Merkwürdiger Heiner Müller

Eine Biografie bringt alles über sein Leben – und doch zu wenig

Der beste Heiner-Müller-Biograf wäre natürlich Heiner Müller selbst gewesen. Nicht nur weil er sich vermutlich ganz gut auskannte in der eigenen Vergangenheit. Er besaß auch den nötigen Zynismus und die Freude an Absurditäten, die es braucht, um sein Leben effektvoll zu beschreiben. Müller, der Dialektiker, liebte Gegensätze, Widersprüche und Konflikte, sie seien es, die alle Entwicklungen vorantreiben. Schon deshalb müsste ein Biograf Müllers vor allem die inneren Widersprüche, die Absurditäten dieses Lebens in den Mittelpunkt stellen. In Jan-Christoph Hauschilds 600-seitiger Biografie klingen sie an. 1. Müllersche Merkwürdigkeit: Fast alle Zeugnisse aus der Zeit der Kindheit und Jugend Müllers beschreiben den kleinen Heiner als dünnhäutig und sanft. Er sei, berichten Schulfreunde, ein „zurückhaltender, nachdenklicher“ Junge gewesen, der „fast mädchenhafte Züge an den Tag legte“ und jeden Streit vermied. Aus diesem Kind wird jedoch ein Dramatiker, der nach eigenen Worten an nichts anderes glaubt als an Konflikte. Der vierzig Jahre im Dauerdissens mit den Kulturpolitikern der DDR lebt und nach 1989 seinen Widerwillen gegen die westliche Welt („die von der Deutschen Bank unterhaltene Demokratie der BRD“) lustvoll zelebriert. Der in seinen Stücken den denkbar kaltherzigsten Umgang mit Menschen ausstellt und vorzugsweise die inhumanen, mörderischen Züge einer auf Humanität zielenden Revolution beschwört. Muss man Müller also zu jenen Intellektuellen zählen, die, selbst überaus sensibel und zu Gewalt völlig unfähig, geistig von jeder Spielart der Gewalt angezogen werden und schon deshalb in ihrem politischen Denken kriegerisch-revolutionäre Lösungen weitaus faszinierender finden als friedlich evolutionäre? 2. Müllersche Merkwürdigkeit: Müller, der ehemals so empfindsame Junge, gibt sich zeitlebens wenig Mühe mit Menschen, von denen man annehmen könnte, sie stünden ihm nahe. Die Mutter seines ersten Kindes heiratet er in den fünfziger Jahren nach der Scheidung gleich noch einmal, doch vermutlich nicht aus Liebe, sondern aus finanziellen Gründen. Zumindest hält er sich Frau und Tochter sowohl in der ersten wie der zweiten Ehe möglichst vom Leib. Seine dritte Frau Inge Müller macht er zunächst zur Mitarbeiterin seiner Stücke, um ihre Beiträge zu den gemeinsamen Werken später in Interviews wortreich kleinzureden. Nach dem Selbstmord Inge Müllers bekommt deren neunzehnjähriger Sohn Bernd seinen Adoptivvater Heiner kaum noch einmal zu Gesicht. Immer wieder wendet sich Müller von Freunden oder Familienmitgliedern ab, vergisst sie über Jahre hinweg wie alte, abgelegte Hüte. Dagegen fliegen Müller, zumal im Theater, die Herzen anderer Menschen ohne weiteres zu. Oft schart er ausufernde Freundeskreise um sich, die ihn bewundern und verehren. Noch seine Beerdigung wurde zu einer eindrucksvollen Demonstration der Zuneigung, die ihm viele Prominente und Nicht-Prominente entgegenbrachten. Gehörte Müller also zu jenen Menschen, die sich, gerade weil sie selbst nur wenige emotionale Bindungen haben, als Projektionsfiguren für die Gefühle anderer vorzüglich eignen? 