ebenso tragisch wie komisch zugleich.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 24. Oktober 2009

Alexander Schimmelbusch: Blut um Wasser. Roman
Verlag Blumenbar, München 2009 127 Seiten, 17,90 Euro. ISBN 978-3-936738-58-2

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„Ich weiß, was es Sie kostet“

Ansichten von einer Buchmesse der ernsten Töne: Herta Müller und China

Herta Müller kommt. Herta Müller kommt nicht. Herta Müller muss Termine auf der Messe absagen wegen Krankheit. Herta Müller kommt trotz Krankheit. Herta Müller war nicht krank, hatte nur einen kleinen Infekt. Herta Müller ist da. Herta Müller hält alle Termine ein. Herta Müller weint. Um Oskar Pastior, ihren Freund und Mitautor, der 2006 während der Buchmesse starb. Die Nachrichtenagenturen halten einen auf den Laufenden und ganz schön in Atem. Einer Literaturnobelpreisträgerin geschieht nichts, was nicht eine Nachricht wäre. Sie tut nichts, lässt nichts, weint keine Träne, ohne dass uns das mitgeteilt würde. So sind die Gesetze des Ruhms. Und auf den Ruhm, auf den Lorbeer im Haar, zielt traditionell die Arbeit der Dichter. Also dürfen sie sich nicht beklagen, wenn der Ruhm eintrifft. Herta Müller beklagt sich nicht. „Noch ein, zwei Wochen, dann ist das alles wieder vorbei. Die anderen sind, glaube ich, viel aufgeregter als ich.“ Sagt sie zum Moderator in einem dieser fröhlich bunten Messe-Fernsehstudios, die für fünf Tage aus Sperrholz und Plastik zusammengeleimt werden. Sie ist eine kleine, schmale Frau. Ganz in Schwarz mit schwarzbraunem Haar gibt sie einen kräftigen Kontrast ab zu den knalligen Kulissen. Anfangs kann man sie noch sehen. Dann rücken die Kameras näher, wächst die Menschentraube, recken sich die Fotografen und sie verschwindet dahinter. Wer trotzdem noch was sehen will, muss auf die Flachbildschirme schauen, die überall flimmern und sieht mittags in Frankfurt schon, was am Abend alle überall sehen. Geduldig kämpft sich Herta Müller durch die Fragen. Lächelt, wenn es um den Preis geht, ist ernst, wenn es um Literatur geht, wird noch immer zornig, wenn sie sich an die Jahre erinnert, in denen sie in Rumänien den Gangstern der Securitate Ceauseşcus ausgeliefert war. Die konnten sie „nicht unter die Erde bringen“, sagt sie, obwohl sie Bücher schrieb, die das Regime nicht mochte. Denn ihre Bücher wurden auch im Westen gelesen und kriegten im Westen Preise. Also wusste das Regime, dass es nach ihrem Schicksal gefragt werden würde, falls Herta Müller verschwände. Ausländische Aufmerksamkeit bedeutete Schutz. Sagt sie, wartet, bis Kameras abgeschaltet werden, schlüpft durch das Gedränge, geht zwei Hallen weiter zum Stand der exilchinesischen Zeitung „The Epoch Times“ und wartet, bis die Kameras wieder eingeschaltet sind. „Ich bewundere Sie“, antwortet Herta Müller auf die allzu ehrfürchtigen Fragen chinesischen Autoren, die Bücher schreiben, die das Regime ihres Landes nicht mag: „Ich kann mir vorstellen, was es Sie kostet.“ Der Stand ist eng wie ein überfüllter Bus, in dem alle auf eine kleine schwarze Gestalt starren: „Ich habe einfach Glück gehabt, das Glück die Diktatur zu überleben, sie ist vor mir gestorben.