Nick Hornby erzählt von Nerds, Pop-Musik und einer scheiternden Ehe
Natürlich gibt es neue, noch nie erzählte Geschichten. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie besonders gut sind. Im Gegenteil. Andere Geschichten dagegen sind schon seit Jahrhunderten erzählt worden, millionenfach, weil sie milliardenfach erlebt wurden. Es sind die immer gleichen Geschichten über Kindheit und Liebe und Tod, also über Vergänglichkeit und die Erinnerung an das Verlorene. Zum Geheimnis eines großen Schriftstellers gehört die Fähigkeit, diese alten Geschichten neu zu erzählen, will sagen: den Figuren die jeweils aktuellen Kostüme auf den Leib zu schneidern und die Schauplätze mit den Kulissen der Gegenwart auszustatten. Das ist weitaus mehr als nur eine Frage der Dekoration. Denn wenn einem Autor das gelingt, fängt er etwas ein vom Geist seiner Zeit, der in diesen Oberflächen steckt. Er macht sichtbar, was einem so dicht vor Augen steht, dass man es nicht sehen kann. Der Engländer Nick Hornby erzählt in seinem neuen Roman „Juliet, Naked“ vom Zerfall einer Ehe, vom Ende einer Liebe. Zweifellos einer der ältesten Stoffe der Weltliteratur. Und er erzählt davon, wie unsere Sehnsucht nach Liebe, nach Leidenschaft, nach einem erfüllten Leben in der Kunst bewahrt und zugleich von ihr in verführerisch bequemer Weise ersatzbefriedigt wird. Auch das ein literarisches Thema mit ehrwürdigem Stammbaum. Doch sowohl die Sprache wie auch die Ausstattung seiner Geschichte, ihre Kostüme und Kulissen, sind von so bedingungsloser Aktualität, dass man sich unter den Figuren bewegt wie unter vertrauten Freunden und man – selbst falls man glaubt, sich seiner eigenen Liebe sicher sein zu können – bald merkt: Tua res agitur, hier wird deine Sache verhandelt. Schon Hornbys bislang bester Roman „How to be good“ (2001) handelte von einer Frau, die sich von ihrem Mann trennt. Ein sehr komisches und doch beklemmend hoffnungsloses Buch. Auch „Juliet, Naked“ ist oft sehr witzig, wie fast alles was Hornby schreibt, aber nicht ganz so finster – am Ende des Buches flackert ein winziges, fernes Lichtlein. Die Heldin des Romans heißt diesmal Annie, lebt in einem winzigen, nordenglischen Badeort, leitet das dortige, sehr provinzielle Heimatmuseum und teilt Tisch und Bett mit Duncan, einem College-Dozenten. Große Leidenschaft war es nie, was sie zueinander brachte, eher eine gewisse Trägheit, die es sich im Bewährten bequem macht, da sie Risiken, Anstrengungen und Aufregungen eines Aufbruchs zu neuen Ufern scheut. Doch inzwischen geht Annie auf ihren vierzigsten Geburtstag zu und das Empfinden, etwas Wesentliches zu versäumen, wird immer dringlicher. Wie so viele kinderlose Frauen ihres Alters meint auch sie, Nachwuchs könnte ihrem gleichförmig dahinplätschernden Leben eine neue Energie und Bedeutung geben. Doch Duncan wäre alles andere als ein vorbildlicher Vater. Er gehört zu jenen Männern, die seit Jahrzehnten auf der Stelle treten, deren Leben um die immer gleichen Vorlieben oder Gewohnheiten kreisen und die für die Welt jenseits ihrer Scheuklappen lediglich miesepetrige Verachtung übrig haben. Hornby ist ein Virtuose in der Beschreibung solcher fader männlicher Obsessionen. Den manischen Fußball-Fan porträtierte er in „Fever Pitch“, den Pop-Besessenen in „High Fidelity“, einen unbeirrbar dem Traum von Star-Ruhm nachhetzenden Musiker namens JJ in „A Long