3. Müllersche Merkwürdigkeit: Müller war zweifellos ein ausgeprägter Skeptiker. Er hatte, wie er sagte, „großen Spaß daran, Illusionen zu zerstören“. Doch an einer Illusion hielt er konsequent fest: an der Idee der politischen Wirksamkeit des Theaters. Seine jahrzehntelange Arbeit an Produktionsdramen und Lehrstücken in Brechtscher Tradition ist ohne den festen Glauben, via Bühne in die Politik hineinwirken zu können, nicht zu begreifen. Zu Anfang seiner Karriere, als er in seiner Heimat mit Verboten überhäuft wurde, konnte er sich vielleicht noch in der Vorstellung bestätigt fühlen, die eigene Arbeit sei purer Sprengstoff für die geschlossene Gesellschaft der DDR. Doch wenn man sich vor Augen stellt, dass Müller Ende der achtziger Jahre, also im Zeitalter der elektronischen Massenmedien, wieder aufs Lehrstück zurückgriff, um mit Theaterarbeiten („Wolokolamsker Chaussee“) die inneren Reformen des erstarrten Sozialismus voranzutreiben, dann ist es schwer, sich ein leichtes Kopfschütteln zu verkneifen. War Müller also einer jener Schriftsteller, die, obwohl sie die Welt mit programmatischer Kälte und Nüchternheit beschreiben, sich mit Blick auf die eigene Arbeit den erstaunlichsten Täuschungen hingeben? 4. Müllersche Merkwürdigkeit: Nur wenige marxistische Schriftsteller haben nach der Implosion des Ostblocks so radikal wie Müller mit den sozialistischen Staaten abgerechnet, die ihren Bürgern immer neue Opfer für den Aufbau einer utopischen kommunistischen Zukunft abverlangten: „Die Opfer sind gebracht worden, aber sie haben sich nicht gelohnt. Es ist nur Lebenszeit verbraucht worden. Diese Generationen sind um ihr Leben betrogen worden, um die Erfüllung ihrer Wünsche. Für ein Ziel, das illusionär war.“ Dennoch hat sich Müller wie kaum ein anderer Schriftsteller oder Intellektueller nicht nur zu einem Nachlassverwalter der DDR-Kultur machen lassen, sondern zu einer Symbolfigur des geschichtsphilosophischen Schmollens: Nie brachte er es fertig, den Zugewinn an Freiheit, den die Wende für die Menschen im Ostblock mit sich brachte, als einen seltenen historischen Glücksfall zu preisen. Er war vielmehr immer darauf bedacht, die Auflösung der weltweiten Konfrontation zwischen Ost und West – und damit das geringer gewordene Risiko einer nuklearen Totalvernichtung – als Symptom des Verfalls und erst recht einer nahenden Katastrophe zu deuten. Kann man Müller also zu jenen Schriftstellern rechnen, die, obwohl sie immer wieder von der Utopie einer besseren, gerechteren Welt schreiben, im Grunde psychisch abhängig sind von der Vorstellung, in der übelsten aller denkbaren Welten zu leben? Die – wie Jean Genet einmal gesagt hat und wie Müller zitierte – möchten, dass die Welt so schlecht bleibt, wie sie ist, damit sie weiter gegen sie sein können? Natürlich lassen sich in Müllers Leben noch weit mehr Merkwürdigkeiten finden, und natürlich sind die hier vorgeschlagenen Deutungsversuche nicht die einzigen. Müller hatte noch weit mehr intellektuelle Spannungsherde oder bizarre Verhaltensmuster zu bieten. Fast alle kommen sie in der einen oder anderen Form in Hauschilds und materialreichen und schon deshalb verdienstvollen Biographie vor. Doch hat Hauschild diese Widersprüche, die doch wunderbaren Erzählstoff hergegeben hätten, unter einer Flut von Fakten und Daten begraben. Alles, was er schreibt, ist gut recherchiert und richtig, doch nur wenig ist plastisch herausgearbeitet oder zu einer einprägsamen biografischen These zugespitzt. Im vergangenen Jahr hat Jan-Christoph Hauschild bereits (als Rowohlt-Monografie) eine viel schmalere, konzentriertere Müller-Biografie vorgelegt. Sie liest sich in Hauschilds eher positivistischen als lebendigen Darstellungsweise wie ein angenehm knapper Lebensüberblick. Auf 530 Seiten samt Anhang wirkt seine sachliche Zurückhaltung jedoch ziemlich öde.

