Die Rache des Autohändlers

Der Roman „Willenbrock“ von Christoph Hein

Willenbrocks Geschäfte gehen glänzend. Doch er fühlt sich elend. Er schläft mit einer Menge Mädchen. Doch das schlechte Gewissen seiner Frau gegenüber lässt ihn nie los. Er ist zutiefst liberal und friedfertig. Doch mit den Gewalt- und Rachefantasien in seinem Kopf wird er nicht fertig. Er will ein guter, fleißiger, braver Bürger sein. Doch er stellt fest, dass sich der Staat nicht sehr bemüht um gute, fleißige, brave Bürger. Kurz, wir müssen uns Willenbrock als einen unglücklichen Menschen vorstellen. Willenbrock ist in der DDR aufgewachsen und hat in einem volkseigenen Betrieb als Ingenieur gearbeitet. Nach der Wende aber schüttelte er diese Vergangenheit gründlich und ohne großes Bedauern ab. Nostalgie ist ihm fremd. Im Gegenteil: „Man sollte sich dieses Vergnügen regelmäßig gönnen“, denkt er, „man sollte alle paar Jahre die Zelte abbrechen, alles hinter sich lassen, um neu anzufangen.“ Willenbrock ist Autohändler und erfolgreich. Irgendwo in Berlin auf einem umzäunten Grundstück stehen ein paar Dutzend Wagen, er kauft und verkauft und verdient viel Geld dabei. Alles scheint bestens: Er hat eine Frau, die nichts ahnt von seinen Seitensprüngen, einen Mechaniker, der ihm alle Dreckarbeit abnimmt, ein brandneues Haus am Stadtrand und ein schönes altes Gutshaus auf dem Land. Und doch: Etwas bohrt, etwas beißt, etwas brennt in ihm. Willenbrock weiß selbst nicht genau, was ihn stört, was ihn ruhelos macht. Sicher, er hat auch ein paar Sorgen. Aber Sorgen haben alle, und er gehört nicht zu den Menschen, die sich selbst bemitleiden. Es ist irgendetwas anderes, das an ihm frisst, irgendein tieferes Unbehagen in der frisch wiedervereinigten bundesdeutschen Kultur, das Willenbrock selbst nicht richtig begreift. Christoph Hein dagegen, sein Schöpfer, ist sich offenbar ziemlich klar darüber, worin dieses Unbehagen besteht – was die Stärke und zugleich die Schwäche des Romans „Willlenbrock“ ausmacht. Es ist ein ambitioniertes Buch, das viele der Erfahrungen, die das Leben in beiden Teilen unseres Landes während der neunziger Jahre prägten, auf einen Nenner zu bringen versucht. Ein Buch, das konsequent auf die gesellschaftliche Situation hier zu Lande und heut zu Tage zielt – und dem deshalb eine ungewöhnliche Resonanz beim Publikum beschieden sein könnte. Ein Buch aber auch, dessen Mängel mitunter mit Händen zu greifen sind. Ein Buch, dessen Verdienste sicher nicht in seinen künstlerischen oder sprachartistischen Qualitäten liegen, sondern zu aller erst in seinem zeitdiagnostischen Scharfblick und seiner dokumentarischen Kraft. In dieser Hinsicht erinnert es gelegentlich an Romane von Wolfdietrich Schnurre, Heinrich Böll, Erich Loest oder – jüngstes Beispiel eines solchen Autortyps – an die beiden Bücher von Michel Houellebecq. Willenbrocks Problem liegt in ihm selbst. Er ist ein guter Geschäftsmann, er handelt zweckmäßig ohne allzugroße Emotionen, ist nüchtern und illusionslos bis fast zum Zynismus. Er hat einen genauen Blick dafür, bei welchen Autokäuferinnen er eine Chance hat, und nur die versucht er zu verführen. Von Liebe, oder auch Verliebtheit, keine Spur. Er weiß genau, wie unangreifbar und schwerfällig der Justizapparat einer modernen Industrienation ist. Also wird er, als ihm ein eklatantes Unrecht geschieht, nicht zum Michael Kohlhaas, der bis in den Untergang für sein Recht kämpft, sondern er gibt still klein bei und fügt sich. Willenbrock will gut leben – und kein verbohrter Idealist sein. Doch die Sache hat einen Haken: Insgeheim, tief im Inneren kann er gewisse idealistische Neigungen doch nicht ganz verleugnen. Er wäre gern ein Zyniker, aber er ist es nicht. Wenn er mit den anderen Mädchen schläft, kann er die Liebe zu seiner Frau nie ganz und gar vergessen. Wenn er spürt, wie leichthin die Justiz über sein Schicksal hinweggeht, möchte er sich schulterzuckend abwenden – aber dann wächst in ihm doch die Wut und der Grimm, und er wünscht sich doch so etwas Naives wie Gerechtigkeit auf Erden. Willenbrock ist also, nimmt man alles nur in allem, ein Durchschnittsdeutscher der neunziger Jahre. Ein soziologischer Normalfall, einer, der sich mit den Verhältnissen nach der Wiedervereinigung arrangiert hat und ohne große Hochs und Tiefs zurechtkommt. Und genau das macht den Mut und das Können Christoph Heins in diesem Roman aus: Denn in der Literatur ist kaum etwas schwerer einzufangen als der Normalfall, als das Durchschnittsschicksal, dem alles Dramatische oder Sensationelle fehlt. Doch so ganz ohne Dramatik kommt Hein in seinem Roman nicht aus. Er lässt die Gewalt in Willenbrocks solide, scheinbar so gesicherte Existenz einbrechen. Zunächst sind es nur ein paar Wagen, die von seinem Autohof gestohlen werden. Willenbrock betrachtet den Einbruch lediglich als „ärgerliche Beeinträchtigung“. Doch als er schließlich feststellt, dass die Polizei ernste Nachforschungen gar nicht in Betracht zieht und den Fall nur pro forma aufnimmt, um ihn möglichst bald zu den Akten zu legen, ist er verärgert: „Er hatte das Gefühl, von den Beamten belästigt worden zu sein.“ Bei einem zweiten Überfall auf seinen Autohandel, einige Wochen später, kommt der inzwischen zur Sicherheit engagierte Nachtwächter zu Schaden: Er wird von den jugendlichen Gangstern gefesselt, sein Hund erschlagen. Diesmal nehmen die Polizisten die Angelegenheit zwar ernster, doch Fahndungserfolge können sie wieder nicht versprechen. Schließlich wird Willenbrock selbst überfallen. Nachts in seinem Landhaus hört er, mit seiner Frau im Ehebett, Geräusche aus dem Nebenzimmer. Er reagiert klug und beherrscht, versucht die Einbrecher zu erschrecken und zu verjagen. Es kommt zu einem wüsten Handgemenge, Willenbrock wird leicht verletzt, doch er kann die Eindringlinge in die Flucht schlagen. Es sind nicht die Schmerzen seiner Verletzung, die Willenbrock daraufhin zusetzen, es ist das Gefühl, all diesen Gefahren schutzlos ausgeliefert zu sein. Zwar treibt die Polizei jetzt einen spürbar höheren Aufwand bei ihren Nachforschungen, ja sie kann die mutmaßlichen Täter sogar stellen, doch da es sich um Ausländer handelt, werden sie nicht bestraft, sondern kurzerhand in ihre Heimat abgeschoben. Christoph Heins genaue Beobachtungen der psychischen Nöte des Opfers einer Gewalttat zählen sicher zu den literarisch intensivsten Passagen seines Romans: Willenbrock ist wütend, er schreibt beschwörende Briefe an die Justizbehörden und erwägt, den verantwortlichen Staatsanwalt zu verklagen. Er zweifelt an sich, wird von Angstzuständen geplagt, ergeht sich in detailliert ausgemalten Rachefantasien – die er dann wieder abstoßend findet. Auch mit seiner Frau gerät er aneinander. Sie möchte das Landhaus lieber verkaufen, als je wieder darin zu übernachten. Er dagegen will um seinen Besitz kämpfen, will das Haus mit Alarmanlagen und ähnlichem elektronischen Schnickschnack sichern – und weiß doch, das Sicherheit auf diesem Weg nicht zu erlangen ist. Nie, auch nicht in der DDR, hat sich Willenbrock so hilflos, so ohnmächtig gefühlt. Kein Wunder, wenn er dem Angebot eines russischen Kunden, ihm eine Pistole zu besorgen, bald nur noch wenig und schließlich keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen hat. Kein Wunder auch, dass die Waffe immer mehr zur psychischen Zuflucht, zum Fetisch wird, mit der Willenbrock seine alte Sicherheit zurückzugewinnen hofft. Vergeblich, wie sich am Ende zeigt. Hein demonstriert an seinem Helden so die psychischen Kosten des Lebens in einer modernen, liberalen Gesellschaft. Er zeigt mit literarischen Mitteln vor, was sonst nur als „soziale Dissoziation“, „Verbürokratisierung“ „Entsolidarisierung“ oder „Desintegration“ in soziologischen Untersuchungen von Ulrich Beck über Gerhard Schulze bis Anthony Giddens aufs Schlagwort gebracht wird. Es scheint so, als sei Willenbrock den Risiken unserer Risikogesellschaft nicht gewachsen. Doch es ist nicht unangemessene Ängstlichkeit, die ihn plagt. Er ist sehr wohl entschlossen genug, die Chancen und Reize unserer schönen neuen Wirtschaftswelt für sich zu nutzen. Auch ist er nicht auf eine metaphysische Geborgenheit in traditionellen Sinne aus – zumindest betrachtet er seinen glaubensfesten katholischen Mechaniker eher mit Verwunderung als mit Neid. Doch kann er sein Bedürfnis nach ein wenig mehr Ordnung, ein wenig mehr Gerechtigkeit im Hier und Jetzt letztlich nicht verleugnen. Unsere Lebensverhältnisse sind für seinen Geschmack schlicht ein wenig zu abstrakt, zu formal, zu „cool“ geworden. Hein hat für Willenbrocks Empfindungen ein schönes, knappes Bild gefunden. Als Willenbrocks Frau in einen Kurzurlaub aufbricht – in dem sie ihren Mann betrügen wird, wie er sie so oft zuvor -, trägt er ihr das Gepäck ins Abteil. Als er wieder auf dem Bahnsteig steht, möchte er von seiner Frau nach schöner alter Tradition Abschied nehmen. Doch, „Willenbrock konnte Susanne nicht sehen. Als der Zug anfuhr … , winkte er, doch er blickte nur in die sich in der Scheibe spiegelnde Sonne“. Wer einmal versucht hat, den Reisenden in einem ICE mit weitgehend verspiegelten Fenstern zuzuwinken, weiß um die Antiquiertheit mancher traditioneller menschlicher Gesten. Doch leider erreicht Heins Prosa in diesem Buch nur selten eine solche Dichte und Überzeugungskraft. Man spürt deutlich, dass ihn an Willenbrocks Geschichte mehr die Analyse unserer gesellschaftlichen Lage gereizt hat als die literarischen Feinheiten. Er breitet die Handlung routiniert aus – aber eben doch nur routiniert und nicht mit der sprachlichen Suggestionskraft, die vor allem seine Rollenprosa in „Der fremde Freund“, „Horns Ende“ und „Das Napoleonspiel“ auszeichnete. Dennoch kann man Christoph Hein den Respekt für dieses Buch nicht verwehren. Es gibt nur wenige deutschsprachige Schriftsteller, die so klug und präzise von den aktuellen Probleme unserer Epoche zu erzählen verstehen. Vielleicht spürt Willenbrock die Schattenseiten einer utopielosen, durch und durch pragmatischen Zeit besonders deutlich, weil er – wie sein Schöpfer Hein – noch vor zehn Jahren in einem ganz anderen Staat mit ganz anderen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Doch dass seine Sorgen letztlich unser aller Sorgen sind, liegt auf der Hand. Bernd Willenbrock verkauft Autos in Berlin. Und lebt ein ganz normales Leben. Ein ganz normales deutsches Leben. Damals, in der DDR, war Willenbrock Ingenieur. Jetzt führt er einen Autohof und eine ganz normale deutsche Ehe. Sie haben ein Haus auf dem Land, keine großen Probleme. Hin und wieder betrügt Willenbrock seine Frau mit seinen Kundinnen. Dann schleichen sich die Katastrophen ins Leben des Bernd Willenbrock. Sein Betrieb wird beraubt. Die Polizei erweist sich als machtlos. Willenbrock wird erneut bestohlen. Von Einbrechern in seiner Wohnung wird er verletzt. Seine Frau betrügt ihn. Der brave, wohlanständige Willenbrock steht vor den Trümmern seiner braven, wohlanständigen Existenz. Willenbrock resigniert. Dann aber bekommt er einen Revolver.