“ Jemand hält ihr eine Resolution hin zugunsten des Menschenrechtsanwalts Gao Zhisheng, der in Haft gehalten und gefoltert werde, heißt es. Herta Müller unterschreibt. Ausländische Aufmerksamkeit bedeutet Schutz. Minuten später ruft die PR-Agentur an, die für das Ehrengastland China die Öffentlichkeitsarbeit betreut. „Liu Binjie, Minister für Presse und Propaganda lädt zur Pressekonferenz ein.“ Der Chef der chinesischen Zensurbehörde persönlich werde, nachdem die offiziellen Vertreter Chinas in den Tagen zuvor Interviews abgesagt haben, Auskunft geben über seine Eindrücke von der Messe. Er „steht Medienvertretern gerne für Fragen zur Verfügung“. Tatsächlich wird sein Namensschild von einer freundlichen Chinesin auf das Podium im chinesischen Forum gestellt. Dann kommt einer ihrer Kollege, redet auf sie ein und sie nimmt das Schild wieder vom Tisch. Was folgt, erinnert an Pressekonferenzen während der achtziger Jahre, als die Länder des damaligen Ostblocks auf der Messe den „Medienvertretern gerne für Fragen zur Verfügung“ standen. Drei Herren aus dem Presse- und Propaganda-Ministerium nehmen Platz und halten Referate nicht über ihre Eindrücke von der Messe, sondern über die Produktionsziffern ihres Landes, über Urheberrecht oder über Leseförderung in der chinesischen Provinz. 45 Minuten sind vorgesehen für ihren Austausch mit den Journalisten – über die Hälfte davon füllen spielen mit ihren Einleitungsmonologen. Dann die Fragen. Die Mikrophone gehen gleich an Journalisten aus China, die sich nach Details aus den Referate erkundigen und danach, mit welchen Entscheidungen es der chinesischen Regierung gelang, die Produktionsziffern der Druckindustrie so vorbildlich zu steigern. Als dann doch eine deutsche Journalistin das Mikrophon erhält, fragt sie nach Aufklebern, die sich auf Büchern aus Taiwan finden, und jede möglicherweise im Buch enthaltene Kritik an der Ein-China-Politik zurückweisen. Sie wird darüber belehrt, dass Taiwan noch nie ein unabhängiger Staat gewesen sei. Dann ist die Gunst der Gelegenheit groß und das Mikrophon wird mir überreicht. Ich frage, was Liu Xiaobo, dem 2008 festgenommenen Präsidenten des unabhängigen chinesischen PEN, vorgeworfen werde und weshalb er noch immer in Haft sei. Der Blick der Herren nimmt Maß und ein abschätziges Lächeln geht ihnen leicht von den Lippen. Vor dem Gesetz, so wird mir beschieden, seien in China alle Menschen gleich und falls ich wissen wolle, was Einzelnen vorgeworfen werde, solle ich mich doch bitte bei der Polizei erkundigen. Man muss es gesehen haben, wie die Herren nach der Konferenz von ihren Kollegen umringt aus dem Saal treten. Wie sie lachen, wie sie feixen, wie der eine dem andern anerkennend gegen die Schulter knufft: Gut gemacht, prima gelaufen. Plötzlich glaubt man zu verstehen, weshalb Herta Müller noch zwanzig Jahre später zornig ist, sobald sie nur daran denkt. Und man beginnt zu ahnen, was es kostet, sich solchen Leuten in den Weg zu stellen, an einem Ort, an dem sie noch immer fast alle Machtmittel in Händen halten.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 17. Oktober 2009