Jan-Christoph Hauschild: „Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel“. Biographie Aufbau Verlag, Berlin 2001 619 S., 59,90 Mark.

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Fabelhaft schön, fabelhaft reich

John le Carrés „Der ewige Gärtner“ ist ein überraschendes Beispiel für engagierte Literatur

John le Carré ist nicht nur ein weltweit berühmter Bestsellerautor. Er ist zudem ein bedeutender Schriftsteller – was bei Bestsellerautoren nicht gerade üblich ist. Wer je „Der Spion, der aus der Kälte kam“ gelesen hat und danach zu einem Buch griff von Tom Clancy, Michael Crichton, John Grisham oder eines anderen Erfolgsschreibers vergleichbaren Kalibers, der kennt den Unterschied: John le Carré wittert nicht nur frühzeitig Themen, die ein oder zwei Jahre später – nach Fertigstellung des Romans – das öffentliche Bewusstsein der westlichen Hemisphäre beschäftigen und versteht es nicht nur, spannende Plots zu erfinden. Er hat darüber hinaus zwei Fähigkeiten, die vielen seiner Konkurrenten abgehen: Er schreibt eine traumhaft sichere, differenzierte, weltkluge Erzählprosa. Und er kann aus nichts als Sprache lebendige Charaktere entstehen lassen: glaubwürdige, weil komplexe Gestalten, die sich der Erinnerung des Lesers einprägen oder, wie im Falle George Smileys, zu einer geradezu mythischen Verkörperung einer ganzen Epoche aufsteigen. Das große, respektgebietende Romanwerk le Carrés ist inzwischen zu einer gültigen literarischen Chronik der politischen Kontroversen und Verwerfungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herangewachsen: Nicht nur des Kalten Krieges in Europa, sondern auch regionaler Spannungsherde, ob sie nun im Nahen Osten („Die Libelle“), im Kaukasus („Unser Spiel“) oder in Mittelamerika („Der Schneider von Panama“) liegen. Immer wieder ist es ihm gelungen, die ideologischen oder militärischen Konflikte, in denen seine Helden stehen, als Konflikte in deren Psyche zu spiegeln. Ein Spion, also ein professioneller Verräter, wird auch zum Verräter seiner selbst, der eigenen Ideale: Das ist die Lehre, der le Carrés Romane nicht müde werden in allen subtilen Spielarten nachzuspüren. Aber immer wieder einmal sind le Carré, dem Meisterhaften, auch unmeisterliche, zweitrangige Werke unterlaufen. Er weiß das und macht im Gespräch keine Geheimnis daraus. Nun will es das Unglück, dass er ausgerechnet in diesem Jahr, dem Jahr seines 70. Geburtstags, einen Roman veröffentlicht hat, der ihn nicht auf der Höhe der eigenen Möglichkeiten zeigt. „Der ewige Gärtner“ ist ein ungemein lesbares, in einigen Passagen auch gelungenes, alles in allem aber literarisch dürftiges Buch. Das liegt vor allem an Tessa und ihrem Mann Justin, den beiden Hauptfiguren des Romans. Justin, ein distinguierter mitvierzigjähriger Brite, arbeitet im diplomatischen Dienst Ihrer Majestät. Bei einem Vortrag an einer Universität lernt er eine zwanzig Jahre jüngere, fabelhaft schöne, fabelhaft kluge, fabelhaft reiche Frau kennen – eine fabelhaft seltene Kombination, der man gewöhnlich eher in Kitschromanen begegnet. Die beiden verlieben sich, und die vielbegabte Tessa hat nichts Besseres zu tun, als Justin zu heiraten und auf einen öden Diplomatenposten nach Kenia zu begleiten – wo sie nichts erwartet als dumpfe Langweile und oberflächliche Diplomatengattinnen. Kein Wunder, dass Tessa sich andere Aufgaben sucht. Zusammen mit einem gutaussehenden afrikanischen Arzt spürt sie den Machenschaften europäischer Pharmakonzerne in Afrika nach – mit zwei ziemlich erwartbaren Ergebnissen: Die Geschäfte der Chemiegiganten mit den oft aidskranken Einheimischen sind mitunter nicht ganz lauter, und die kleine britische Gemeinde in Nairobi ergeht sich bald in den menschenfreundlichsten Vermutungen über das Verhältnis zwischen Tessa und ihrem ständigen schwarzen Begleiter. Besonders prächtig ins Kraut schießen die Gerüchte, nachdem Tessa auf einer ihrer eigenmächtigen Kontrollreisen, durch die sie die üblen Geschäfte der weißen Medizinmänner auszuforschen versucht, vergewaltig und ermordet wird. Woraufhin Justin – der vor der Gefahr, in der seine Frau schwebte, die Augen und vor der sie betreffenden üblen Nachrede die Ohren fest verschloss – nun Tessas Platz einnimmt und ihre Recherchen nachzuvollziehen und zu Ende zu bringen versucht. Leider schafft es le Carré nicht, seine Figuren eine überzeugende Entwicklung durchleben zu lassen. Sie sind fast so flach wie die Helden eines TV-Serienkrimis. Beide haben notorisch das Herz auf dem rechten Fleck, vertrauen einander blind, widerstehen allen erotischen, finanziellen oder beruflichen Versuchungen – und treffen immer wieder Menschen, die ihrerseits das Herz auf dem rechten Fleck haben, oder sich schnell als Finsterlinge mit schlechten Manieren entpuppen. Natürlich finden sich bei einem Könner wie le Carré zwischendurch immer wieder einzelne Szenen, die einschüchternd gut und originell sind. Das erste Kapitel, in dem die Nachricht von Tessas Tod das Britische Hockkommissariat in Nairobi erreicht, ist grandios und belegt noch einmal die unglaubliche Fähigkeit dieses Autors, den Organismus diplomatischer Auslandsvertretungen zu literarischem Leben zu erwecken. Auch vor der Charakteranalyse des lüsternen Biedermanns und Karrieristen Sandy Woodrow, eines Kollegen Justins, müssten, wenn die Welt gerecht wäre, etliche andere Schriftsteller neidvoll ins Knie sinken. Doch von solchen Partien abgesehen, überspült die verständliche Wut le Carrés auf westliche Konzerne, die aus der unaussprechlichen Not todkranker Afrikaner ihren Vorteil ziehen, jede literarische Differenzierung. Die Welt zerfällt ihm in diesem Buch in gut und böse. Die Grauwerte zwischen schwarz und weiß, die er sonst so virtuos zu setzen weiß, fehlen. Früher belegte man Romane wie diesen gern mit einem Etikett, dass inzwischen aus der Mode gekommen ist: engagierte Literatur. Bücher, die stark in ihrer Gesinnung sind und schwach in ihrer Gestaltungskraft.

John le Carré: „Der ewige Gärtner“. Roman
Aus dem Englischen von Werner Schmitz List Verlag, München 2001 560 S., 44,90 Mark.