Christoph Hein: „Willenbrock“. Roman Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000 319 S., 39,80 Mark.

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Hass und immer wieder Hass

Warum Maxim Biller so gern Literaturskandal macht
Maxim Biller ist anderer Meinung. Welche Ansicht man auch immer vertritt, eins ist sicher: Biller teilt sie nicht. Biller widerspricht, prinzipiell. Biller weiß es besser. Immer. Alles. Selbst Freunde nennen ihn eine Nervensäge. Was Biller als Kompliment versteht. Denn schließlich gilt die Bereitschaft zum Widerspruch, zum ständigen Zweifel als Nährboden der Aufklärung und Vernunft. Folglich ist er im Gespräch nie auf Konsens aus, sondern immer auf Konflikt, jeden Dialog verwandelt er zuverlässig zum Duell. Den Umgang mit ihm macht das ein wenig mühevoll. Hinzu kommt Billers Bedürfnis, jede Idee, jeden Affekt brutalstmöglich zuzuspitzen. Menschen, die andere Ansichten vertreten als er, sind in seinen Augen nicht anderer Ansicht, sondern „Idioten“. Menschen, die ihre Überzeugungen behutsam formulieren, die ihre Bedenken zurückhaltend vorbringen, sind für ihn „Feiglinge“ oder „Schlappschwänze“. Weiterlesen

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Der Ideenlyriker und Geschichtsdramatiker Volker Braun erhält den Büchnerpreis

Die Entscheidung, Volker Braun den Büchnerpreis zu verleihen, ist die Entscheidung für einen ästhetisch höchst anspruchsvollen und zugleich immer politisch denkenden Schriftsteller. Wie nur wenige andere Autoren im Westen und im Osten Deutschlands hat er mit seiner Literatur auf die zeitgeschichtlichen Hoffnungen und Befürchtungen, auf die ideologischen Aufbrüche und Abstütze in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts reagiert. 1939 in Dresden geboren, wuchs er in der DDR auf. In seiner Jugend gehörte seine ganze Liebe, sein ganzer Idealismus der Revolution. Sie gab seiner frühen Lyrik und Dramatik den Rhythmus vor: Zeile um Zeile rannten seine Arbeiten an gegen alles Gewohnte, Bestehende und stürmten voraus in eine – vermeintlich – bessere Welt. Sie drängten hin zu einem idealen Sozialismus, in den er den real existierenden seiner Heimat lieber heute als morgen verwandelt sehen wollte. Braun schrieb wilde Hymnen auf die Anfangsjahre der DDR, die noch heute mitreißend klingen, obwohl man inzwischen nur zu genau weiss, wohin dieser Anfang führte. Später dann veröffentlichte er in der Tonlage Brechts kluge Lieder über die mühsame „Wühlerei / In der ökonomischen Scheiße“. Und schließlich verfasste er stille Oden über den großen Wert kleiner politischer Fortschritte. Doch trotz seiner marxistischen Grundhaltung waren Konflikte mit den Kulturfunktionären der DDR für Braun nicht zu vermeiden. Stücke von ihm durften lange nicht aufgeführt werden, seine schönste Erzählung „Die Unvollendete Geschichte“ konnte nur in einer Zeitschrift erscheinen, und selbst Lyrikbände wurden zensiert und gekürzt. Die Borniertheit der Parteiapparatschiks, die jahrzehntelange politische Erstarrung der DDR, ihre soziale Grabesruhe hinterließ bei diesem so sehr an Veränderung und Umwälzung glaubenden Autor bald schon deutliche Spuren. Bereits in dem 1979 erschienenen Gedichtband „Training des aufrechten Gangs“ klang an, was sich dann immer deutlicher zeigte – Brauns poetische Weltsicht verdunkelte sich zusehends, nahm statt des unbeugsam utopischen nun einen eher elegischen Klang an. Er ging streng und immer strenger mit seinen frühen Glaubenssätzen ins Gericht – ohne sich deshalb endgültig von seinen linken Grundüberzeugungen zu verabschieden. Der Bruch, die Störung wurde zum literarischen Prinzip seiner Arbeit. Mit Bedacht zerschlug er in seinen Gedichten die Sätze, zerriss er die Grammatik, lieferte dem Theater mit Vorliebe nur mehr Fragmente. Ihm war sein Weltbild in Splitter zerfallen, sein politischer Lebenstraum an der Realität zuschanden gegangen – und er sah nicht ein, weshalb er den Schmerz über diese Erfahrung seinem Publikum ersparen sollte. Wie tief diese Krise reichte, ließ Volker Braun in seinem Rimbaud-Essay erkennen, in dem er seine existenzielle Erschütterung deutlich aussprach: „Freunde und Feinde warten auf meine endgültige Reise ins Aus, den Abgang vom Gerät. Sie sagen ihn voraus als die Konsequenz: die Zerreißprobe endet … Aber ich bin nicht nur das zerrissene Fleisch, ich bin es auch, der es zerreißt. Ich entkomme nicht, es sei denn über die eigene Grenze.“ Aber auch nach dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung Deutschlands hat Braun seinen Frieden mit der neuen politischen Situation nicht gemacht. Im Gegenteil: Im Nachhinein wollte es ihm offenbar so scheinen, als habe die üble Ausgangslage im realen Sozialismus zumindest einen letzten, fernen Funken Hoffnung auf eine gerechtere, bessere Zukunft eingeschlossen. Dagegen vermochte er – wie auch Heiner Müller, der andere große Dramatiker der DDR – in einer kapitalistischen Welt ohne wirksamen politischen Gegenspieler überhaupt keinen Ausweg aus einem allumfassenden Jammertal mehr zu erkennen. Volker Braun ist ein Ideenlyriker und ein Geschichtsdramatiker von stattlichem Format – und also eine gute Wahl als Träger des Büchnerpreises. Aber Braun ist auch, wenn es ihm gelingt, sich ganz und gar auf eine scheinbar alltägliche, kleine Geschichte einzulassen, ein überaus sinnlicher, begnadeter Erzähler. Doch leider hat er dieses Talent, nicht zuletzt immer wieder verfangen in dem scheinbar so großen Kleinkrieg um politischen Grundsatzfragen, nur selten gepflegt. Viel zu selten.

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Leise Stimme aus der Asche

 Gertrud Kolmars Theaterstück „Nacht“ wird mehr als sechzig Jahre nach seiner Fertigstellung in Düsseldorf uraufgeführt