Way Down“. Sie alle eint eine beunruhigende Neigung zur Realitätsflucht, zum Abtauchen in Parallelwelten und zur sozialen Selbstverstümmelung, die heute vor allem unter jüngeren Männern zuzunehmen und für die sich der Begriff „Nerd“ durchzusetzen scheint. Duncans Besessenheit gilt Tucker Crowe, einem amerikanischen Singersongwriter, der von der Bühne abtrat und sich seit mehr als zwanzig Jahren konsequent in Schweigen hüllt. Doch Duncan hält ihn unbeirrbar für den Shakespeare und Mozart der Pop-Musik in einer Person und betreibt mit einigen Gleichgesinnten eine Internetseite, auf der sie noch den obskursten Informationen oder Ideen zu Crowes Werk nachgehen. Wie Hornby in der Figur Duncans die Vorliebe des Nerds für Rechthaberei, Machtfantasien und sektenartige Sinnstiftung sowohl analysiert wie auch parodiert zählt zu den amüsantesten und zugleich erhellendsten Passagen dieses Romans. (Doch ist es für jeden Literaturkritiker heikel, sich unbeschwert über Duncan lustig zu machen. Schließlich ist er nüchtern betrachtet nicht anders als ein verbohrter Musikkritiker – und für manche seiner Eigenschaften, wie etwa seine Selbstgefälligkeit, seine Besserwisserei oder seinen offenkundigen Wunsch, die Leser mit entlegenen Kenntnissen einzuschüchtern, statt sie an seiner Freude über das besprochene Werk teilhaben zu lassen, gibt es allzu offensichtliche Parallelen in Literaturbetrieb.) An Tucker Crowe scheiden sich dann auch die Geister von Annie und Duncan – obwohl sie sich erst nach einem Seitensprung Duncans endgültig trennen. Als frühe Arbeitsfassungen von Crowes besten Songs auftauchen, ist Duncan grenzenlos begeistert, Annie jedoch skeptisch. Duncan lobt auf seiner Internetseite diese noch unfertigen Versionen wegen ihrer Authentizität, in der er das Kennzeichen höchster Kunst sieht. Annie dagegen plädiert für die ausgearbeiteten, sorgfältig durchgeformten Studiofassungen – und erhält für ihre Rezension mitten aus dem zwanzigjährigen Schweigen heraus ein anerkennendes E-Mail von Tucker Crowe höchst persönlich. Aus diesem Zufallskontakt entwickelt sich eine Art Liebesgeschichte zwischen Annie und Crowe. Wer will, kann darin eine allzu märchen- oder hollywoodhafte Wendung der Geschichte sehen. Doch durch sie eröffnen sich zum einen dramaturgisch wunderbar überraschende und komische Möglichkeiten für den Roman. Zum andern hat sie den Witz, dass sich Crowe als ein verarmter, durch sich selbst zugrunde gerichteter Ex-Alkoholiker entpuppt. Er ist kein Nerd, sondern stattdessen ein ergrauter, ziemlich orientierungsloser Macho alter Schule, der als verlässlicher Partner für Annie ebenso wenig in Frage kommt. Sie muss begreifen, wie viele Lebenschancen sie an der Seite des kaum geliebten Duncan regelrecht vertrödelt hat, und dass es, so sehr sie sich das auch wünschen mag, keinen Weg gibt, Versäumtes nachzuholen. Sie erlebte Leidenschaften eben lieber in Filmen, Büchern oder den Songs von Tucker Corwe statt in der Realität – also muss sie sich mit einem leidenschaftsarmen Leben arrangieren, und nicht einmal Tucker Crowe persönlich kann das ändern. Verblüfft stellt sie im Rückblick auf ihr so behagliches, wohltemperiertes Leben fest: Nicht an Gelegenheiten fehlte es ihr, sondern an der Entschlossenheit, sie zu ergreifen.
Nick Hornby: „Juliet, Naked“
Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009 304 Seiten, 19,95 Euro