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„Kismet“

 Jakob Arjounis Roman ist hinreißend und hat einen Schönheitsfehler

Jakob Arjouni ist, das hat sich inzwischen herumgesprochen, eine der größten Hoffnungen der deutschen Kriminalliteratur. 1985 veröffentlichte er im Alter von gerade 21 Jahren in einem Hamburger Kleinverlag seinen ersten Krimi: „Happy Birthday, Türke!“ Schon der zweite, „Mehr Bier“, erschien 1987 bei Diogenes in Zürich – und die Feuilletons überschlugen sich vor Begeisterung. Kein Vergleich schien zu hoch gegriffen, kein Bezug zu kühn, um seine beiden ersten Arbeiten ins rechte Scheinwerferlicht zu rücken. Selbst den Olympiern des Hardboiled-Genres, Dashiell Hammett und Raymond Chandler, wurde er in manchen Rezensionen nassforsch an die Seite gestellt. Allerdings ist Arjouni ein ruhiger, bescheidener Mann und kann nichts dafür, wenn einige Kritiker bei der Beurteilung von Kriminalromanen nur über sehr wenige Vergleichsgrößen verfügen und also gebetsmühlenartig die immer gleichen beiden Namen herunterbeten. Geschadet hat das Arjouni gewiss nicht. 1991 wurde sein Erstling von Doris Dörrie verfilmt, im Jahr darauf erhielt er, nachdem sein dritter Roman erschienen war, den Deutschen Krimi-Preis. Nun ist der vierte da: „Kismet“. Wie es sich für Serientäter seiner Profession gehört, hat Arjouni seinen vier Krimis den gleichen Helden gegeben, den deutsch-türkischen Privatdetektiv Kemal Kayankaya, und sie am gleichen Schauplatz, Frankfurt am Main, angesiedelt. Diesmal geht es um eine geheimnisvolle Bande stummer Schutzgelderpresser mit Perücken und die verschwundene Mutter eines kleinen Mädchens. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Bänden fließt in dem neuen jede Menge Blut – nichts für allzu zarte Gemüter. Die unbezweifelbaren, die hinreißenden Talente Arjounis sind auch in „Kismet“ auf jeder Seite spürbar. Es gibt kaum einen jungen deutschsprachigen Schriftsteller – und auch nur wenige ältere -, die so milieusicher sind wie er. Arjouni kann mit wenigen Worten Figuren, ihr Schicksal und ihren Habitus staunenswert plastisch einfangen und hält sich doch fern von platten Typisierungen. Er ist ein Meister der Skizze – und der Karikatur -, der mit sparsamsten Mitteln auskommt. Dazu hat Arjouni einen begnadeten Sinn für Dialekte und Dialoge des Alltags. Fast nichts davon ist, wie das Klischee so gern behauptet, dem Leben abgelauscht. Das allermeiste verdankt sich vielmehr einer entschlossenen Verknappung und stilistischen Perfektion – ist also eine veritable künstlerische und keine stimmenimitatorische Leistung. Würden wir einem Menschen begegnen, der redete wie Arjounis Figuren, würden wir sie wohl wegen ihrer überzogenen Coolness, ihrer knappen Pointen als seltsam stammelnde pathologische Fälle betrachten. Gelesen dagegen klingt jedes Wort glaubhaft und nach authentischem Halbweltjargon. Zu allem Überfluss hat Arjouni einen wunderbar grimmigen Witz und den nötigen Mut zur Übertreibung, ohne die ein Krimi in der Tradition der Schwarzen Serie nur das halbe Vergnügen ist. Als sein Held Kayankaya in „Kismet“ von zwei Killern verfolgt und gestellt wird, gelingt es ihm, die beiden mit ihrem eigenen Wagen gleichsam an die Wand zu heften und dazu noch ein halbes Haus in Schutt und Asche zu legen. Sehr realistisch ist das nicht – aber sehr komisch. So deutlich Arjounis Talente sind, so deutlich ist aber auch seine entscheidende Schwäche: Er hat die mitunter enervierende Neigung, in seinen Romanen gut gemeinten politischen Nachhilfeunterricht zu betreiben. Immer wieder konfrontiert er seinen Helden mit ausländerfeindlichen Ressentiments irgendwelcher dumpfen Deutschen – die Kayankaya dann regelmäßig mit fabelhaft flotten Sprüchen oder sarkastischen Kommentaren bloßstellt. Ja, er geht so gar so weit, Kayankaya nicht nur ein strenges moralisches Koordinatensystem mitzugeben (wonach das Genre verlangt), sondern auch ein klares parteipolitisches Weltbild zu verpassen (was, zumal mit Blick auf die wachsende Verwechselbarkeit der beiden großen deutschen Volksparteien, ein wenig lächerlich wirkt). Wie kaum eine andere Form des Romans zielt gerade der Krimi auf die Schattenseiten, die Abgründe, die verborgenen, verleugneten Aspekte einer Gesellschaft. Das Genre lebt im doppelten Sinn vom aufklärerischen Impuls des Detektivs: Er macht nicht nur die jeweiligen Täter dingfest, sondern deckt auch unbequeme Wahrheiten auf, über die in aller Öffentlichkeit nicht gern gesprochen wird. Doch an diesem Punkt scheint Arjouni gelegentlich seine Courage zu verlassen. So erzählt er in „Kismet“ von den Brüdern Schmitz (die erfahrene Kayankaya-Leser bereits kennen), die in den achtziger Jahren den Frankfurter Bahnhofs- und Rotlichtdistrikt beherrscht hätten. Diese Figuren hat Arjouni nicht völlig frei erfunden. In den achtziger Jahren wurden in Frankfurt tatsächlich zwei Brüder als die Bordell- und Glücksspielkönige bekannt, die über beste Verbindungen zur politischen Führung der Stadt verfügten: Chaim und Hersch Beker, zwei russischstämmige Juden, von denen der eine, Hersch, sich für einige Jahre vor den Nachstellungen der deutschen Justiz in Israel in Sicherheit brachte. Bemerkenswert ist, dass Arjouni von diesen (vor allem in Deutschland) politisch heiklen Aspekten der Affäre Beker in „Kismet“ nichts erwähnt: Zwei jüdische Zuwanderer, die sich zu den Herrschern der Frankfurter Unterwelt aufwerfen – das möchte Arjouni dem überaus korrekt geordneten Erfahrungshaushalt seines Helden offenbar nicht zumuten. Doch damit unterfordert er nicht nur seine Leser, sondern, was schlimmer ist, auch die Form des Kriminalromans, der eben auf die sonst gern verheimlichten Elemente unserer Wirklichkeit aus ist. Eric Ambler beispielsweise, das britische Genie des Thrillers, machte nur acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen überaus durchsetzungsfähigen deutschen Soldaten, eine blonde Bestie par excellence, zur Hauptfigur seines Romans „Schirmers Erbschaft“. Mehr noch: Er ließ eine ehemals von den Nationalsozialisten verfolgte hochintelligente Frau dem skrupellosen Charme seines Helden erliegen. Ambler fügte damit der Spannung seiner Story die Spannung der politischen Provokation hinzu. Dagegen wird die Handlung von Arjounis Romanen durch seine ängstlich um klare politische Frontverläufe bemühte Weltsicht mitunter vorhersehbar und also spannungsärmer.