Ihr ist kaum etwas erspart geblieben. Ein Gefühl von Glück hat sie wohl nur in wenigen Augenblicken ihres Lebens kennengelernt. Schon die Fotos aus ihrer Kindheit zeigen sie nie lächelnd oder gelöst, sondern stets mit ungeheuer ernstem Gesicht. Als habe sie mit inständiger Gefasstheit einem dunklen Schicksal entgegengesehen, von dem sie ahnte, dass sie ihm nicht entgehen würde. Sie war und blieb einsam. Ihre Versuche eine Partnerschaft aufzubauen, scheiterten ausnahmslos. Nach einer ersten heimlichen Affäre wurde sie, kaum 20-jährig, von ihrer Familie zu einer Abtreibung gezwungen – und litt dann Zeit ihres Lebens unter der unerfüllten Sehnsucht nach einem Kind. Als deutsche Jüdin der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts erlebte sie Ausgrenzung, Missachtung, Verfolgung in einem inzwischen oft beschriebenen und doch schwer vorstellbarem Maße: Man hat sie enteignet und zu Zwangsarbeit verpflichtet. Ihre Familie wurde ins Exil gedrängt und zerstreute sich über drei Kontinente. Ein Cousin beging aus Angst, an die Nazis ausgeliefert zu werden, in Frankreich Selbstmord, ein anderer Cousin starb im KZ Mauthausen. Ihr Vater wurde in 81-jährig in Theresiestadt ermordet, sie selbst in Auschwitz vergast. Dennoch hat Gertrud Kolmar, deren Rang als Lyrikerin erst nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein anerkannt wurde, kaum geklagt. Im Gegenteil: Als für sie zwar noch nicht ihr entsetzliches Ende absehbar war, wohl aber ihr „gewöhnliches“ Lebensunglück, schrieb sie an ihre Schwester: „Wirst Du mir glauben, wenn ich hierher setze: ?Ich habe niemals eine Enttäuschung erlebt‘, und ?Die Wirklichkeit war stets unausdenkbar schöner als alle Illusion‘? Glaubst Du mir das? Es war so für mich. Nicht, als ob ich nie unglücklich gewesen sei, als ob ich keinen Schmerz erlitten hätte. Nein, ich bin sehr, sehr unglücklich gewesen; ich habe große und tiefe Schmerzen erduldet, die ich doch auch geliebt habe, wie eine werdende Mutter die Qualen lieben kann, mit denen ihr Kind sie segnet. Aber ich hatte das alles vorher geahnt, es kommen sehn, im voraus schon auf mich genommen; ich kannte den hohen Preis, den ich zahlen würde, da gab es keine Enttäuschung.“ Heute ist eine unzeitgemäßere Schriftstellerin als Gertrud Kolmar schwer vorstellbar. Sie war klug und selbständig, aber alles andere als emanzipiert. Die wenigen Männer, zu denen sie sich hingezogen fühlte, liebte sie mit Leidenschaft zur Hingabe und Unterordnung. Beruf oder Erfolg bedeuteten ihr nichts, Ehe und Mutterschaft wären ihr alles gewesen. Auf den Terror der Nazis reagierte sie nicht mit Flucht oder gar Rebellion, sondern mit dem Rückzug in die Familie – ohne aber die Augen vor der Realität und damit vor der näherrückenden, lebensbedrohlichen Gefahr zu verschließen. Sie wusste, um eine Formulierung Carl Seeligs aufzugreifen, vom geheimen „Glück des Unglücks“ – und war schließlich bereit, ihre ganze Existenz dieser schwermütigen, hoffnungslosen Spielart des Glückes zu widmen. Doch trotz des unzeitgemäßen Charakters ihrer Arbeit und ihres Naturells ist sie bis heute nicht nur unvergessen, sondern findet ein immer stärker werdendes Interesse. In den vergangenen Jahren sind allein drei Bücher über ihr Leben erschienen, ein Sammelband mit Arbeiten über ihr Werk und eine Edition ihrer Briefe, dazu sind Auswahlbände mit Gedichten, sowie ihre beiden längeren Prosaarbeiten „Susanna“ und „Eine jüdische Mutter“ neu vorgelegt worden. Am Sonntag schließlich wird am Düsseldorfer Schauspielhaus in einer Inszenierung von Frank-Patrick Steckel erstmals das Theaterstück „Nacht“ gezeigt, das Gertrud Kolmar 1938 schrieb, und das seither nur in Italien publiziert wurde und ungespielt in den Archiven auf seine Entdeckung wartete. Eine Premiere aus dem Grab, genauer: aus der Asche, fast genau 57 Jahre nach dem Tod der Autorin, eine Uraufführung über 60 Jahre nach Fertigstellung des Stückes. Was ist das besondere an dieser Dichterin? Sie stammte aus einer jener überaus gebildeten, kultivierten und assimilierten jüdischen Familien, die in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zu Wohlstand und Ansehen gelangt waren. Ihr Cousin, jener verzweifelte Mann, der sich schließlich auf der Flucht vor den Nationalsozialisten an der französisch-spanischen Grenze umbrachte, war der Philosoph und Literaturtheoretiker Walter Benjamin. Er gehörte zu den wenigen Menschen, so berichteten Verwandte später, mit dem sich Gertrud Kolmar auf ausführliche, literarische Gespräche einließ. Aber selbst diesen Kontakt darf man sich nicht zu vertrauensvoll vorstellen. Jüngere Forschungen haben gezeigt, wieviel Distanz sie auch zu diesem (Seelen-) Verwandten wahrte. Benjamin war es auch, der – nachdem ein erster Band mit frühen Versen von Gertrud Kolmar 1917 als Privatdruck erschienen war – die Autorin in ihrer Arbeit bestärkte und sie bei ihren ersten Schritten im Literaturbetrieb unterstützte. Er wandte sich an Willy Haas, der Herausgeber der „Literarischen Welt“ und empfahl ihm zwei ihrer Gedichte, die am 5.April 1928 in der Zeitschrift erschienen, um, wie es im Begleittext Benjamins hieß, „das Ohr des Leser Tönen zu gewinnen, wie sie in der deutschen Frauendichtung seit Annette von Droste nicht mehr vernommen worden sind“. Wenn Benjamin hier als Referenz gleich einen erlesenen Namen wie den der Droste nennt, so kann man das als einen Akt des publizistischen Nepotismus abtun. Doch die wenigen kundigen Kritiker, die sie zu Lebzeiten fand, griffen meist ebenfalls früh zu hohen Vergleichen. Mit Else Lasker-Schüler oder Franz Werfel wurde sie auf eine Stufe gestellt und fand, zumal unter Schriftstellerinnen, rasch Unterstützung. Eine Unterstützung, die in den von mörderischen politischen Grabenkämpfen zerrissenen dreißiger Jahren die ideologischen Fronten scheinbar mühelos übersprang: So setzten sich die nazinahe Ina Seidel gleichermaßen für sie ein wie die entschieden naziferne Elisabeth Langgässer. Kurz, Gertrud Kolmar war auf dem Weg, eine anerkannte Lyrikerin zu werden, als 1930 ihre Mutter starb. Mit fragloser Selbstverständlichkeit übernahm sie daraufhin die Aufgabe, für ihren Vater den Haushalt zu führen. Die eigenen Interessen unterzuordnen, zu „Dienen“ und „Opfer“ zu bringen, wie zwei ihrer schönsten Gedichte betitelt sind, gehörte zu ihren prägenden Wesenszügen. Eine Bereitschaft zum Verzicht mit fatalen Konsequenzen – denn die Pflege des immer gebrechlicher werdenden Vaters fesselte sie an Berlin und ließ sie, trotz inständiger Beschwörungen der in die Schweiz emigrierten Schwester, den rechten Augenblick zur Flucht ins Ausland versäumen. Aber in Gefühlsdingen kannte Gertrud Kolmar keine halben Sachen. Sie legte sich stets mit Entschiedenheit und Konsequenz fest, gab sich rücksichtslos preis. Sie gehörte zu den Frauen, die, wie ihre Dichterkollegin Ulla Hahn es formulierte, lieben „ohne sich zu fragen, was sie dafür empfangen werden, die in der Hingabe sich selbst in ihrem ganzen Reichtum erleben, ihre eigene Stärke erfahren, die fähig sind zu einer Liebe ohne Vorbehalte, ohne Kalkül, ohne Verstellung, maßlos.“ Hinter dieser radikalen Leidenschaftlichkeit, die, wie Ulla Hahn lakonisch anmerkt, Männern sicher „als Schwäche und Bedrohung gleichermaßen“ erschien, stand ein deutlich spürbarer Wunsch nach Verschmelzung mit dem Verehrten, nach einer unio mystica der Liebe. Was sie lockte, war die Möglichkeit der Selbstauflösung, der Selbstauslöschung in der Gemeinsamkeit mit einem Gegenüber. Und diese Vision hatte keineswegs nur sanfte, hingebungsvolle Aspekte, sondern sie nahm in den Gedichten mitunter recht rabiate Züge an: „Mann, ich träume dein Blut, ich beiße dich wund / Kralle mich in dein Haar und sauge an deinem Mund“, schreibt sie in einem Gedicht. Doch diesen Abschied von sich selbst im Einswerden mit einem geliebten Menschen gelang ihr in ihrem Leben nie. Ihr Versuch aus dem als kümmerlich empfundenen alltäglichen Leben zu verschwinden in eine Gegenwelt der Liebe, ging wieder und wieder fehl: So lag es für eine so sprachbegabte, sprachbesessene Frau wie Gertrud Kolmar vermutlich nahe, aus der Literatur jene Gegenwelt zu machen, in der sie Schutz gegen die Zumutungen des Gewöhnlichen finden konnte. Sie floh regelrecht in die Poesie, sie vollzog jene unio mystica, die ihr in der Liebe nicht vergönnt war, mit der Lyrik. Sie machte die Gedichte zu ihrer Zuflucht und ihrem Exil; einem Exil allerdings, dass ihr Schutz nicht bieten konnte vor den Nachstellungen ihrer Mörder. Bis heute teilt sich dem Leser, vor allem in den Gedichten der dreißiger Jahre, etwas mit von der Intensität dieser Liebesverschmelzung, die Gertrud Kolmar mit der Sprache betrieb. Manche ihrer Verse haben eine geradezu halluzinatorische Kraft, sie beschreiben oder benennen nichts im üblichen Sinne, sondern rufen unbekannte Bilder und Emotion im Leser wach, die sich noch lange in seinem Kopf festhaken. Gedichte seien, schrieb Franz Fühmann einmal mit Blick auf die Lyrik Georg Trakls, „eine andere Art Träume“. Und so wie Träume unsere unbewussten Wünsche erfüllen und doch zugleich unerfüllt lassen, so vermögen auch bestimmte Gedichte am Bewußtsein vorbei Gefühle in uns zu erwecken, von denen wir vielleicht nicht ahnten, dass sie unsere sind. Die großen Gedichte Gertrud Kolmars haben diese Qualität. Ihre Prosa und ihre Theaterarbeiten sind damit nicht zu vergleichen. Auch „Nacht“, die „dramatische Legende in vier Aufzügen“, die jetzt in Düsseldorf uraufgeführt wird, ist sicher nicht zu den höchsten literarischen Leistungen Gertrud Kolmars zu rechnen. Doch einige der Motive, wie der Wunsch nach Selbstopfer, nach Unterwerfung unter einen starken, herrscherlich auftretenden Mann und damit eben zu einem Auflösung des isolierten Ich in ein Liebesideal, diese Motiv wird auch in ihrem Stück mit rückhaltloser Klarheit und Dringlichkeit formuliert. Keine fünf Jahre, nachdem Gertrud Kolmar diese „dramatische Legende“ fertiggestellt und in Abschriften bei Freunden und Verwandten deponiert hatte, wurde sie im Februar 1943 bei einer sogenannten „Fabrikaktion“ an ihrem (Zwangs-)Arbeitsplatz verhaftet, im Zug nach Auschwitz transportiert und dort – wie es üblicherweise knapp und pauschal heißt – ermordet. Doch die wahre Dimension dieses Verbrechens, dem Gertrud Kolmar mit Millionen anderen zum Opfer fiel, lässt sich mit solchen summarischen Bemerkungen nur schwer ermessen und veranschaulichen. Vielleicht ist es nicht falsch, sich gelegentlich vor Augen zu stellen, was ein solcher Satz im Detail für einen Einzelnen bedeutete – und das Deutsche für dieses Sterben verantworlich waren. Gertrud Kolmar wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit Ende Februar in einem ungeheizten Transportwaggon, zusammengepfercht mit zahllosen anderen, Tag und Nacht ohne Wasser und Nahrung nach Auschwitz gefahren. Dort angelangt dürfte sie an der Rampe kurz Josef Mengele oder einem seiner Arztkollegen gegenübergestanden haben, die sie als nicht arbeitsfähig selektierten und mit einer Handbewegung in den Tod schickten. Vor einem als Dusche ausgegebenen Raum musste sie sich – auf Anweisung von Deutschen – mit den ebenfalls ausgesonderten Männern, Frauen und Kindern entkleiden und in die Gaskammer gehen. Über das, was nun folgte schreibt der Historiker Raul Hilberg in seinem Buch „Die Vernichtung der europäischen Juden“: „Wenn die Opfer von Auschwitz nacheinander die Gaskammern betraten, entdeckten sie, dass die vermeintlichen Duschen nicht funktionierten. Draußen wurde der Hauptschalter betätigt, um die Beleuchtung abzustellen, und ein Rot-Kreuz-Wagen mit dem Zyklon fuhr vor. Ein SS-Mann, der eine Gasmaske trug, die mit einem Spezialfilter versehen war, hob den Glasverschluss über einem vergitterten Schacht ab und schüttete einen Zyklon-Kanister nach dem anderen in die Gaskammer. Wenn sich die ersten Kugeln auf dem Boden der Kammer verflüchtigten, begannen die Opfer zu schreien. Auf der Flucht vor den aufsteigenden Gas stießen die Stärkeren die Schwächeren nieder und stellten sich auf die Liegenden, um gasfreie Luftschichten zu erreichen und so ihre Leben zu verlängern. Der Todeskampf dauerte etwa zwei Minuten; dann hörte das Schreien auf, und die Sterbenden fielen übereinander. Innerhalb von fünfzehn (gelegentlich auch fünf) Minuten waren alle in der Gaskammer tot. Nun ließ man das Gas entweichen, und nach eine halben Stunde wurde die Tür geöffnet. Die Leichen fanden sich turmartig aufgehäuft, manche in sitzender oder halbsitzender Position, Kinder und ältere Menschen zuunterst.“ Die Leichen wurden daraufhin – unter Aufsicht von Deutschen – durch Sonderkommandos von Gefangenen in die Öfen der Krematorien geschafft und verbrannt. Nach nur ein oder zwei Stunden Aufenthalt in Auschwitz war von der durch eine maßloser Liebenssehnsucht geplagten Frau und überragenden Lyrikerin Gertrude Kolmar nicht mehr geblieben als Rauch und eine handvoll Asche.

