Mannheim bringt die „Freie Sicht“ von Marius von Mayenburg erstmals auf eine deutsche Bühne
Wie entsteht ein Gerücht? Woraus speist sich ein Klima der Angst? Was lässt das Gefühl diffuser Bedrohtheit entstehen? Die berühmte Karikatur „Das Gerücht“ von A. Paul Weber zeigt ein lindwurmartiges Monstrum, das durch Straßenschluchten huscht und aus den offenen Fenstern buchstäblich durch die Leiber der Hausbewohner gespeist wird. In dem Stück „Freie Sicht“ des 1972 in München geborenen Dramatikers Marius von Mayenburg verhält es sich ähnlich. Das Personenverzeichnis führt keine individuellen Rollen auf, sondern nur einen anonymen „Schwarm“ von Stimmen. Diese Stimmen lassen in hektischem Satz-Pingpong erkennen, wie sich in einer gesichtslosen Gruppe eine Atmosphäre der Besorgnis und Furcht bis an die Grenzen zum Wahn aufschaukelt. Bezeichnenderweise hat Mayenburg das Stück nicht allein geschrieben. Es beruht auf Material, das bei Improvisationen in Melbourne, Australien, während eines Workshops entstand, an dem neben dem Autor ein Regisseur, ein Bühnenbildner und fünf Schauspieler beteiligt waren. Ein Kollektiv entwickelt einen Text über die Dynamik in einem Kollektiv. In Australien wurde das Stück auch 2008 uraufgeführt, das Mannheimer Nationaltheater stellte es jetzt unter der Regie seines Schauspieldirektors Burkhard C. Kosminski erstmals auf eine deutsche Bühne. So lohnend der Ansatz von Mayenburgs „Freier Sicht“ auf den ersten Blick wirkt, so gründlich wird er gleich wieder entwertet. Denn der konturlose Stimmen-Schwarm fühlt sich durch ein Päckchen bedroht, dass ein zehnjähriges Mädchen auf irgendeinem Parkplatz in einem von Überwachungskameras beobachteten Mülleimer geworfen hat. Da aber die terroristischen Potentiale vorpubertärer Schulmädchen bekanntlich nicht sehr ausgeprägt sind, verwandelt wird das Stück damit in eine eindimensionale Satire auf eine maßlos übertriebene Sicherheitshysterie. Die Gruppen-Angst und ihre Entstehung werden nicht analysiert, sondern denunziert, aus den Figuren werden Schießbudenfiguren. Kosminski Inszenierung gibt dem Ganzen den Rest. Statt einen ungreifbaren Stimmen-Schwarm auf die Bühne zu bringen, arbeitet er aus dem Satz-Gewirr des Textes individuelle Charaktere heraus und teilt seinen Akteuren traditionelle Rollen zu. Damit landet das Stück auf dem Niveau eines mäßig amüsanten und auf siebzig Minuten überdehnten Kabarett-Sketches. Auch der Versuch, das Stück durch Videoeinspielungen zu einem Theater-Kommentar auf Amokläufe in Schulen umzudeuten, rettet hier nichts mehr. Passend dazu ergreifen die Schauspieler die Gelegenheit und chargieren streckenweise auf Teufel komm raus. Sven Prietz und Klaus Rodewald versuchen ihren Figuren wenigstens gelegentlich ein Funken von Glaubwürdigkeit zu verleihen, aber sie kämpfen auf verlorenem Posten. Ganz am Schuss, als die sehr junge Jenny König den Monolog eines hoffnungslos traurigen Mädchens spricht, flackert für Sekunden so etwas wie ein Bühnen-Zauber auf. Für einen ganzen Theaterabend ist das zu wenig.