Jakob Arjouni: „Kismet“. Roman Diogenes Verlag, Zürich 2001 288 S., 36,90 Mark.

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Die langweilige Liebe der Terroristen

Leander Scholz‘ Roman „Rosenfest“  

Mein Gott, was für ein kümmerlicher Roman. Es fällt schwer, an Leander Scholz‘ „Rosenfest“ einen positiven oder auch nur diskussionswürdigen Aspekt auszumachen. Ich habe es versucht, ich bin gescheitert. Dieses Buch ist in meinen Augen so platt wie eine „Bravo“-Homestory über den neuesten Lover von Jenny Elvers – mit dem Unterschied, dass ein „Bravo“-Bericht besser geschrieben sein müsste als „Rosenfest“. Einen so sprach-, hilf- und ahnungslosen Roman wie diesen habe ich lange nicht in Händen gehalten. Unübersehbar spekuliert Scholz auf den sensationellen zeitgeschichtlichen Hintergrund seines Buches. Er gibt vor, die Liebesgeschichte zwischen Gudrun Ensslin und Andreas Baader – den beiden Terroristen der ersten RAF-Generation – noch einmal romanhaft zu erzählen. Dabei geht er allerdings so frei mit seinen Figuren und den historischen Fakten um, dass sich das Buch fast völlig von den tatsächlichen Geschehnissen ablöst. Dagegen wäre nicht das Geringste einzuwenden, wenn Scholz statt dessen zwei irgendwie bemerkenswerte Romancharaktere schilderte und eine irgendwie bemerkenswerte Romanhandlung ersonnen hätte. Doch seine Figuren und deren Erlebnisse sind derart banal und nichtssagend, dass ich mitunter ganz erschüttert vor diesem Buch saß. Um ein Beispiel zu geben: Das verliebte Paar reist, nachdem es in Frankfurt ein Kaufhaus angezündet hat, nach Paris und erwacht am Morgen nach der Ankunft. Wir Leser werden daraufhin Zeuge des folgenden ergreifenden Dialogs: „Morgen.“ „Morgen.“ „Wie geht’s?“ „Gut.“ „Hast du gut geschlafen?“ „Sehr gut. Und du?“ „Ebenso. Ausgezeichnet.“ „Möchtest du Kaffee?“ „Gerne.“ Undsoweiterundsofort. Man fasst es nicht. Scholz drischt seitenweise solch dürres Stroh. Nichts wird durch seine Prosa nachvollziehbar oder gar anschaulich, nicht die Atmosphäre der prekären Jahre zwischen 1968 und 1972, nicht die psychische Verfassung von Menschen, die einer ganzen Gesellschaft den Krieg erklären. Allenfalls eins ist nicht zu übersehen: Das die Köpfe der Figuren ungefähr so hohl sind wie dieser Dialog. Die Idee des Romans – wenn bei diesem Buch von einer Idee die Rede sein kann – lässt sich auf der Rückseite einer Briefmarke notieren: Scholz schildert seine Ensslin und seinen Baader als ein leicht wirres, leicht hysterisches, hauptsächlich aber ineinander vernarrtes Paar, das kaum je politische Gespräche führt oder politische Gedanken denkt. Dennoch werden die beiden Liebesleute nach ihrem ersten Brandanschlag von Presse und Polizei regelrecht in die Rolle von Staatsfeinden gedrängt. Weshalb aber die zwei, wenn doch Politik in ihrem Leben offensichtlich kaum einen Raum einnimmt, zuvor an Demonstrationen teilnahmen und in Kaufhäusern zündeln, darüber lässt Scholz seine Leser ebenso im Dunkeln wie über die finsteren Antriebe der Journalisten und Staatsschützer. (Wobei es, um es noch einmal zu sagen, nicht um historische Richtigkeit geht, sondern um literarische Plausibilität). Doch wer wollte es Scholz zumuten, sich um angemessene Motivationen seiner Figuren zu kümmern, wenn er doch schon so große Probleme hat mit der deutschen Sprache zurecht zu kommt. In seinem Roman weiß beispielsweise eine Telefonistin, „dass sich hinter den meisten Drohanrufern nur Wichtigtuer oder gestörte Psychen verbergen“, obwohl sich doch schwerlich hinter einem Anrufer eine Psyche verbergen kann. Da winkt Che Guevara „den entlaubten Vietcong zu“. Da erschreckt ein ehemaliger Liebhaber Gudrun Ensslin so, dass sie „einen gestörten Sprung von ihm weg“ macht und wenig später findet er „selbst kein Nest in der Mauer, die Gudrun jetzt hinter sich hochziehen will“. Dieses komplette schriftstellerische Desaster überrascht auch deshalb, weil Leander Scholz der Ruf vorangeht – oder vorangeschickt wird – ein hoffnungsvoller Nachwuchsautor zu sein. Vielleicht kann er tatsächlich, wie berichtet wird, glänzend über Literatur diskutieren. Zu der Vermutung, er könne Literatur schreiben, gibt dieser Roman meines Erachtens keinen Anlass. Ich habe in „Rosenfest“ nicht einen Satz gefunden, den sich zu lesen lohnte.