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„Die Verabredung“

Margriet de Moor erzählt vom Zusammenbruch eines Lebens
Was für ein zarter, anmutiger, kluger Roman! In der Verlagsbranche nennt man solche Bücher oft „klein“ oder „still“. Aber treffen diese Etiketten zu? Schließlich erzählt Margriet de Moor unter anderem von einer erotischen Besessenheit, von einem inständig herbeigesehnten Seitensprung und von dem philosophischen Dialog eines ehebrecherischen Tierarztes mit einem anästhesierten Hund über die Frauen und die Liebe. Daneben erzählt sie noch von einigen Autounfällen mit tödlichem Ausgang, lang vergangenen Selbstmorden und vom tragischen Verlöschen einer ganzen Familie. Ein stilles Buch? Es ist auf jeden Fall ein intensives Buch. „Nennen wir es mal die Geschichte einer Straße“, lautet der erste Satz, und Margriet de Moor kennzeichnet damit sehr genau, um was es ihr in diesem Roman geht – und nimmt den Leser zugleich doch auf den Arm. Denn natürlich handelt ihre Geschichte nicht von einer Straße, sondern von den Menschen, die sie benutzen. Andererseits spürt sie ganz ohne Innerlichkeitsgeraune einem inneren Weg nach, den diese Menschen zurücklegen, einem Weg, der mindestens so viele Gefahren birgt, wie eine überfüllte Straße, ein Weg, auf dem man gründlich vom Weg abkommen und in Unfälle mit tödlichem Ausgang verwickelt werden kann. „Zee – Binnen“ ist der wohl unübersetzbare Titel des niederländischen Originals, und er benennt die Strecke zwischen der Kleinstadt Noordwijk Binnen und dem Badeörtchen Noordwijk an Zee. Zugleich aber benennt er jene Reise ins Herz der Finsternis, die wir alle antreten, wenn wir uns gelegentlich mit vollem Ernst fragen, ob das Leben, das wir führen, tatsächlich das Leben geworden ist, das wir einst führen wollten. Vincent, der Held dieses Romans, ist ein wohlhabender, verheirateter Tierarzt, dessen „Verliebtheit von vor vierzehn Jahren“ noch immer den Blick auf seine Frau verklärt. Offenbar ein glücklicher Mann. Doch eines Nachts beim Spaziergang findet er auf der Oude Zeestraat, eben jener Strecke zwischen Zee und Binnen, einen Taschenkalender, den, wie die Handschrift verrät, eine Frau verloren haben muss. Und er entdeckt seinen eigenen Namen in dem Kalender – denn jene unbekannte Frau hat eine Verabredung mit ihm. Genauer, sie hat wegen einer Katze einen Termin mit seiner Praxis gemacht. Das ist alles, was Margriet de Moor braucht, um Vincent auf die Reise zu schicken, auf eine Expedition zu verborgenen, ungenutzten Möglichkeiten seines Lebens. Kurz: auf den gefahrvollen Weg von Zee nach Binnen. Erst ist Vincent nur amüsiert über den seltsamen Zufall seines Fundes, doch bald schon lässt ihn diese unbekannte Kalenderbesitzerin kaum noch los, sie spukt in seinem Kopf herum, bis er schließlich der Verabredung von Tag zu Tag, Minute zu Minute ungeduldiger entgegenfibert. Wie Margriet de Moor das erzählt, ist virtuos. Sie romantisiert nichts, sie dramatisiert nichts und vermag doch, die Gefühle und die Neugier des Lesers immer wieder zu fesseln. Sie verschweigt nicht die brutale Gemütsruhe, mit der Vincent von einer fernen, noch fremden Geliebten träumt, während er mit der eigenen schlafenden Frau im Bett liegt. Sie führt den Lesern diese Geliebte nicht als besondere Schönheit vor, sondern eine ruhige, reife Frau, die von der Liebe nicht mehr viel erwartet, aber die Chance, die sich ihr überraschend in der Person des jüngeren Vincent bietet, mit ruhiger, reifer Hand ergreift. Und sie zeigt auch, dass Vincent seine Frau trotz seiner Affäre nicht weniger liebt als zuvor. Er erweitert kurzerhand seinen verklärenden Blick, der zuvor nur einer galt, auf eine zweite, die für ihn schon deshalb schön ist, weil er lange vor ihrem ersten Treffen unbewusst beschlossen hat, dass sie einfach schön sein müsse. Eine Moral hat das alles nicht. In keinem Satz wird auch nur der Hauch von Kritik an einem Mann spürbar, der, ohne eine Sekunde zu zögern, den ihm am engsten verbundenen Menschen hintergeht. Und auch nicht an einer Frau, die viel Kraft aufwendet, um die Veränderungen ihres Mannes und ihrer Ehe nicht wahrnehmen zu müssen. Margriet de Moor urteilt nicht, sie zeigt nur, was geschehen kann, wenn man den Blick vom vertrauten Pfad des eigenen Lebens hebt und frei in die Landschaft ringsum schweifen lässt, zu all den anderen, brachliegenden Entwürfen von uns selbst: Wir können überaus verlockende, neue Weg entdecken und damit verlockende neue Aspekte von uns selbst. Aber wir können auch endgültig die Kontrolle über unser Fahrzeug verlieren und tödlich stranden. Margriet de Moors Roman ist auch deshalb so schön und so sympathisch geworden, weil ihre Sprache klar bleibt. Sie lässt sich auf ihrer Abenteuertour durch das Innenleben der Hauptfiguren nicht zu schwärmerischen, metaphernseligen Lyrismen hinreißen. Sie hat vielmehr ein wunderbares Gleichgewicht aus psychologischer Präzision und Mitgefühl mit ihre Helden gefunden. Und sie versteht es, dieser Mischung immer auch ein wenig Ironie mitzugeben. So legt sie ausgerechnet einem Hund, der betäubt auf seine Operation wartet, die Worte in die Schnauze, die Vincents Situation an genauesten beschreiben: „Jeder hat so seine angeborenen Sehnsüchte. Man jagt von Zeit zu Zeit etwas Unmöglichem nach, vor allem, wenn es um Frauen geht . . . Wir sind komplizierter, als wir denken.“ Der Weg von Zee nach Binnen ist alltäglich und doch komplizierter und gefahrvoller, als wir denken. Schon deshalb gehören entsprechende Reiseberichte zum Lieblingsstoff der Weltliteratur. Ein Spezialist für derartige Logbücher aus dem Innenleben war Thomas Mann – der, vielleicht ein Zufall, Noordwijk und die Straße zwischen Zee und Binnen gut kannte. Drei Mal hat er hier Urlaub gemacht. 1939, 1947 und 1955. Im Tagebuch kann man nachlesen, wie er von Ehefrau Katja chauffiert im Auto über die Oude Zeestraat rollt, und fast fürchtet man um ihn: „Abfahrt mit K. Sehr nervös u. vom Abschied erschüttert bei der nicht leicht zu findenden Ausfahrt im Radfahrergewimmel. High Way und Straße nach Noordwijk. Ankunft hier 1/2 8 Uhr, allein zu zweien . . . Windstille.“

Margriet de Moor: „Die Verabredung“. Roman Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Carl Hanser Verlag, München 2000 192 S., 34 Mark

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Die Nacht der Liebe

 Eine wunderbare Wiederentdeckung: Der Roman „Die Glut“ des fast vergessenen ungarischen Erzählers Sàndor Màrai

Ein alter General lebt irgendwo im längst zerfallenen österreichisch-ungarischen Riesenreich auf einem schlossartigen Gutshof. Allein, nur von seiner Dienerschaft umgeben, hängt er der Erinnerung an eine große und zugleich zwielichtige Vergangenheit nach. Der immer gleiche Rhythmus seines Daseins gerät schlagartig aus dem Takt, als man ihm den Besuch eines Jugendfreunds ankündigt. Er verfällt in fieberhafte Aktivität, lässt einen lang nicht benutzten Trakt seines Hauses herrichten und ein sorgsam zusammengestelltes Dinner vorbereiten. Ohne ein Wort der Erklärung war der Freund 41 Jahre zuvor nach einem Essen mit dem General und dessen junger Frau – es hatte genau die gleiche Speisenfolge, die jetzt wieder vorbereitet wird – über Nacht aus der nahe gelegenen Stadt verschwunden. Er trat in den britischen Kolonialdienst ein und sandte nie wieder ein Lebenszeichen in seine alte Heimat. Der General aber war nach diesem stillschweigenden Abschied in das Gartenhaus seines Guts übergesiedelt, traf seine Frau nie mehr und sprach auch nicht mit ihr. Die Geschichte schrieb vor fast 60 Jahren, mitten im Zweiten Weltkrieg, der Ungar Sàndor Màrai. Doch damals hatte man in ganz Europa anderes zu tun, als Romane zu lesen, und so wurde sein Buch „Die Glut“ bald vergessen. Sehr zu Unrecht, denn es ist ungeheuer suggestiv, von großem psychologischen Scharfblick und außerordentlich spannend. Jetzt hat es der Piper Verlag in deutscher Übersetzung neu aufgelegt – eine wundervolle Wiederentdeckung. Der größte Teil des Buchs beschreibt nichts anderes, als dass die beiden alten Männer an der feierlich gedeckten Tafel sitzen und über jene scheinbar so harmonische, ein Menschenalter zurückliegende Nacht reden, als sie am gleichen Tisch saßen und die gleichen Speisen aßen. Nur bleibt diesmal der dritte Stuhl zwischen ihnen leer. Was macht den Roman gleichwohl so spannend? Weshalb legt man ihn nur ungern vor der letzten Seite aus der Hand? Mit fabelhaftem Geschick enthüllt Sàndor Màrai Punkt für Punkt das Geheimnis jener Nacht, dass die beiden Helden für immer trennte und sie zugleich bis zum Ende ihrer Existenz zusammenschweißte. Immer wieder nimmt die Geschichte eine Wendung, die für den Leser nur schwer vorauszuahnen ist, und immer wieder erweist sie sich als die schlimmstmögliche Wendung für das weitere Leben der beiden Alten. Es ist keine Plauderei zwischen Pensionären, an der man bei der Lektüre teilhat, sondern eine Abenteuerfahrt durch die seelischen Abgründe einer Freundschaft zwischen ganz und gar ungleichen Partnern. Es stellt sich heraus, dass der General seine Jahre keineswegs im beschaulichen Rhythmus des Landlebens verträumt hat. Gegen Ende des Romans spricht nur noch er, sein Gast kann sich auf kurze, bestätigende Einwürfe beschränken. In den über vierzig Jahren seiner Einsamkeit hat der General allein kraft seiner Erinnerungen und winziger Indizien den tiefen, verborgenen Konflikt ihrer Freundschaft aufgedeckt. Und die Rolle, die seine Frau dabei spielte. Es ist kein Zufall, dass der Autor eines solchen Romans am Anfang des jetzt zu Ende gehenden Jahrhunderts ein Bürger der k .u. k Monarchie war. Geboren 1900, also in dem Jahr, in dem Sigmund Freud sein Buch über „Die Traumdeutung“ veröffentlichte, hat Màrai viel von der Seelenkennerschaft aufgesogen, die das intellektuelle Klima dieses Vielvölkerstaats damals beherrschte. Wie er die Psyche seiner beiden Romanhelden vor den Augen der Leser Schicht um Schicht bloßlegt, ist ebenso bewundernswert wie erschütternd. Ein Historienmaler von Rang ist Màrai. Sein Buch lässt Pracht und Prunk des alten Österreich-Ungarn wieder auferstehen. Zu Anfang scheint das Leben der beiden Freunde wie im Walzerrausch an ihnen vorüberzufliegen. Doch bald schon zeigen sich Risse im Glanz und dann, mit einem Mal, ist alles um sie her nur noch fadenscheinig – so fadenscheinig, wie die ehemals wertvollen Teppiche, Vorhänge und Polster auf jenem Gutshof, auf dem der General 41 Jahre lang auf seinen geflohenen Freund wartet. In „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ hat Gabriel García Màrquez von der Liebe eines alten Mannes erzählt, der seine Jugendfreundin nach 50 Jahren des Wartens endlich in die Arme schließen und mit ihr im Glück schwelgen kann. Sàndor Màrai beschreibt die Nachtseiten der Liebe, ihre Sprengkraft und Zerstörungswut. Kurz: Er beschreibt die „Glut“ der Leidenschaft, die das Leben zu Grunde richtet. García Màrquez´ Roman stimmte einen heiteren Hymnus auf die Liebe an, Màrais Buch setzt ein düsteres Epitaph dagegen. Beides sind hinreißende, weltkluge Operninszenierungen mit viel Pomp, prunkenden Kulissen und überlebensgroßen Gefühlen. Was will man mehr von einem Roman?

