Vom Glück, nein zu sagen

Mehr als ein Wahltag: Der 27. September hat es Christa Wolf und Thomas Brasch angetan. Ein Tag wie jeder andere, an dem sich ihre literarischen Überzeugungen jedoch fundamental scheiden
Ohne Bundestagswahl wäre der 27. September ein Datum wie jedes andere auch. Mausgrauer Alltag, geläufiger Durchschnitt. Aber, was macht Alltag aus? Was ist das: ein Durchschnittstag? Ein x-beliebiger 27. September? So wie ein Menschen, der weder durch besondere Talente noch durch Schicksalsschläge oder Glücksfälle hervorsticht, ein Jedermann genannt werden kann, so gibt es doch auch Jedertage. Tage ohne Wahlen, ohne historische Ereignisse, ohne Sensationen und Katastrophen. Tage, an denen man nicht die große Liebe trifft, nicht befördert wird, vom Arzt keine bittere Diagnose gestellt bekommt, Jedertage, an die später keine Erinnerung bleibt, die sich aber im Kalender häufen, die zu einer blassen Masse Zeit anwachsen, aus der nüchtern betrachtet der größte Teil des Lebens besteht. Die Literatur ist ein miserables Instrument, um Jedertage zu erforschen. Die Literatur liebt es, das Leben zu dramatisieren. Sie strafft und konzentriert die Ereignisse, sie inszeniert sie, sie spitzt sie zu, sie verdichtet sie im doppelten Sinne des Wortes. In der Literatur ist das Leben überlebensgroß. Noch aus der Ereignislosigkeit möchte sie ein Ereignis machen – doch zum Wesen des Jedertags gehört, kein Ereignis zu sein. Das ist die Stärke der Literatur und ihre Schwäche: Die blasse, formlose Masse Zeit, die einen wesentlichen Teil des Lebens ausmacht, kommt in der Literatur nicht vor. Auch der Erzähler und Theaterautor Maxim Gorki (1868 bis 1936) wusste das. Er hatte sich längst ins Korsett eines Klassikers der Sowjet-Literatur zwängen lassen und lebte in einer von Stalins Agenten streng überwachten Ville bei Moskau, als er wenige Monate vor seinem Tod die Schriftsteller in aller Welt aufforderte, jeder für sich und doch gemeinsam einen durchschnittlichen, nicht weiter auffälligen Tag des Jahres zu schildern. Zusammen müssten diese Beschreibungen so etwas ergeben wie das Porträt eines Jedertags auf dem Planeten Erde. Näher wäre die Literatur dem Leben, wie es gewöhnlich ist, nie gekommen. 1960 erinnerte sich die Moskauer Zeitung „Iswestija“ an den Vorschlag Gorkis und richtete einen Aufruf an die Schriftsteller weltweit, einen Tag des Jahres aufzuzeichnen, ein beliebig ausgewähltes Datum: den 27. September. Christa Wolf war damals 31 Jahre alt und hatte, neben ihrer „Moskauer Novelle“ – ein Anfängerbüchlein voller Anfängerfehler – noch kaum etwas veröffentlicht. Die Aufgabe reizte sie. „Wie kommt Leben zustande? Die Frage hat mich früh beschäftigt“, schrieb sie später. Wenn es gelänge, ganz subjektiv und authentisch, jenseits der üblichen literarischen Formzwänge und Inszenierungen Alltag festzuhalten – müsste man dann nicht einer Antwort auf die Frage näher kommen, was das eigene Leben ausmacht? „Ich setzte mich also hin und beschrieb meinen 27. September 1960.“ Doch dabei ließ sie es nicht. Sie blieb dieser Übung auch in den folgenden Jahren treu und publizierte 2003 den Band „Ein Tag im Jahr“, ein eigenwilliges Tagebuch in Jahressprüngen, das die Aufzeichnungen sämtlicher ihrer 27. September von 1960 bis 2000 vereint. Einen dieser Tagesberichte, und zwar den ersten von 1960, veröffentlichte Christa Wolf allerdings schon 1974, noch in der DDR, unter dem Titel „Dienstag, der 27. September“. Darin berichtet sie ausführlich, ja erschöpfend von den Mühen des Gewöhnlichen: vom Versorgen ihrer kleinen Töchter, von einem Besuch beim Arzt, von einem Waggonwerk, in dem sie hospitiert, von einem Gespräch mit ihrem Mann über „Kunst und Revolution“ und nicht zuletzt von der Arbeit an ihrer nächsten Erzählung, zu der sie erst am Abend kommt, ausgelaugt von einem langen Tag. Nichts davon ist sonderlich bemerkenswert, nichts wird mit den dramatisierenden Mitteln der Literatur effektvoll arrangiert. Dennoch schildert Christa Wolf all das mit Sorgfalt, denn sie sieht darin, wie sie gegen Ende andeutet, potentielle Bausteine zu einem umfassenden Ganzen: „Vor dem Einschlafen denke ich, dass aus Tagen wie diesem das Leben besteht. Punkte, die am Ende, wenn man Glück gehabt hat, eine Linie verbindet. Dass sie auch auseinanderfallen können zu einer sinnlosen Häufung vergangener Zeit, dass nur eine fortdauernde unbeirrte Anstrengung den kleinen Zeiteinheiten, in denen wir leben, einen Sinn gibt…“ Nichts davon in Thomas Braschs dem Gedicht „Der schöne 27. September“. Brasch und Christa Wolf kannten und respektierten sich, obwohl zwischen ihnen nicht viele literarische Gemeinsamkeiten zu entdecken sind. Als Christa Wolf 1987 gebeten wurde, als alleinverantwortliche Jurorin den