Der Roman als Versuchsanordnung: Thomas Glavinic fragt, was geschieht, wenn plötzlich alle Träume wahr werden
Das Motiv ist so alt wie die Märchen. Jonas, ein Mann mittleren Alters, kommt aus dem Büro irgendwo in Wien. Er hat den Geburtstag eines Kollegen gefeiert und ist leicht angetrunken. Auf der Straße spricht ihn ein Unbekannter an, der genau über seine Lebensverhältnisse orientiert ist, ja sogar von seinen Seitensprüngen mit der verheirateten Marie weiß. Doch der Unbekannte – er riecht nach Bier und macht mit Goldkettchen und verspiegelter Sonnenbrille einen reichlich unseriösen Eindruck – will Jonas nicht erpressen. Vielmehr kündigt er wie eine Märchenfee an, Jonas drei Wünsche seiner Wahl zu erfüllen. Natürlich nimmt Jonas den Kerl nicht ernst, aber um ihn endlich loszuwerden, antwortet er, was Kinder gern antworten, wenn man ihnen beliebige Wünsche freistellt: „Ich wünsche mir, dass sich alle meine Wünsche erfüllen. Dies ist mein erster Wunsch, und auf die anderen zwei kommt es nun nicht mehr an, ich schenke sie Ihnen.“ „Das Leben der Wünsche“, das neue Buch des Österreichers Thomas Glavinic, hat von den ersten Seiten an etwas von einem literarischen Versuchsaufbau: Was geschieht, wenn für einen Romanhelden plötzlich alle Wünsche wahr werden? Schon Glavinics Roman „Die Arbeit der Nacht“ von 2006 war eine solche Versuchsanordnung mit erzählerischen Mitteln: Was geschieht, wenn ein Romanheld plötzlich feststellt, dass er der letzte Mensch ist? Auch hier hieß der Held Jonas, lebte in Wien und hatte eine Geliebte namens Marie. Doch im damaligen Buch wurde Jonas von mysteriösen Mächten eben nicht beschenkt, sondern beraubt: Er erwacht eines Morgens und stellt fest, dass außer ihm alle Menschen verschwunden sind. Jonas beginnt eine panische, hilflose Suche, die Glavinic geschickt mit Spannungs- und Schauereffekten garniert. Doch wohin Jonas auch kommt, er begegnet immer nur den eigenen Spuren, immer nur sich selbst, er ist und bleibt der einzige Mensch weltweit. Im neuen Roman Glavinics sind Wien und der Rest der Welt wieder normal bevölkert. Beschäftigt mit gewöhnlichen Sorgen im Beruf, mit dem Kummer über die ständig keifende Ehefrau und mit der Sehnsucht nach seiner Geliebten Marie, hat Jonas die seltsame Begegnung mit dem geheimnisvollen Unbekannten bald vergessen. Er kommt gar nicht auf die Idee, dessen Versprechungen einlösen zu wollen, er lebt vielmehr ein aufs Durchschnittsmaß herabgedimmtes wunschloses Unglück. Allerdings muss man kein sehr eifriger Leser Sigmund Freuds sein, um zu wissen, wie viele Begierden und Begehrlichkeiten im Unbewussten auch (oder gerade) dann sprießen, wenn das Bewusstsein konkrete Wünsche gar nicht registriert. Zuerst stirbt Jonas’ Frau. Sie liegt plötzlich tot in der Badewanne. Bei der Autopsie wird Herzversagen festgestellt: „Es hat einfach aufgehört zu schlagen.“ Der Schock ist groß und Jonas’ Trauer ebenso. Noch begreift er die Verbindung zu der ihm verliehenen Wunschmacht nicht. Auch als ein von ihm bewunderter Kollege und dessen Frau ihn zu sexuellen Feierabendvergnügungen zu dritt auffordern, oder als Marie sich endlich von ihrem Mann trennt und sich für Jonas entscheidet, ahnt der noch nichts. Doch manches ist einfach zu seltsam und irritierend, als dass es sich als natürlicher Zwischenfall abtun ließe. Eines Nachts zum Beispiel, als Jonas nicht schlafen kann, steht plötzlich die Straße vor seinem Haus unter Wasser, ohne dass irgendjemand erklären könnte, woher das Wasser kam. Als Jonas schließlich die Zusammenhänge begreift, versucht er seine Fähigkeiten gezielt einzusetzen und zum Beispiel eine vom Krebs gepeinigte Freundin vor ihrer Krankheit zu retten. Doch all das ändert wenig an seinen unbewussten Wünschen, und da er die naturgemäß nicht kontrollieren kann, steuert die Geschichte für ihn, und nicht nur für ihn, unaufhaltsam in die Katastrophe. Ein Problem des Buches liegt nicht zuletzt darin, dass man als Leser in jeder Romanhandlung instinktiv nach Symbolen, verborgenen Zusammenhängen oder versteckten Bedeutungen fahndet. Anders als Jonas hält man also gleich nach dessen Begegnung mit der recht schlawinerhaften männlichen Wunschfee Ausschau nach Indizien, ob und auf welche Weise sich die Träume des Helden realisieren – und hat deshalb lange vor ihm begriffen, wie der Hase läuft. Glavinic ist ein fähiger Erzähler und es gelingt ihm, mit allerlei rätselhaften Andeutungen und überraschenden Wendungen auch dann noch für Spannung zu sorgen, wenn man das Erzählprinzip längst durchschaut hat. Ein wenig fad und schmalspurig kommt einem Jonas dennoch vor. Wie schon in „Die Arbeit der Nacht“ wird er von spätpubertären Phantasien verfolgt, in denen er die Rolle eines Auserwählten spielt, eines Mannes, der knapp irgendwelchen Schicksalsschlägen entkommt oder als einziger schreckliche Unglücksfälle überlebt. In gewisser Hinsicht erforscht Glavinic in beiden Romanen die Welt des narzisstischen Charakters: Ob nun Jonas die Rolle des letzten verbliebene Menschen spielt, oder ob buchstäblich alles den Befehle seiner bewussten oder unbewussten Wünschen gehorcht – in beiden Büchern dreht sich für Jonas die ganze Welt um Jonas und mit einiger Verblüffung registriert er hin und wieder mal, dass es neben ihm auch andere Menschen gab oder gibt. Viel zu lachen hat der Leser bei all dem nicht. Was schade ist. Zur Hauptfigur seines Romans „Das bin doch ich“ hatte Glavinic 2007 einen Wiener Schriftsteller gemacht, der den Namen Thomas Glavinic trägt und ihm ähnelt wie ein Ei dem anderen. Aus der im Literaturbetrieb nicht selten anzutreffenden, ein wenig unreifen Neigung zu Narzissmus, Egozentrik und Hypochondrie macht er hier eine federleichte, aber hochkomische Milieustudie. In den beiden andern Romanen macht er aus dem gleichen Material literarische Versuchsanordnungen, die sich zu Tragödien von Weltmaßstab entfalten. Das wirkt auf den ersten Blick gewichtiger. Besser ist es nicht.
Thomas Glavinic: Das Leben der Wünsche. Roman
Hanser Verlag, München 2009 319 Seiten, 21,50 €