Der Artikel erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ vom 30. Oktober 1999

Sàndor Màra: „Die Glut“. Roman Piper Taschenbuch Verlag, München 240 Seiten, 8,99 Euro ISBN 978-3492233132

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Der Wolf im Haaspelz

 Ein Mann für bizarre Fälle: Der Österreicher Wolf Haas schreibt Krimis – die komischsten seit langem 

Sein Name ist Brenner, Simon Brenner. Er ist Detektiv. Und die Leute, die ihm ihre Fälle anvertrauen, brauchen eine Menge Mut. Nicht weil Brenner besonders rabiat wäre oder besonders teuer. Nein, weil Brenner so langsam ist, so umständlich, maulfaul und verstiegen. Leute, die ihm ihren Fall anvertrauen, wollen eigentlich nicht, dass er gelöst wird. Doch zu ihrer Überraschung müssen sie dann feststellen, dass Brenner gerade mit kuriosen Aufträgen glänzend zurechtkommt. Schließlich gibt es Grund genug, ihn selbst für ein Kuriosum zu halten. Der Erfinder von Brenner heißt Haas, Wolf Haas. Krimi-Leser, die sich seinen Romanen anvertrauen, brauchen auch ein klein wenig Mut. Nicht weil die Bücher besonders blutrünstig wären und Albträume verursachten. Sondern weil Haas heiteren Herzens so ziemlich alle Genreregeln des Detektivkrimis verletzt und seinen Lesern nie auch nur den Hauch einer Chance gibt, dem Täter frühzeitig auf die Spur zu kommen. Selbst eingefleischte Anhänger des klassischen Krimis werden überrascht sein, dass man sich bei alldem köstlich amüsiert. Die bislang vier Simon-Brenner-Bücher gehören zu den besten und komischsten deutschsprachigen Kriminalromanen der vergangenen Jahre. Wolf Haas hat es literarisch faustdick hinter den Ohren. Er ist ein Stilist und Sprachartist von Graden. Er erzählt von Brenners absonderlichen Fällen, als säße er mit dem Leser in irgendeiner Kneipe beim Bier. In jedem Satz ist der Duktus seines heimatlichen österreichischen Dialekts spürbar, man glaubt, eine schlampig dahergetraschte Geschichte voller Abschweifungen zu hören. Haas versteht es, den Tonfall seiner Landsleute in einer präzisen, hoch konzentrierten Kunstsprache gleichsam zu kondensieren. Zudem hat der Autor, wie es sich für einen österreichischen Schriftsteller gehört, ein ausgeprägtes Gespür für alles Absurde und Makabre. Ob er zwei amerikanische Touristen auf dem Skilift zu Schneemännern einfrieren lässt, ob in einer riesigen steirischen Grillstation unter Zentnern von abgenagten Hühnerknochen auch ein menschliches Skelett auftaucht, ob sich Wiener Krankenwagenfahrer vor allem damit beschäftigen, sich gegenseitig zu bekriegen, oder ob in einem Salzburger Knabeninternat die sauber zerstückelte und in Plastiktüten verpackte Leiche eines ehemaligen Zöglings auftaucht – in jedem seiner Romane schwingt etwas mit von dem tiefschwarzen, galligen Witz, für den seine Landsleute weltweit berüchtigt sind. In Österreich ist der knapp 40-jährige Haas inzwischen eine Berühmtheit. Seine Krimis stehen wenige Tage nach ihrem Erscheinen auf den Bestsellerlisten. Der dritte Brenner-Fall „Komm, süßer Tod“ soll jetzt verfilmt werden. Noch vor drei Jahren, bevor sein erster Krimi erschien, wäre auch für Haas selbst eine solche Karriere kaum vorstellbar gewesen. Er betrachtete sich vielmehr als experimentellen Schriftsteller, promovierte über „Die sprachphilosophischen Grundlagen der konkreten Poesie“ und hatte für traditionelle Romane kaum mehr als ein herablassendes Kopfschütteln übrig. Niemand wollte seine strengen literarischen Exerzitien lesen oder drucken. Bis er schließlich begriff, dass sich seine große Liebe zum theoriegesättigten Sprachspiel sehr wohl mit dem Wunsch nach einer lebendigen, unterhaltsamen Geschichte verknüpfen ließ. Und bis er Simon Brenner erfand. Diese verschrobene Figur hat es in sich. Die klassischen Detektive des Kriminalromans sind systematisch denkende, überlegt handelnde Wahrheitssucher, sie sind, wenn man so will, Symbolgestalten der Aufklärung, die ihr Leben dem Kampf gegen das irrationale, von wirren Leidenschaften beherrschte Verbrechen widmen. Brenner dagegen ist der Detektiv einer Epoche, die der Aufklärung immer skeptischer gegenübersteht. Er denkt nicht klar und nüchtern, sondern er brütet und grübelt, bis er Migräne bekommt. Ihm ist es noch nie gelungen, ein wichtiges Indiz von einem scheinbar unwichtigen zu unterscheiden. Er hört nicht zu, wenn Zeugen mit ihm reden, und er fragt nie nach, wenn ihm Verdächtige ihre Lügengeschichten präsentieren. Kurz, ein investigatives Naturtalent ist er nicht. Aber es gibt eben Zeiten und Fälle, in denen ein Simplizissimus weiter kommt als der cleverste seiner Kollegen. Manchmal wirkt Simon Brenner wie ein bulliger, kantschädeliger Bruder von Forrest Gump. Und er ist mindestens so komisch wie Tom Hanks in jener Rolle. Wenn Sie demnächst in der Bahn oder in irgendeinem Wartezimmer jemanden sehen, der ein kleines schwarzes Buch liest und zwischendurch immer wieder laut auflacht, dann ist es gut möglich, dass Sie gerade einem Brenner-Begeisterten gegenübersitzen. Sicher, es sind nur Krimis, aber ihr Autor ist ein Wolf im Haaspelz.

Der Artikel erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ vom 27. September 1999

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„Single & Single“

Ein Besuch bei John le Carré

Wie wird man rasch ein paar Millionen Pfund los? Dazu noch seinen Job, seine Eltern, sein ganzes verhätscheltes Leben in der Londoner High-Society des Geldes? Oliver Single, Kronprinz des englischen Finanzkonzerns Single & Single, hat dafür eine hocheffiziente Methode gefunden. Er spricht mit einigen verzückt lauschenden Beamten über Geschäftspraktiken seines Vaters, des Firmengründers und -inhabers Tiger Single. Praktiken, die von wenig juristischen oder auch nur humanen Rücksichten geprägt sind. Woraufhin sich Oliver schließlich, ausgestattet mit einer neuen Identität, in einer südenglischen Kleinstadt wiederfindet. Hier müht er sich dann nach Kräften, als Wohnzimmerakrobat und Zauberer auf Kindergeburtstagen Furore zu machen. Ein merklicher Karriereknick. Aber damit hat Oliver gerechnet. Er wußte, daß ihm der Vater seinen Verrat nie verzeihen und ihn mit zahlungskräftigem Zorn verfolgen würde. Aber Oliver wollte um jeden Preis aussteigen. Denn ihm war klargeworden, womit sein Vater den größten Teil seiner Zeit verbrachte: Er wusch Geld für eine russisch-georgische Mafia, die jeden, wirklich jeden verwertbaren Rest des zerfallenden Sowjetimperiums verscherbelt – Schrott, Öl, Blutkonserven. Und, nach Gorbatschows Entmachtung, auch harte Drogen. Mit der Gründlichkeit der Behörden hat Oliver allerdings nicht gerechnet. Die Beamten setzen nämlich nicht nur dem scheinbar ehrenwerten Konzern Single & Single mächtig zu, sondern auch den Mafiosi aus dem Osten. Und die verstehen überhaupt keinen Spaß. Sie wissen zwar nicht, wer sie verraten hat, doch das hindert sie keineswegs daran, erst einmal einen Anwalt des Finanzhauses zu erschießen. Einfach so, als Anschauungsmaterial. Denn sie nehmen den Mord auf Video auf und stellen die Kassette Tiger Single zu, dem Firmenchef persönlich, damit er sich ein besseres Bild davon machen kann, was auf ihn zukommt. Keine ganz gewöhnliche Geschichte für John le Carré, einen der größten lebenden Meister des Politthrillers. Seine früheren Romane über die Welt der Geheimdienste – die er in jungen Jahren als Angehöriger der britischen Botschaft in Bonn und des Generalkonsulats in Hamburg von innen kennenlernte – sind inzwischen legendär. Sollte man in kommenden Jahrzehnten irgendwann einmal den selbstquälerischen Wunsch verspüren, sich die klaustrophile, immer leicht hysterische Atmosphäre des Kalten Kriegs in Erinnerung zu rufen, dann wird die Lektüre seiner Bücher eines der besten, wirkungsvollsten Mittel dafür sein. Doch mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende des Kalten Kriegs mußten sich nicht nur die Geheimdienste neue Arbeitsfelder suchen, sondern auch die Geheimdienst-Romanciers. In den fünf Büchern, die le Carré seit der Wende veröffentlichte, spielen Agenten noch immer die Hauptrolle. Auch wenn es sich dabei meist nur um windige Amateure handelte oder um abgehalfterte Ruheständler, die sich in die bösen alten Zeiten zurücksehnten. Mit „Single & Single“ läßt le Carré das Spionagemilieu entschlossen hinter sich und tauscht es ein gegen das der Finanzaristokratie. Doch sein neuer Roman ist deshalb nicht weniger spannend, intelligent oder dicht erzählt als die früheren. Im Gegenteil. „Ich war 1989 völlig überrascht“, gibt John le Carré zu. „Ich hätte nie gedacht, je den Fall der Berliner Mauer zu erleben.“ Er ist ein offener, ganz und gar unprätentiöser Mann, der nicht zögert, Fehler einzugestehen. Der aber zugleich so verschwenderisch mit seinem Charme umgeht, daß man sofort bereit ist, ihm selbst seine Irrtümer als Verdienste anzurechnen. Aber ernste berufliche Sorgen wegen des Dahinsiechens seines alten literarischen Stoffes „Kalter Krieg“ macht er sich nicht. Denn das eigentliche Thema seines Lebens bleibt von historischen Wechselfällen unberührt. „Im Grunde habe ich immer über Väter geschrieben“, sagt er, „über Väter und ihr Verhältnis zu ihren Söhnen.“ Auch George Smiley, die wohl berühmteste Figur John le Carrés, die in drei großen Romanen wie ein Schachspieler die englische Spionagearbeit gegen die Sowjetunion organisiert, ist eine solche Vaterfigur. Seine Agenten schauen auf zu ihm wie Söhne, doch wirklich durchschauen können sie ihn nicht. Er ist merkwürdig entrückt, fast geistesabwesend, so als feile er unentwegt an weitgespannten Kalkulationen, die seine Gegenspieler vom KGB aus der Deckung locken sollen. Diese Obsession ist kein Zufall. Das Leben von le Carrés eigenem Vater war, meint der Sohn mit prächtigem englischen Understatement, nicht sehr „konventionell, aber beeindruckend“. Als eine Art Felix Krull der Finanzjongleure hat er in seinem Leben buchstäblich Hunderte von Firmen gegründet, „die zwar so gut wie kein Kapital, dafür aber immerhin pompöses Briefpapier hatten“. Er verzeichnete reihenweise Bankrotte und brachte Haftstrafen auf zwei Kontinenten hinter sich. Doch selbst solche Fehlschläge vermochten seine Laune nie ernsthaft zu trüben, denn er hatte, wie es sein Sohn formuliert, „ein Gewissen, das ihm alles vergab“. Womöglich ist eine Jugend an der Seite eines solchen Vaters keine schlechte Voraussetzung für einen künftigen Schriftsteller. Zumal für einen Autor von Spionagethrillern. Halbwahre Tarngeschichten, frei erfundene Fakten und weitgespannte Kalkulationen, die darauf zielen, die Gegenspieler aus ihrer (finanziellen) Deckung zu locken, gehörten zu seiner Kindheit wie für andere Spielzeugautos oder Comic-Hefte. Und dazu die Lehre, daß man mit Charme fast ebensoviel erreichen kann wie mit einem gezogenen Revolver. Wobei der Einsatz von Charme im Alltag bei weitem unauffälliger und also effizienter ist. So darf man „Single & Single“, neben dem 1986 erschienenen Roman „Ein blendender Spion“, wohl als das am meisten autobiografische Buch John le Carrés betrachten. Oliver Single erlebt, was sein Schöpfer le Carré klug vermied, indem er, gerade 17jährig, zum Studium ins Ausland ging und dann Diplomat wurde: Oliver wird vom Vater in dessen trübe Geschäfte hineingezogen und muß sich bald zwischen seinem Vater und seinem Empfinden für Gerechtigkeit entscheiden. Zu den besonderen Qualitäten seines Romans gehört, daß es le Carré versteht, diesen geradezu klassischen Tragödienstoff wie eine Komödie zu erzählen. Doch sein Witz ist so trocken, daß man die Pointen oft nur schwer von knapp formulierten, bitteren Wahrheiten unterscheiden kann. Erstaunlich genug: Obwohl der Mensch le Carré nicht gerade zu übertriebener Ehrfurcht vor dem Gesetz erzogen wurde und der Thrillerautor le Carré in einer Branche arbeitet, in der man gern so tut, als gehörte Zynismus zum guten Ton, handeln seine Romane vor allem von der Bedeutung ethischer Grundsätze. Natürlich verfolgt man als Leser mit Spannung, ob es Oliver Single gelingt, seinen Vater aus den Klauen seiner überaus gewaltbereiten russischen Geschäftspartner zu retten. Aber den Kern des Buchs macht die moralische Entwicklungsgeschichte Olivers aus: wie und warum er zunächst auf Distanz geht zu seinem kriminellen Vater, um ihm dann, im Notfall, doch beizustehen. Ein Moralist und Romantiker ist John le Carré letztlich. Immer wieder hat er in seinen bislang 17 Romanen das Recht des einzelnen auf Glück verteidigt gegen die Macht rücksichtsloser Institutionen – egal, ob es sich dabei um Geheimdienste oder Finanzhäuser handelt. Und wenn sein Held Oliver um das Leben seines Vaters kämpft, setzt er im entscheidenden Moment nicht Waffen oder Drohungen ein, sondern uralte, scheinbar banale Gesten der Menschlichkeit. Denn inzwischen hat er oft genug auf Kinderfesten gezaubert, um zu wissen, welche eigentümliche, befriedende Kraft von solchen ganz alltäglichen und doch magischen Gebärden ausgehen kann. Als Finale eines Thrillers erwartet man das nicht. Das weiß le Carré nur zu genau. Aber genau darauf, auf solche überraschenden Wendungen, kam es ihm in seinen Büchern immer an: Nämlich die Regeln des Thriller-Genres nicht einfach nur zu erfüllen, sondern sie als Hilfsmittel zu benutzen, um ganz eigene, eigenwillige literarische Ziele zu erreichen. „Unterhaltungsromane“, sagt le Carré, und er benutzt das deutsche Wort, weil es ein adäquates englisches nicht gibt, „Unterhaltungsromane müssen immer auch einen ernsten Kern haben, sonst sind sie nicht wirklich unterhaltsam.“ Er zitiert seine Hausheiligen herbei, von Eric Ambler über Graham Greene bis Sébastien Japrisot. Diese literarischen Magier haben es immer wieder verstanden, wichtige Themen mit einer präzisen Charakterzeichnung ihrer Figuren und atemberaubend spannenden Handlungen zu verschmelzen. Was aus dieser Mixtur entsteht, ist „einfach eine gut erzählte Geschichte“, John le Carré zuckt mit den Schultern, lächelt, „einfach ein guter Roman“.