Leander Scholz: „Rosenfest“. Roman
Carl Hanser Verlag, München 2001. 246 S., 35 Mark

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„Denkt“

David Lodge und das reizvolle Unglück des Seitensprungs

Einen neuen Roman von David Lodge aufzuschlagen, ist wie einen alten Freund zu besuchen. Einen klugen, höflichen Freund, der uns mit den Gedanken und Leseerfahrungen, die sich seit unserer letzten Begegnung bei ihm angesammelt haben, aufs Angenehmste zu unterhalten versteht. Ein solcher Besuch ähnelt mehr der Rückkehr zu einem Teil der eigenen Vergangenheit als der Expedition in unerforschte Weiten. Er ist eher Rast als Abenteuer. Begriffe wie diese klingen, werden sie auf einen Roman angewandt, nach vergifteten Komplimenten. Das Vokabular, in der sonst lobend über Literatur geredet wird, ist heroischer gestimmt. Da gibt es kaum ein Buch, das nicht verspräche, mit dem Leser zu wahren Höllenritten durch fremde, bizarre Sphären aufzubrechen. Aber, Hand aufs Herz, auch die Einladung zum permanenten Aufbruch ins Unbekannte nutzt sich ab und ermüdet. Nicht nur Expeditionen in ferne Welten können da zu einem intensiven Erlebnis werden, sondern genauso der Besuch bei einem vertrauten Freund. Wer wüsste nicht nach etlichen Abenteuern eine Rast zu schätzen. David Lodge liebt es, in seinen Büchern die unterschiedlichsten Milieus aufeinandertreffen zu lassen. In seinem Roman „Saubere Arbeit“ hat eine Literaturwissenschaftlerin mit Dekonstruktivismus-Fimmel eine Affäre mit einen rauhbeinigen Industriemanager. In „Neueste Paradies Nachrichten“ findet ein Theologe mit Glaubens- und Sexualnöten die Liebe seines Lebens ausgerechnet im Touristentrubel von Hawaii. In seinem neuen Roman „Denkt“ begegnet eine introvertierte, früh verwitwete Schriftstellerin einem dröhnenden Wissenschafts-Karrierist, dessen Gedanken ausschliesslich um seinen nächsten Fernsehauftritt und den nächsten one-night-stand zu kreisen scheinen. Bei vielen Schriftstellern wirken solche extravaganten Konstellationen wie sterile literarische Versuchsanordnungen. Doch Lodge ist ein überaus präziser Handwerker, der große Sorgfalt darauf verwendet, seine Figuren mit Leben zu erfüllen. Das merkt man auch diesem Buch an: Liebevoll hat er seine Geschöpfe mit charakteristischen Tonlagen, eigentümlichen Ticks und komplexen Biografien ausgestattet. So wird man von den beiden schnell hineingezogen in das älteste und verwickeltste Spiel, das Erwachsene miteinander spielen: den Flirt. Der erfahrene Lodge-Leser erkennt viel von dem wieder, was ihm schon in anderen Romanen dieses Autors begegnete: Lodges ironische, aber selten bissige Kritik am Dekonstruktivismus; seine Reminiszenzen an einen anfangs wie selbstverständlich gelebten katholischen Glauben, der plötzlich verlorenen ging; und die uferlosen Reflexionen über das banale Glück ehelicher Treue und das reizvolle Unglück wild bewegter Seitensprünge. Zudem liebt es Lodge, gelegentlich als ein demonstrativ traditionalistischer Autor aufzutreten. So will er in diesem Roman offensichtlich nicht nur eine Geschichte erzählen, sondern sein Publikum zudem über ein Sachthema informieren. Wie Melville seinen Lesern in „Moby Dick“ Kenntnisse über den Walfang vermittelt, so lässt Lodge in sein Buch einiges Wissen über Künstliche Intelligenz, Robotik und den aktuellen Stand der Erforschung des menschlichen Bewusstseins einfließen. Denn Ralph, jener nervtötend erfolgsverwöhnte Universitätscasanova, ist ein Kognitionswissenschaftler, der den letzten Geheimnissen des