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Gier nach Menschenfleisch

Hans Christoph Buch erzählt von einer politisch äußerst unkorrekten Reise um die Welt

Wissen wir, wie es in der Welt zugeht, nur weil sie uns täglich übers Fernsehen ins Haus geliefert wird? Wissen wir, was Krieg ist, nur weil wir in den Zeitungen die Meldungen über Afghanistan lesen? Hans Christoph Buch ist einer der wenigen deutschen Schriftsteller, die sich ihre Meinung zu den Konfliktherden unserer Zeit nicht nach Aktenlage bilden, sondern der als Reporter in Kriegs- und Krisengebiete reist, um sich selbst ein Bild zu machen. „Es gibt“, schrieb er in seinem beeindruckenden Reportagen-Buch „Blut im Schuh“ (2001), „existentielle Herausforderungen, denen ein Autor sich stellen muss, wenn er etwas über sich und die ihn umgebende Welt herausfinden will, was er nicht schon vorher gewusst hat. Ich rede von Grenzsituationen wie Geburt und Tod, Gefängnis und Exil, Folter und Krieg, die man, weil die Einfühlung versagt, nicht zu Hause am Schreibtisch nachvollziehen kann.“ Das klingt heroisch, ist aber, genau betrachtet, ein zweischneidiges Unterfangen. Denn auch wenn ein Schriftsteller zu den Schlachtfeldern dieser Welt mit dem respektablen Ziel fährt, die Öffentlichkeit mit ungefilterten, authentischen Erfahrungen zu konfrontieren, ist ein solcher Konflikttourismus dennoch nie frei von fragwürdiger Sensationsgier und Abenteuerlust. Buch ist ein intelligenter Autor, und also ist ihm dieser Aspekt seiner Reisen nicht entgangen. Er spricht davon, einer „Sucht“ verfallen zu sein nach jener Erlebnisintensität, die sich bei Kampfhandlungen und in katastrophalen Ausnahmesituationen oft herstellt, und gegen die der Alltag in gut geordneten gesellschaftlichen Verhältnissen belanglos und fade wirken kann. Doch das ist nicht alles. Exotik und Erotik sind zwar keine Schwestern, aber dennoch verwandt. In der Sehnsucht nach fernen Länden schwingt nur zu oft etwas von sexueller Entdeckungslust mit. Umso mehr, wenn das Reiseziel von Not oder Chaos gezeichnet ist und die Zügel der Zivilisation, die das Triebleben sonst an die Kandare nehmen, sich dort spürbar gelockert haben. Vom Ausnahmezustand zur Ausschweifung ist es kein so weiter Weg, wie es auf dem ersten Blick den Anschein hat. Doch davon liest man nicht allzu häufig bei Kriegberichterstattern, denn auf niemanden wirft es ein vorteilhaftes Licht, wenn er in fernen Weltgegenden angesichts des nackten Elends dort ausgerechnet seine Gier auf nackte Haut auslebt. Hans Christoph Buchs neues Buch „Reise um die Welt in acht Nächten“ legt in diesem Punkt allerdings auffällig wenig Scheu an den Tag. Es nennt sich im Untertitel „Abenteuerroman“, auch wenn sich die acht Kapitel fast immer wie literarischen Reportagen lesen. Jedes Kapitel berichtet von einer anderen Reise, mal nach Bombay oder Islamabad, mal nach Mali oder Haiti, mal in den Senegal oder den Kongo. Doch ihr jeweiliges Hauptthema sind nicht die bereisten Länder, sondern ist letztlich der Erzähler selbst, der allerdings gegen Ende behauptet, gar nicht von eigenen Abenteuern zu berichten, sondern von denen eines Doppelgängers namens „Dschungel-Rudi“. „Jede Reise ist ein Fluchtversuch aus dem Gefängnis der Identität“, heißt es in diesem Roman und passend dazu betreibt das Buch ein Verwirrspiel der Identitäten. Schon deshalb muss man sich hüten, die darin geschilderten Träume, Phantasien oder auch Erlebnisse seinem weltreisenden Autor persönlich zuzurechnen. Dennoch ist es ein Schock, im Reportage-Ton und aus der Ich-Perspektive von der makaberen Attraktivität einer an AIDS-infizierten Prostituierten in Mali zu lesen, von der Verführungskraft indischer Transvestiten, Hijas genannt, von Eskapaden mit minderjährigen Mädchen (in Bombay) und Jungs (auf Haiti), oder vom (halluzinierten?) Mord an einer Zwölfjährigen in einem von Kakerlaken und Mäusen überschwemmten Hinterhaus irgendwo im pakistanischen Peshawar. Natürlich geht es in den acht Geschichten nicht immer nur um Sex, immer aber um radikale Grenzverletzungen. So macht sich der Ich-Erzähler, animiert von dem reißerischen Gerücht, im Kongo gebe es auch heute noch Kannibalen, während seiner Reise durch das zentralafrikanische Land auf die Suche nach schmackhaft zubereitetem Menschenfleisch. Falsch wäre es, das alles wortwörtlich als Tatsachenberichte zu verstehen. Viel eher sind es Versuche, all den exotischen Ländern, die durchs Fernsehen eine scheinbare Vertrautheit gewonnen haben, mit den Mitteln literarischer Vorstellungskraft wieder einen Hauch ihrer schockierenden Fremdheit zurückzugeben. Eine Fremdheit, die bei dem Reisenden mit den vertrauten Grenzen auch die moralischen Standards fortschwemmen kann.

Die Artikel erschien in der „Welt“ vom 17. Oktober 2009

Hans Christoph Buch: Reise um die Welt in acht Nächten. Ein Abenteuerroman
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009 255 Seiten, 19,90 € ISBN 978-3-627-00164-3

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