John le Carré: „Single & Single“. Roman
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999 400 Seiten, 45,00 DM

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Vom Leben nach dem Verrat

Kleiner Ausflug zum Prenzlauer Berg, zu Sascha Anderson und Rainer Schedlinski

Die Verräter und die Verratenen lebten im gleichen Stadtteil. Einem ramponierten Viertel, das bis heute dem Aufschwung Ost zum Trotz vom vierzigjährigen Niedergang der DDR zeugt. Sie wohnten nicht gerade Wand an Wand oder Haus an Haus, aber selten lagen mehr als drei oder vier Straßen zwischen den jeweiligen Adressen. Man konnte und kann mitunter heute noch, wenn man sich vom einen verabschiedet, zu Fuß in wenigen Minuten bequem vor der Tür des anderen stehen. In einer Riesenstadt wie Berlin ist es nicht leicht, sich näher zu sein. Sie kennen sich seit fünfundzwanzig oder dreißig Jahren, manche auch länger. Schon in der DDR waren sie Nachbarn. Die meisten haben nach dem Fall der Mauer, als ihnen die Welt offenstand, nichts daran geändert. Sie sind vielleicht in andere Wohnungen gezogen, nicht aber in andere, attraktivere Stadtteile. Von anderen Städten ganz zu schweigen. Und von den wenigen, die in der DDR einen Ausreiseantrag stellten und in den Westen gingen, sind viele nach der Wende zurückgekommen. Einer dieser Rückkehrer, der vom alten Quartier nicht lassen mochte, war Sascha Anderson, der Verräter des Prenzlauer Bergs. Er hat die Legenden mitbegründet, die sich um dieses besondere kulturelle Biotop Berlins ranken, um die spätrealsozialistische Boheme, die hier seit Anfang der achtziger Jahre versuchte, aus der tristen Gegenwart der DDR in eine Gegenwelt aus Bildern und Büchern zu fliehen. Anderson hat diese Legenden mitbegründet, und er hat sie zerstört. Als Wolf Biermann im Herbst 1991 verkündete und Jürgen Fuchs beweisen konnte, dass „Sascha Arschloch“ ein Zuträger des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gewesen war, dass er zu Mielkes willigen Helfern gehörte und über Jahre hinweg seine Freunde ans Regime verraten hatte, fiel ein Schatten über die kunstverliebte Avantgarde des Prenzlauer Bergs, aus dem sie auch im literaturhistorischen Rückblick nicht wieder ganz heraustritt. Seither ist eine Menge Wasser die Spree hinabgeflossen. Sascha Anderson und Rainer Schedlinski – der zweite Schriftsteller des Prenzlauer Bergs, der als Informant des MfS enttarnt wurde – sind nicht die einzigen geblieben, die man öffentlich anklagte, als Spitzel gedient zu haben. Ungezählte Autoren, Künstler, Sportler, Journalisten und Politiker wurden inzwischen beschuldigt, allzu eng mit der Staatssicherheit kooperiert zu haben – bis hin zu politischen Amts- und Würdenträgern wie Manfred Stolpe und Gregor Gysi. Üblicherweise wird dann – mit spürbarer Rücksicht auf die Sanktionen, die das Presserecht für nicht rundum gerichtsfeste Behauptungen bereit hält – nur vage von „Stasi-Verstrickungen“ gesprochen und davon, dass wir heute nicht alles für bare Münze nehmen dürfen, was in den Akten eines DDR-Ministeriums zu lesen ist, das auf Täuschung und Betrug spezialisierte war. Im Fall Anderson ist solche presserechtliche Zurückhaltung entbehrlich. Zwar stritt er, als der Skandal begann, alles ab. Doch die Beweise, die nach ein paar Wochen vorlagen, waren erdrückend, und so musste er ein peinliches Geständnis nach dem anderen ablegen. Schließlich gab er, als sich schon fast niemand mehr dafür interessierte, das meiste zu: Dass er bei seinen Führungsoffizieren über jeden und alles offenherzig geplaudert, dass er selbst über die engsten Vertrauten Berichte geschrieben, dass er nicht nur die Absichten befreundeter Künstler, sondern auch die politischer Oppositioneller preisgegeben hatte, und dass er sogar noch nach seiner Übersiedlung in den Westteil Berlins Informationen in den Osten der Stadt lieferte. An Andersons Schuld gibt es keinen Zweifel mehr. Äußerlich hat die öffentliche Bloßstellung keine Spuren hinterlassen. Anderson wirkt lediglich etwas zurückhaltender, bedächtiger als 1983, als ich ihn zum ersten Mal in einer Ostberliner Keramikwerkstatt und Hinterhausgalerie traf, um mehr über ihn und seine Arbeit als Lyriker zu erfahren. Damals sprach er kaum über eigene Gedichte. Für sie schien er, bei aller Beredsamkeit, keine Worte zu finden. Dafür riss ihn der Eifer hin, sobald er von den anderen Schriftstellern, Malern, Musikern, Bildhauern des Prenzlauer Bergs erzählte. Er pries ihr Können, schwärmte vom frischen Wind, den sie ins Kulturleben der DDR brächten, und dann diktierte er seinem Besucher aus dem Westen die Namen der Newcomer einen nach dem anderen in den Notizblock: Bert Papenfuß, Stefan Döring, Cornelia Schleime, Ralf Kerbach, Detlef Opitz, Uwe Kolbe. Kurz, er trat auf wie ein leicht überdrehter Impresario, der einer neuen Künstlergeneration den Weg zum Ruhm ebnen will – und der geschickt für dramatische Effekte sorgte, wenn er anklingen ließ, wie sehr die Stasi ihnen mit regelmäßigen Verhören und gelegentlichen Verhaftungen zusetze. Acht Jahre später war dann zu erfahren, was er zur gleichen Zeit den Offizieren der Stasi so alles in die Notizblöcke diktierte: noch mehr Namen, noch mehr Informationen und darunter auch Hinweise, die den Betroffenen den Weg ins Gefängnis ebnen konnten. Es beschlichen einen, auch wenn man sein Leben im sicheren Westen Deutschlands zugebracht hatte, alles andere als freundschaftliche Gefühle. Dennoch nimmt das Gespräch über Verrat mit dem Verräter rasch einen unaufgeregten, abgeklärten Ton an. Anderson steuert von sich aus auf das Thema zu, nennt sich selbst einen Spitzel und versucht nicht, das Vergangene herunterzuspielen. Er will, soviel wird schnell klar, möglichst sachlich und emotionslos über die eigene Schande sprechen. Doch wie schwer das ist, lässt sich an seiner rechte Hand ablesen, die während des ganzen Gesprächs, zwei Stunden lang, am linken Knie reibt und reibt und reibt und keine Ruhe gibt. Wer nach den Gründen für sein Verhalten forscht, dem liefert er nach und nach eine ganze Sammlung davon: Er sei bei den Großeltern aufgewachsen, Vater und Mutter hatten wenig Zeit für ihn, und so wurde das MfS, das sich Zeit nahm, zu einer Art Ersatzfamilie. Oder: Der Verrat habe sich für ihn, der als Siebzehnjähriger erstmals mit der Stasi in Berührung kam, zu ein Gewohnheit entwickelt, sei zu einer zweiten Haut geworden, die er aus eigener Kraft nicht mehr abstreifen konnte. Oder: Da er seine Informanten-Karriere schon als halbes Kind begann, habe er es später nicht mehr gewagt, seinen Vertrauten den bereits Jahre währenden Vertrauensbruch einzugestehen. Oder: Die Berichte, die er so zuverlässig bei der Gegenseite ablieferte, hätten ihm und den anderen vom Prenzlauer Berg überhaupt erst den Freiraum verschafft, den sie für ihre Arbeit brauchten. Allerdings hat er seine Freunde nie gefragt, ob sie bereit waren, für diesen Freiraum von Gnaden der Stasi einen solchen Preis zu zahlen. Aber im „Siemeck“, einer der Kneipen, in der sich die in die Jahre gekommenen Kombattanten von einst im inzwischen wiedervereinigten Berlin treffen, spielt das alles inzwischen keine Rolle mehr. Vieles erinnert hier an die Samisdat-Ausstellungen oder privat organisierten Lesungen der achtziger Jahre: die gleiche Musik wie damals, ähnliche Bilder an den Wänden, derselbe Ton der Gespräche. Die Szene lebt ungebrochen fort. Anderson, Bert Papenfuß, Detlef Opitz zählen hier zu den lokalen Berühmtheiten und dürfen sicher sein, dass fast jeder im Raum sie kennt und sie beobachtet. Auch eine Boheme kennt ihre lokalen Helden und Veteranen, die sich in ihrem mitunter zweifelhaften Ruhm sonnen möchten. Papenfuß ist einer der klügsten und begabtesten der Prenzlauer Poeten. Im „Siemeck“ tritt er auf wie der Chef einer Streetgang, der, ganz in schweres schwarzes Leder gehüllt, seinen Mitmenschen lange Blicke, aber nur wenig Worte gönnt. Auch wenn er zu den langjährigen Opfern Andersons gehört, betrachtet er ihn weiterhin als Freund. Allerdings als einen Freund „mit schillernder Persönlichkeit“, der nie ein enges Verhältnis zur Wahrheit hatte, „und das wussten alle, auch schon in der DDR“. In seinen Augen ist Andersons Neigung, sich „in Scheinwelten hineinzureden“, ein betrüblicher Charakterfehler, eine „Marotte“, die ihm seine Freunde auszutreiben versuchen. Doch – und dann nimmt Papenfuß den Tonfall eines Patriarchen an, der den ungeratenen Sohn in Schutz nimmt – doch der ungeheuere öffentliche Druck auf Anderson habe diesen Freunden ihre Arbeit nicht leichter gemacht. Verrat als Familienangelegenheit. So verständnisvoll sind nicht alle der alten Opfer. Uwe Kolbe oder Jan Faktor zum Beispiel bleiben bis heute auf Distanz zu Anderson. Ebenso Adolf Endler, der, als die ersten Anschuldigungen laut wurden, zunächst noch eine Ehrenerklärung für den Beschuldigten publizierte. Oder Elke Erb, die 1985 mit Anderson gemeinsam im Westen eine Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung mit neuer Literatur aus der DDR herausgab. Sie ist Lyrikerin, eine schmale, feinsinnige Frau, die allein in einer kalten Erdgeschoßwohnung lebt. Ihr erstes Buch nach der Wende erschien in dem von Anderson gegründeten Druckhaus Galrev. Nach seiner Entlarvung hat sie den Verlag verlassen und fast alle Kontakte zu dem Dichter, den sie einen „Denunzianten“ nennt, gemieden. Es gibt, sagt sie, „keine Räume mehr“, in denen sie und er „gemeinsam gehen könnten“. Allerdings weiß sie noch nicht, ob sie sich diese Distanz weiterhin wird leisten können. Ihre Lyrik ist nicht eben leicht verständlich, nur wenige Verlage interessieren sich für ihre schwerverkäuflichen Texte. Die Münchner Edition Christian Pixis bot ihr an, so erzählt sie, ein neues Buch mit ihr zu machen. Doch der Typograph dieser Edition, dessen Name dann im auch Impressum ihres Bandes genannt werden würde, ist kein anderer als der umtriebige „S.Anderson“. Trotz allem, fügt Elke Erb hinzu, respektiert sie nach wie vor Andersons Gedichte. Sie hält sein „Verfahren, mit Sprache zu arbeiten“ für eigenständig und konsequent, sogar zu einem Wort wie „Reinheit“ greift sie, wenn es um seine Lyrik geht. Sie hat vor unserem Gespräch seit langem mal wieder einen von Andersons Bänden aus dem Regal geholt, um diesem Autor lesend auf die Spur zu kommen. „Der inständig