menschlichen Denkens auf die Spur kommen möchte, indem er es im Computer simuliert. Der Flirt zwischen ihm und Helen, der leidgeprüften Schriftstellerin, wird also angeheizt und manchmal überlagert durch eine Dauerdiskussion zwischen den beiden: Denn auch Helen versteht sich als Bewusstseinsforscherin. Nur dass sie mit den altbekannten Mitteln der Einfühlung, der Intuition und der literarischen Vergegenwärtigung arbeitet. Lodge hat den Roman selbst gleichsam als eine Art Seelenerforschung angelegt. Die Geschichte wird aus drei Perspektiven erzählt: Ralph vertraut seine Sicht der Dinge, seine Überlegungen und Einfälle einem Tonband oder einem sprachfähigen Computer an. Helen führt, wie es sich für eine traditionsbewusste Autorin gehört, ein Tagebuch. Manche Szenen wiederum werden dem Leser von einem auktorialen Erzähler berichtet, der mal wie ein kühl registrierendes Kameraauge über den Schauplätzen schwebt und mal allwissend tiefe Blicke in die Psyche der Figuren wirft. Das klingt kompliziert, doch Lodge ist es nicht nur gelungen, die Story trotz allem transparent und zugänglich zu halten, sondern aus dem Wechsel der Perspektiven immer neue Anreize für die Leserneugier zu gewinnen. Er erweist sich wieder einmal als ein mit allen erzähltechnischen Wassern gewaschener, souveräner Geschichtenkonstrukteur. Doch zumindest eine Leidenschaft quält diesen Autor, der er selbst und sein Roman letztlich nicht gewachsen ist. Seine beiden Helden, Helen und Ralph, sind vernünftige, diskrete Menschen. Sie halten ihre zunächst lange vermiedene und schließlich doch in vollen Zügen genossene Affäre im Verborgenen, um Ralphs Frau – die selbst kein Ausbund an ehelicher Treue ist – nicht zu verletzen. Gerade dieses alte Wechselspiel zwischen heimlich durchlebter Verliebtheit und öffentlicher Zurückhaltung macht einen großen Teil der Anziehungskraft dieses Buches aus. Es lenkt den Blick auf die feinen Unterschiede, die gerade noch zu ahnenden Nuancen des Verhaltens. Doch Lodge will letztlich mehr sein als genauer Beobachter der ebenso feigen wie heldenhaften Lebenslügen des Alltags. Er betrachtet sich zugleich als Aristoteliker, der seinen Lesern eine handfeste Peripetie samt Katharsis bieten möchte, also den plötzlichen Sturz seiner Hauptfiguren aus ihrer scheinbar so wohlgeordneten Welt in ein Chaos der Gefühle und Bedrohungen. Hier jedoch zeigen sich die Grenzen seines Buches. Lodge ist ein viel zu moderater Autor, als dass er seinen Lesern eine solch katastrophale Erfahrung mit allem Mitteln literarischer Suggestion zumuten würde. Statt dessen belässt er es bei der behutsamen Andeutung einer derart unglücklichen Wendung des Schicksals. Aber eine behutsame angedeutete Peripetie ist keine. So schlägt man das Buch schließlich mit dem Gefühl zu, dass Lodge sich am Ende ein wenig halbherzig an etwas versucht hat, was er nicht kann oder nicht will. Und was für seinen Roman letztlich nicht nötig ist. Denn genau betrachtet zielt die Geschichte nicht auf die traktathafte Warnung vor den schaurigen Folgen des Ehebruchs. David Lodge greift die Unaufrichtigkeit seiner Helden keineswegs im Namen einer absoluten Wahrhaftigkeit an. Er zeigt vielmehr, welche humane, zivilisierende Kraft in den gewöhnlichen Lebenslügen gewöhnlicher Leute liegen kann. Er feiert nicht ein abstraktes Treueideal, sondern die Fähigkeit der Menschen, sich mit diesem Ideal zu arrangieren. Und genau solche kleinen lebensklugen Einsichten sind es, die man sich von einem Besuch bei einem alten Freund erwartet.

