Deutscher Wald für Afrika

„Schutzgebiet“ – Thomas von Steinaecker erzählt von sympathisch versagenden Kolonialherren

Henry möchte gern ein großer Architekt sein. Aber er hat es nur bis zum Träumer gebracht. Es wurde noch kein einziges Haus von ihm gebaut, doch er weiß schon, was er tun wird, wenn er sich einen Namen gemacht hat: Er will ein „Streiter für das Reich des Unvollendeten“ sein und all die nie verwirklichten Projekte bedeutender Architekten realisieren, die er im Studium kennen lernte. Henrys Vater dagegen hat ein florierendes Immobilien-Geschäft in New York und – noch – Geduld mit seinem Sohn. Er schickt ihn nach Europa, damit er Kontakte knüpft und die Berliner Außenstelle des Unternehmens übernimmt. Henry aber will von seinen Träumen einfach nicht lassen und brennt mit seiner Frau durch nach Afrika, wo er als Assistent eines deutschen Architekten eine ganze Kolonial-Stadt aus dem staubigen Boden stampfen soll. Thomas von Steinaecker hat seinen dritten Roman „Schutzgebiet“ im Jahr 1913 angesiedelt. Es ist der letzten Augenblick der Belle Epoque und der deutschen Ambition, sich als Kolonialmacht neben Ländern wie Frankreich und Großbritannien zu etablieren. Auf den ersten Blick könnte man vermuten, Steinaecker habe sich an einen Gesellschaftsroman versucht, der den Glanz einer heute wieder gern gerühmten Epoche aufpoliert, der aber auch etwas andeutet von den nationalistischen oder innerfamiliären Ungeheuerlichkeiten, die jene Bürgerkultur um die Jahrhundertwende ausbrütete. Doch Thomas von Steinaeckers Absichten sind bescheidener und origineller zugleich: „Schutzgebiet“ ist viel eher eine Satire auf den kolonialistischen Ehrgeiz jener Zeit und eine psychologische Studie, die eine prachtvolle Sammlung fantasiereicher, aber tatenarmer Charaktere versammelt. Für Henry zum Beispiel beginnt sein afrikanisches Abenteuer katastrophal, geht dann schlecht weiter und endet im Desaster. Das Schiff, das ihn zu der – von Steinaecker erdachten – Kolonie Deutsch- Tola bringen soll, sinkt im Sturm kurz vor dem Ziel. Seine Frau und auch der Architekt, für den er arbeiten wollte, kommen um, Henry ist der einzige Überlebende. Doch von seinen Zukunftsträumen kann ihn selbst das nicht abbringen. Als man ihn für den dringend erwarteten, aber ertrunkenen Architekten hält, stellt er die Verwechslung nicht richtig, sondern sieht sich schon als Schöpfer eine grandiosen Ideal-Stadt, die nach seinen Entwürfen und unter seiner – völlig unerfahrenen – Bauaufsicht entstehen soll. Eigentlich müssten ihn ein paar Dinge nachdenklich machen. So etwa die Tatsache, dass die Kolonie bislang über keine Siedler verfügt, sondern dass dort nur eine handvoll Deutsche leben, die eine kleine Truppe von Einheimischen herumkommandieren. Mit dieser begrenzten Zahl von Arbeitskräften lassen sich größere Bauvorhaben gar nicht umzusetzen. Aber auch alle anderen kommen nicht auf die Idee, ihre hochfliegenden Zukunftsprojekte an den afrikanischen Realitäten zu messen. Gerber zum Beispiel, der sich als Chef der neuen Kolonie betrachtet, ist Forstwirt und will dem Land die deutsche Kultur bringen, indem er einen deutschen Wald pflanzt. Da die Bäume unter südlicher Sonne angeblich schneller gedeihen, sieht er sich schon als Holz-Tycoon, der mit dem Export nach Europa ein Vermögen macht. Kurz: Steinaeckers Figuren halten sich für Gründerväter, denen ein „Schutzgebiet“ anvertraut ist. Tatsächlich aber, so erkennt der Leser, sind sie es selbst, die Schutz brauchen. Denn mit ihrem Talent, Pläne eher zu schmieden als zu realisieren, sind sie in ihre Heimat so oft gescheitert, dass Deutsch-Tola zu ihrer letzten Chance geworden ist. Aber gerade das noch unerschlossene Land erweist sich als fabelhafte Projektionsfläche, so dass ihre Fantasien hier umso kräftiger ins Kraut schießt. Manche ihrer Träumereien erinnern deutlich an Motive aus dem Werk von Jules Verne, dessen utopische Geschichten eben jener Belle Epoque entstammen. Mit einem gewissen Recht kann man Thomas von Steinaeckers Roman als Hommage auf Verne betrachten – allerdings mit dem bezeichnenden Unterschied, dass Verne seine Helden als energische Tatmenschen einer Gründerzeit beschrieb, wogegen auf Steinaeckers Figuren die ganze Müdigkeit und Lähmung des Fin de Siecle zu lasten scheint. „Schutzgebiet“ ist der erste Roman Steinaeckers, in dem er sich ganz auf sein Sprachtalent konzentriert. In seinem viel gepriesenen Debüt „Wallner beginnt zu fliegen“ (2007) ließ er zumindest eine kurze Passage nicht in Worten, sondern als Comic-Strip erzählen, in dem zweite Buch „Geister“ (2008) nahmen die Zeichnungen von Daniela Kohl gegen Ende hin einen so großen Raum ein, dass man es als „Graphic Novel“ bezeichnen konnte. Bei beiden Romanen stach die konstruktive Intelligenz Steinaeckers hervor, sein Talent schien vor allem darin zu bestehen, einen verzwickten, originellen, aber klug durchdachten Plot zu ersinnen. In seinem neuen Buch entfaltet er viel stärker als zuvor die Psychologie seiner Figuren – was dem Roman gut tut. Aus der Innenperspektive ist jede von ihnen von der eigenen Größe und der Genialität seiner Vorhaben überzeugt. Erst in der Außenperspektive, in den Augen der anderen offenbaren sich ihre Schwächen überdeutlich. Was wenig daran ändert, dass sie einem weitaus sympathischer sind als ihre so realitätstauglichen Gegenspieler, denen sie dann am Ende naturgemäß unterliegen. „Ich bin kein romantischer Schriftsteller“, sagte Thomas von Steinaecker einmal in einem Interview. Nach der Lektüre seines dritten Romans hat man den Eindruck, dass auch er sich ein wenig über sich selbst täuscht. Zumindest in diesem Buch zeigt er sich wie sein Held Henry als ein „Streiter für das Reich des Unvollendeten“, dessen romantische Neigungen man aus der Außenperspektive vielleicht deutlicher wahrnimmt als er sie selbst wahrhaben will.

Die Rezension erschien in der Welt vom 10. Oktober 2009

Thomas von Steinaecker: „Schutzgebiet“. Roman
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009 381 Seiten, 19.90 Euro. ISBN 978-3-627-00160-5

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