Versuch, sich zu entziehen, sich nicht festzulegen“, spricht für sie aus seiner Arbeit, „sich zu zeigen, ohne sich sehen zu lassen“. Der Versuch, Schriftsteller zu sein und Informant? Bespitzelter und Spitzel? Alles ein wenig, aber nichts ganz und gar? Dem gesamtdeutschen Literaturbetrieb fällt es schwer, den Schnitt nachzuvollziehen, mit dem Elke Erb den Dichter Anderson vom Denunzianten gleichen Namens trennt. Vor seiner Enttarnung galt er als bemerkenswerter Autor. Seine Bücher wurden eingehend rezensiert, man lud ihn ein zu Autorentreffen, bedachte ihn mit dem Stipendium der Villa Massimo. Nach seiner Enttarnung verfiel er weitgehend dem öffentlichen Schweigen. Zwei Lyrikbände von ihm sind in den neunziger Jahren erschienen, ihre publizistische Resonanz war minimal. Seine Autobiographie Sascha Anderson wurde dann naturgemäß vor allem mit Blick auf Eingeständnisse seine Stasi-Tätigkeit gelesen, zwei weitere Bände mit Prosa und Gedichten, die 2006 erschienen, ebenso. Das Bestürzende an Andersons Autobiografie ist, wie wenig menschliche Verbindlichkeit sie erkennen lässt. Auf den dreihundert Seiten des Buches taucht eine stattliche Zahl von Geliebten, Ehepartnerinnen und Kindern auf. Doch keiner Frau, keinem Kind sind mehr als ein paar Zeilen oder Nebensätze gewidmet. Auch die Freunde, mit denen er jahrzehntelang zusammenarbeitete, geistern allenfalls als Schemen durch seine Erinnerungen. Stattdessen: Weitschweifige Berichte über Andersons Engagement für die Dresdner und die Prenzlauer Künstlerszene. Dazu: lange Aufzählungen der Bücher, die er ermöglicht hat, der Ausstellungen, die er organisierte, der Rockkonzerte, bei denen er mitsang, der Keramikarbeiten, an denen er mittöpferte. Glaubt man seinem Buch, galt die ganze Konzentration Andersons zeitlebens fast ausschließlich sich selbst und seiner Karriere. Damit könnte man sich als Leser einer Autobiografie zufrieden geben, wenn Anderson tatsächlich die entscheidenden Punkte seiner Vergangenheit offen legte. Doch die Auskünfte, die er dazu gibt, bleiben nebulös. Er streitet nichts ab, aber er macht auch nie präzise Angaben über Umfang und Inhalt seiner Zuträgerei. Andererseits mangelt es nicht an Exkulpationsversuchen. Immer wieder lässt er, wie schon im persönlichen Gespräch, anklingen, dass die Verantwortung für sein Handeln nicht er selbst, sondern – wahlweise – sein nicht eben wohlgeordnetes Elternhaus, die brutalen Methoden der DDR-Polizei oder die perfiden Strategien der Stasi trugen. Daneben gibt es noch einen Haufen von Verharmlosungsversuchen: Seine Stasi-Berichte hätten dazu beigetragen, Freunde vor der Stasi zu schützen, oder die Stasi zu verwirren, oder gar die Stasi über ihre widersinnige Tätigkeit aufzuklären. Man muss Anderson zugute halten, dass er aus seiner „Unfähigkeit, zu erzählen“ kein Geheimnis macht, sondern sie offen benennt. Vielleicht würde er sein Leben gern genauer und seinen Opfern gegenüber fairer darstellen, hat es aber einfach nicht besser hinbekommen. Vielleicht. Aber wäre es dann nicht klüger gewesen, seine Erinnerungen unpubliziert zu lassen? Denn das, was er mit oft Mitleid erregender Unbeholfenheit festgehalten hat, ist gegen Ende hin schlicht skandalös. Anderson, der nicht nur in der DDR, sondern auch von West-Berlin aus für die Stasi arbeitete, musste sich nach der Wiedervereinigung wegen geheimdienstlicher Tätigkeit verantworten und wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Doch konnte er die Buße nur schwer akzeptieren: „Als es mir gut ging, wären dreißigtausend Mark keine Strafe gewesen, jetzt überstiegen die dreitausend Mark, die ich für die Einstellung des Verfahrens zahlen sollte, selbst meine Schuldgefühle.“ Will Anderson also nur eine Strafe anerkennen, die für ihn keine Strafe ist, weil es ihm gerade gut geht? Wie viel, fragt man sich unwillkürlich, ist in seinen Augen ein zwanzig Jahre währender Verrat an guten Freunden wert? Ähnliche Erfahrungen wie Anderson machte Rainer Schedlinski. Auch er berichtet vom abrupten Ende des öffentlichen Interesses an seinen literarischen Arbeiten. 1991 wurde er, so erzählt er, zu hundertfünfzig Veranstaltungen eingeladen, hundert davon nahm er wahr. Nachdem seine Stasi-Tätigkeit im Januar 1992 im Fernsehen aufgedeckt wurde, habe ihn, sagt er, nie wieder irgendjemand um eine Lesung gebeten: „Es war wie abgeschnitten.“ Offenbar galt, schließt er mit merklicher Bitterkeit, das Interesse des Publikums in den Jahren zuvor nicht seinen Gedichten, sondern einem romantischen Traumbild vom politisch verfolgten, armen Poeten aus dem rauen Osten. Er hat aus all dem radikalere Konsequenzen gezogen als Anderson und seine Arbeit als Schriftsteller beendet. Er wurde einer der Geschäftsführer des Druckhaus Galrev, zuständig vor allem für die Buchhaltung. Wenn er an literarischen Veranstaltungen teilnimmt, betrachtet er sich dort eher als Verleger, nicht mehr als Autor. Und dann beginnt auch er, wie Anderson, von allein über seine Vergangenheit als Spitzel zu reden. Seiner Stimme fehlt mit einem Mal das Volumen, die Hände wandern beim Sprechen ziellos über den Schreibtisch, und die Luft wird ihm gegen Ende der Sätze knapp. Es ist, als würde ein anderer Darsteller dieselbe Rolle mit anderen Gesten spielen: Auch er weiß, wie Anderson, auf die Frage nach den Motiven für seinen Handeln viel zu sagen und kann schließlich doch nur mit den Schultern zucken. Letztlich stehen beide vor ihrer eigenen Vergangenheit wie vor einem Rätsel. Sogar seinen ehemaligen Führungsoffizier, Oberst Reuter, hat Anderson nach seiner Enttarnung befragt, weshalb er, nach Einschätzung der Stasi mit der Stasi zusammenarbeitete. Doch Reuter konnte ihm nicht weiterhelfen, im Gegenteil, er und seine Kollegen beim MfS seien sich darüber klar gewesen, dass sich Anderson, hätte der die Stasi-Kontakte seinen Freunden gegenüber eingestanden, jederzeit aus ihrem Zugriff hätte befreien konnte, ohne einschneidende Folgen befürchten zu müssen. Aber Anderson und Schedlinski fehlte offenbar, was so viele andere Bürger der DDR hatten, die Annäherungsversuche der Stasi zurückwiesen: Mut, Verantwortungsgefühl, der Willen zur Wahrhaftigkeit. Gerade Tugenden wie diese gehören aber zu jenem glanzvollen Klischee, das hierzulande gern vom aufrechten, kritischen Schriftsteller gepflegt wird. So waren Enttäuschung und Wut besonders groß, als das Doppelspiel der beiden ruchbar wurde. Dabei gibt es etliche historische Parallelfälle. Die Verbindung zwischen Schriftstellerei und Verrat, ja Hochverrat ist nicht so selten, wie es in den Stasi-Debatten gelegentlich den Anschein hat. Während der vierziger Jahren, um nur sie als Beispiel zu nehmen, warf die KP Frankreichs ihrem Ex-Mitglied Paul Nizan – einem Erzähler und Jugendfreund Sartres – vor, Parteigeheimnisse gegen Geld an das Innenministerium geliefert zu haben. Pierre Drieu La Rochelle, französischer Romancier und Snob, kollaborierte mit den Nazis. Der norwegisch Epiker Knut Hansum schenkte Goebbels eine Medaille, die er bei der Verleihung des Literaturnobelpreises erhalten hatte und besuchte den bewunderten Hitler auf dem Obersalzberg. Und Ezra Pound, der amerikanische Poet und Homme de lettres, hielt noch in den letzten Kriegsmonaten im italienischen Radio antisemitische Hetzreden gegen die anrückenden amerikanischen Truppen. Es sind Parallelfälle, und doch gibt es bemerkenswerte Differenzen. Denn diese Schriftsteller waren Gesinnungstäter. Sie verrieten ihr Land oder ihre Weggefährten aus Überzeugung. Nizan war nach dem Hitler-Stalin-Pakt zum Gegner der KPF geworden. Drieu La Rochelle glaubte durch Kollaboration seiner Rolle als Intellektueller gerecht zu werden und brachte sich nach der Niederlage der Deutschen um. Hamsun veröffentlichte noch im Mai 1945 einen rühmenden Nachruf auf Hitler. Pound blieb seinen Ansichten treu, obwohl man ihn dafür zwischen 1945 und 1958 in Lager und Heilanstalten einsperrte. Nichts davon bei Anderson und Schedlinski. Keiner von ihnen behauptet, sich mit der Stasi eingelassen zu haben, weil er an den realen Sozialismus oder an die glorreichen Worte des großen Vorsitzenden Honecker glaubte. Mit merkwürdigem Stolz weist Anderson sogar auf Bemerkungen in seinen Spitzelberichten hin, die man als Kritik an der engstirnigen Kulturpolitik der SED verstehen kann. Fast so als wäre, was er getan hat, nicht so schlimm, weil er es ohne innere Überzeugung tat. In ihrem Buch Der Verrat im XX. Jahrhundert nennt Margret Boveri den Verrat ein bedauerliches, aber typisches Kennzeichen der Epoche. Denn, so schreibt sie, die Unzahl der Bindungen und Institutionen, die vom Einzelnen Treue und Standhaftigkeit verlangten, fügen sich heute nicht mehr zu einem schlüssigen Wertesystem zusammen. Kein Wunder, wenn sich immer mehr Menschen irgendwann in den oft gegensätzlichen Loyalitätsforderungen verhedderten und sich dann als Verräter auf der Anklagebank wiederfänden. Aber diese Entschuldigung können Anderson und Schedlinski nicht vorbringen. Sie haben nicht aus Überzeugung verraten, sondern ihre Überzeugungslosigkeit reichte offenbar so weit, dass selbst intimste Bindungen für sie massiv im Wert sanken. Kann man, parallel zur fahrlässigen Körperverletzung, von fahrlässigem Verrat sprechen? War es gerade die Leichtfertigkeit ihres Handelns, die dann den öffentlichen Abscheu über sie derart ins Riesenhafte wachsen ließ? So viele Fragezeichen, Vermutungen, Spekulationen, Hypothesen. Am Prenzlauer Berg stachelt ein Gespräch über Verrat nach wie vor die Phantasie an. Sicher ist, dass gerade Andersons Name noch immer klingt wie ein Synonym für Verrat, obwohl sich seither so viele andere wegen ähnlicher oder noch umfangreicherer Stasi-Sündenkataloge zu rechtfertigen hatten. Leute, die heute wieder munter Reden schwingen, Politik betreiben, öffentliche Ämter innehaben. Von Anderson nimmt im Literaturbetrieb jenseits seines alten Freundeskreises kaum einer mehr ein Stück Brot. Zweifellos aus guten Gründen. Bemerkenswert aber, dass es gerade ein Schriftsteller ist, an dem in diesem Fall das Exempel statuiert wird. Fast so, als würde heute von Dichtern eine Unschuld erwarten, die von Politikern längst niemand mehr einzufordern wagt. Obwohl es doch einst gerade die Künstler und Autoren waren, denen die Freiheit der Narren eingeräumt wurde.