Kleistpreis an einen Schriftsteller ihrer Wahl zu vergeben, sprach sie ihn Thomas Brasch zu. Er gehörte zu den großen literarischen Talenten seiner Generation. Aber auch zu jenen Getriebenen, die wenig Scheu kennen, die eigene Gesundheit zugrunde zu richten – er starb 2001 im Alter von nur 56 Jahren. Hinterlassen hat er eine handvoll Theaterstücke, Filme, Erzählungen, Übersetzungen und eben Gedichte, die bezeugen, mit welcher Radikalität, mit welcher wütenden, hasardeurhaften Entschlossenheit er lebte, dachte und schrieb. In seinem Gedicht ist von keiner „fortdauernden unbeirrten Anstrengung“ die Rede, wie bei Christa Wolf. Ebenso wenig wie von irgendeinem „Sinn“ oder einer „Linie“, die im Glücksfall die auseinanderfallenden Tage verbinde. Im Gegenteil, selbst die schlichten Verrichtungen, die gewöhnlich die Jedertage füllen, all dieses Zeitungslesen, Frauen-Nachschauen, Briefkastenöffnen, Guten-Tag-Wünschen wird hier schroff verneint. Aber auch den üblichen moralischen Forderungen nach Selbsterkenntnis, Arbeit, Veränderungswille, die so gern als Richtschnur des menschlichen Handelns ausgegeben werden, ergeht es nicht besser: „Ich habe nicht über mich nachgedacht. / Ich habe keine Zeile geschrieben. / Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.“ Dieses Gedicht ist eine einzige Unterlassungserklärung. Hier meldet sich einer zu Wort, für den die Gewohnheiten, Konventionen und philosophischen Maximen, die dem Leben inneren oder auch nur äußeren Halt geben können, ihre Macht verloren. Auch den literarischen Formen, die Harmonie signalisieren könnten, misstraut er – und unterbricht deshalb in der siebten Zeile demonstrativ das Gleichmaß der mit „Ich habe…“ beginnenden Zeilen. Kurz: Das „Ich“ dieses Gedichts ist aus jeder Ordnung gefallen. Aber dennoch gibt Brasch seinem 27. September einen ebenso einfachen wie großartigen Beinamen, zu dem Christa Wolf bei ihren Alltags-Aufzeichnungen niemals zu greifen gewagt hätte: Er nennt ihn „schön“. Denn indem das „Ich“, das hier in zehn Zeilen neunmal stolz an die Spitze gestellt wird, die gängigen Ordnungsmuster hinter sich lässt, wird es frei von gängigen Pflichten und Regeln. Es verzichtet bewusst auf die bei Christa Wolf skizzierte „fortdauernde unbeirrte Anstrengung“, das eigene Tun auf einen höheren Zusammenhang hin zu organisieren. Es entzieht sich den üblichen Normen, seien es gesellschaftlichen Übereinkünfte („Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht“) oder seien es die Zwänge der Biologie („Ich habe keiner Frau nachgesehn“). Dafür gewinnt es die Chance und Bereitschaft zum Selbstgenuss und zum Genuss des Augenblicks. Ein literarischer Widerspruch, wie er sich grundsätzlicher kaum formulieren lässt: Wie auf den Spuren des Deutschen Idealismus will Christa Wolfs Tagebuchprosa selbst banale Details eines Jedertags festhalten, da auch in ihnen ein universaler Plan aufscheinen könnte, ein Plan, dem sich alles und jeder unterzuordnen hat. Dagegen polemisieren Braschs lakonische Verse der Verneinung. Der Gedanke, es gebe eine allgemeingültige, alles überwölbende Ordnung, der wir uns zu unterwerfen haben, erschien Brasch schlicht lächerlich. Er entwarf das Bild einer hoffnungslos chaotischen Welt, aus der einen keine Geschichtsphilosophie, Meta-Erzählung oder Religion retten kann und feiert in seinem Gedicht gerade deshalb die anarchische Freiheit des einzelnen. Brasch wäre, steht also zu befürchten, morgen nicht zur Wahl gegangen. Sie hätte ihn wohl nicht sehr interessiert. Doch auch diese Weigerung wäre ihm nicht beispielhaft vorgekommen, er sah sich nicht als politisches Vorbild. Staat in jeder Form war sein Gegner, Ordnung jeder Art macht ihn argwöhnisch, Autorität jeder Ausprägung lehnte er ab. Leicht hat er es sich auf diese Weise nicht gemacht: In der DDR wurde er von zwei Hochschulen gefeuert und zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Im Westen eckte er in den Theatern an, sorgte 1981 bei der Annahme des bayerischen Filmpreises für Skandal und hinterließ ein Roman-Manuskript, das sich mit mehr als 10.000 Seiten dem Literaturbetrieb bislang als unverdaulich entzieht. Nach den handelsüblichen Kategorien wird so einem Schriftsteller gern das Etikett „Rebell“ angeheftet. Tatsächlich war Thomas Brasch wohl auf der Suche nach einer Freiheit, wie sie nur in der Literatur zu finden und für die in der Wirklichkeit kein Platz ist.

Erschienen in der „Welt“ am 26. September 2009

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960 – 2000 Suhrkamp, Frankfurt am Main 704 Seiten, 14,00 € ISBN 978-3-518-46007-8 Thomas Brasch: Der schöne 27. September. Gedichte Suhrkamp, Frankfurt am Main 83 Seiten, 10,80 € ISBN 3-518-02264-4

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