Der Artikel erschien in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 4. Juli 1998</em>

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Ränkespiele der Macht

Mit dem Gentleman ist nicht zu spaßen – ein Besuch bei Eric Ambler, dem Erfinder des modernen Geheimdienstthrillers

Der ältere Herr im Sessel gegenüber wirkt freundlich und sanft. Ein englischer Gentleman mit leiser Stimme, ironischem Lächeln und einem Glas Whiskey in der Hand. Höflich gibt er Auskunft über sein Leben. Auf Fragen nach beruflichen Erfolgen antwortet er kurz, ausführlicher berichtet er über seine Erfahrungen als Offizier im Zweiten Weltkrieg, am liebsten aber redet er von seinen Reisen, die ihn in fernste Weltgegenden geführt haben, und von den ausgedehnten Lektüre-Exkursionen, mit denen er sich auch entlegene Winkel der Geschichtswissenschaft erschlossen hat. Gern wäre er Historiker geworden, sagt er, aber – fügt er mit der feinen Melancholie hinzu, die zum gepflegten Lebensrückblick gehört – es sei eben anders gekommen. Zwei Dinge hält man kaum für möglich in der entspannten Atmosphäre, die dieser so bescheidene, ruhige Herr um sich zu verbreiten versteht. Erstens, daß er einer der Größten seines Fachs ist, ein Schriftsteller von Weltruhm, der das Genre des Geheimdienstthrillers von Grund auf umgekrempelt hat und ein paar der hellsichtigsten politischen Romane unseres Jahrhunderts schrieb. Zweitens, zu welch einer schneidenden Entschlossenheit dieser Mann fähig ist, wenn es um seine Arbeit geht. Denn in diesem Punkt ist mit dem Gentleman nicht zu spaßen. 18 Romane hat Eric Ambler bislang veröffentlicht. Sie haben eine Gesamtauflage von etwa 50 Millionen erreicht, und der Name ihres Autors wird weltweit mit Ehrfurcht genannt. Und doch ist heute in seiner Heimat England kein einziges seiner Bücher lieferbar. Ambler selbst hat dafür gesorgt, daß sie aus den Regalen der Buchhandlungen verschwanden. Der Anlaß für diese Entscheidung nimmt sich geringfügig aus. Aber er ist ein gutes Indiz dafür, mit welch besessenem Ernst dieser Mann seiner Arbeit nachgeht. In einer Taschenbuchausgabe des Romans „Mit der Zeit“ hatte sein englischer Verlag das Motto des Buches wegfallen lassen – um Papier und also Geld zu sparen oder weil dieser Prolog entbehrlich schien oder einfach aus Schlamperei. Gleichviel, für Ambler war das Grund genug, die Rechte an allen seinen Büchern vom Verlag zurückzufordern und sie vom Markt zu nehmen. Seither zählen sie zu der begehrtesten Ware in den Antiquariaten des Landes. Erst als Amblers Agent kürzlich einen neuen Verlag fand, der mit den Büchern so umzugehen versprach, wie es der Autor erwartet, ist für seine Leser in England das Ende der Dürre in Sicht. Ambler ist ein Perfektionist, der lieber auf alle seine Bücher verzichtet, als ein einziges mit einem solchen Fehler gedruckt zu sehen. Aber dieser Perfektionismus ist es auch, der seinem Werk seinen Rang verliehen hat. Denn Ambler recherchiert für seine Romane so gründlich und genau, daß er einmal sogar die Neugier des englischen Geheimdienstes erregte. Die Profis des Nachrichtengewerbes waren derart beeindruckt von der Präzision, mit der er eine ausländische Sperrzone beschrieb, daß sie ihn vertrauensvoll nach seinen Informationsquellen befragten. Amblers Antwort dürfte sie überrascht haben: Er hatte sein Wissen Punkt für Punkt aus öffentlich zugänglichen Bibliotheken und Nachschlagewerken zusammengetragen. Manche seiner Romane sind geradezu Musterbeispiele für die Erkenntnis, daß politische Prophetie wenig mit Zauberei, dafür aber viel mit sorgfältiger Recherche und einer nüchternen Analyse der Fakten zu tun hat. So stellte Ambler in seinem ersten Roman die grauenhaften Folgen der Atombombe dar und die Machtgelüste, die sich an den Besitz von Nuklearwaffen heften – rund acht Jahre, bevor die Bombe tatsächlich erfunden wurde. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg entdeckte er in „Nachruf auf einen Spion“ die prekäre soziale Lage der Exilanten und Migranten als zentralen literarischen Gegenstand. Und die Begeisterung arabischer Potentaten für Giftgas machte er schon 1981 zum Thema seines Romans „Mit der Zeit“, lange bevor Gaddafis und Saddam Husseins Gasfabriken von westlichen Nachrichtendiensten aufgespürt wurden. Schon oft hat man Ambler nach den Quellen seiner politischen Vorahnungen gefragt. Auf so etwas reagiert er mit britischem Understatement und mit dem Hinweis auf Informationen, die für jedermann erreichbar sind. Allerdings seien, so deutet er dann an, nur wenige Menschen bereit, sich den offensichtlichen Fakten wirklich zu stellen. In seinen Romanen ist er oft gerade diesen seltenen und seltsamen Leuten auf der Spur, die ihre Augen vor den Tatsachen nicht verschließen. Es sind bemerkenswerte, aber nicht sehr angenehme Zeitgenossen. Sie erreichen, woran fast alle anderen scheitern, sie überleben, wo zahllose andere ihr Leben lassen. Und wenn sich ihr Realitätssinn zudem noch mit der Fähigkeit paart, auf andere keine Rücksicht zu nehmen, dann werden sie in Amblers Romanen zu menschlichen Monstern, die uns etwas von den Ursachen der großen Verbrechen dieses Jahrhunderts ahnen lassen. Die Hauptfiguren in Amblers Büchern aber sind ganz anders. Dr. Frigo zum Beispiel, der Held des gleichnamigen Romans, ist ein solider Mediziner, der auf einer karibischen Insel in einen Staatsstreich hineingezogen wird. Irgendwann muß er feststellen, daß ihn die Verschwörer zu einem Minister in ihrer neuen Regierung machen wollen. Doch das Spiel der Macht – mitsamt den Risiken, die es für Putschisten bereithält – besitzt für ihn wenig Verlockung. Also setzt er alles daran, dem politischen Ränkespiel ins Exil und in sein altes Leben als Arzt zu entkommen. Vermutlich macht dies einen Großteil des Reizes seiner Bücher aus: Ambler schreibt nicht aus der Perspektive kaltschnäuziger Agenten oder genialer Geheimdienstchefs. Seine Helden sind alltägliche Menschen, die zufällig oder aus Leichtsinn in irgendwelche schmutzigen Machenschaften hineingezogen werden. Für wenige Wochen, Tage oder auch nur Stunden haben sie dabei Gelegenheit, aus nächster Nähe mitzuerleben, wie Geschichte gemacht wird. Sie schauen jenen Monstern, die Ambler so faszinieren, auf die Finger – und es wird ihnen schnell klar, daß sie beim Umgang mit derartigen Menschen nur eine minimale Chance haben, am Leben zu bleiben. Der Gentleman im Sessel gegenüber nimmt einen großen Schluck aus seinem Whiskeyglas und lehnt sich zurück. 88 Jahre ist er jetzt alt und arbeitet an einem neuen Roman. Vielleicht könne er ihn, meint er, bis zum Sommer fertigstellen. Aber vermutlich wird er das Manuskript vorher wegwerfen. Denn er sei nicht sicher, fügt er hinzu, ob das Buch wirklich so gut werde wie seine anderen.

Das Porträt erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ vom 11. Mai 1998

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