David Lodge: „Denkt“. Roman Aus dem Englischen von Martin Ruf Haffmans Verlag, Zürich 2001 510 S., 44 Mark.

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Verpasste Chance, verlorenes Jahrzehnt

Als die Dichter auf die Straße gingen statt auf den Boulevard

Er muss gewirkt haben wie ein Mann aus einer anderen Welt. Es war im Juni 1968, dem legendären Jahr, das bis heute politische Wellen schlägt. Leslie A. Fiedler trat auf einem Freiburger Symposium vor deutsche Schriftsteller hin und hielt einen Stegreifvortrag. Wie ein fröhlicher Prediger oder ein Schamane, hieß es später, habe der Amerikaner sein Publikum zu begeistern versucht für eine Idee, die er aus den USA mitgebracht hatte. Aber nicht um eine sozialistische Revolte ging es Fiedler, obwohl der Pariser Mai 68 gerade erst vorüber war. Auch warb er nicht für einen Aufstand gegen die bürgerliche Gesellschaft oder eine Rebellion gegen die immer wieder gern gescholtene Kulturindustrie. Im Gegenteil: Der Marxismus spielte in seinen Überlegungen allenfalls die Rolle einer verschnarchten Trottelei, und der vollständige Sieg der bürgerlichen Demokratie und der Kulturindustrie waren in Fiedlers Augen beglückende zeitgeschichtliche Tatsachen. Fiedler wollte seine verblüfften Zuhörer dazu drängen, aus diesen unabweisbaren Tatsachen endlich literarische Konsequenzen zu ziehen und allen Glauben an die Ästhetik der Moderne fahren zu lassen. Denn längst sei an die Stelle des Modernismus etwas neues getreten: die Postmoderne. Selten dürfte die Verständnislosigkeit zwischen einem Redner und seinem Publikum so tief greifend gewesen sein. Glücklicherweise wurde sie dokumentiert. Die Wochenzeitung „Christ und Welt“ druckte Fiedlers Vortrag und ließ zwischen September und November 1968 sieben Schriftsteller auf ihn antworten. Sechs von ihnen konnten mit Fiedlers Jubel wenig anfangen. Sie warfen ihm eine Banalisierung der Kunst vor, weil die von ihm gefeierten Werke nicht so komplex seien wie die Homers (Holthusen), erklärten ihn zu einem politisch unzuverlässigen Mythomanen (Reinhard Baumgart), rügten seinen „Opportunismus“, der „nur marktgerechte Formalismen“ erzeuge, (Jürgen Becker) oder sahen in seinen Thesen einen weiteren Beweis dafür, dass „Amerika seit Jahren dabei ist, die westliche Lebensart und -chance zu verderben“ (Martin Walser). Lediglich ein gerade 28-jähriger Dichter aus Köln namens Rolf Dieter Brinkmann stellte sich auf Fiedlers Seite. Unter dem rasanten Titel „Ich hasse alte Dichter“ beschuldigte er den deutschen Literaturbetrieb, noch immer einem aus trüben politischen Quellen gespeisten Nationalismus anzuhängen: „Es herrscht eine generelle, tief verwurzelte Ignoranz und Abneigung gegen alles ‚Art-fremde‘.“ Brinkmann dagegen liebte die Pop-Literatur und war durch die USA gereist, um Material für seine Anthologie „Acid“ zu sammeln. Nicht um die traditionelle abendländische Kultur ginge es den Pop-Autoren, nicht um Homer oder um Formalismusdiskussionen, schrieb er, sondern um die „Reflexion auf zeitgenössisches Material“, um „Kinoplakate, Filmbilder, die täglichen Schlagzeilen, Apparate, Autounfälle, Comics, Schlager. . .“ Letztlich empfahl Brinkmann seinen Kollegen, nicht protestierend auf die Straße zu gehen, sondern beobachtend auf den Boulevard, wo sich die Wesenszüge unserer Zeit in tausendfältigen Oberflächenmutationen zeigen. Leslie A. Fiedler war nicht der Erste, der in Amerika den Begriff Postmoderne benutzte. Zurück in den USA, publizierte er sein Manifest „Cross the border. . .“ – und zwar im „Playboy“. Für ihn gab es keine Grenze zwischen hoher und niedriger Kultur mehr. Doch schon Jahre zuvor hatten Thomas Pynchon, Susan Sontag oder John Barth ähnliche Überlegungen veröffentlicht. Sie stießen sich an dem Exklusivitätsanspruch der Moderne, an ihrer immer hohler wirkenden geistesaristokratischen Ambition. Zudem hörten sie aus der modernen Literatur einen ständigen Unterton der Trauer heraus über den Verlust einer verbindlichen politischen, religiösen und kulturellen Gesellschaftsordnung. Auf all das mochten sich diese tief in den liberalen amerikanischen Traditionen verwurzelten Autoren nicht mehr einlassen. Sie wollten eine Literatur, die den Abschied von der einen großen Weltordnung begrüßte und das Entstehen einer Vielfalt von begrenzten Ordnungen feierte – da diese Vielfalt jedem Einzelnen größere individuelle Lebensspielräume eröffne. Sie wollten eine Literatur, die nicht über die Köpfe der Leser hinweg predigte, sich nicht hermetisch gerierte, sondern sich dem Publikum bereitwillig öffnete. Nicht zuletzt wollten sie den alten Gegensatz zwischen E- und U-Kultur beseitigen. Es ging ihnen um eine Literatur, die ihre Mythen nicht allein aus der Antike, sondern genauso aus dem Material der Gegenwart schöpfte, aus, wie Brinkmann sagte, Filmen, Comics, Schlagern und Schlagzeilen. All dies nahm das durch und durch politisierte Deutschland der sechziger Jahre zwar am Rande wahr – von Brinkmanns Anthologie „Acid“ zum Beispiel wurden 1969 in wenigen Monaten mehr als 10 000 Exemplare verkauft. Aber diskutiert wurden ganz andere Lehrsätze. Im Oktober 1968, also fast zeitgleich mit der Fiedler-Debatte in „Christ und Welt“ war das „Kursbuch 15“ erschienen, das vorzüglich geeignet ist, eine Ahnung von den damals üblichen Argumentationsmustern und Tonlagen im Kulturbetrieb zu vermitteln. Selbst der sonst so originelle und stilsichere Hans Magnus Enzensberger ließ sich hier zu einem eher hölzernen Essay hinreißen. Er frohlockte darüber, dass die Literatur durch die Studentenbewegung aus dem Gleichgewicht geraten sei, denn sie war „als die herrschende immer auch eine Literatur der herrschenden Klasse und hatte zugleich der Festigung dieser Klassenherrschaft und ihrer Verschleierung zu dienen“. Kurz, in diesen Jahren ging es fast allen deutschen Intellektuellen um eine radikale Politisierung der Lebensverhältnisse. Wenn sie überhaupt noch von Literatur sprachen, dann unter dem Blickwinkel, ob und inwieweit sie zur „politischen Alphabetisierung Deutschlands“ (Enzensberger) beitragen könne. Wie schnell dieses zunächst wohl notwendige Ringen der Studentenbewegung um eine zunehmende Demokratisierung des Landes in Ideologie umschlug, wie schnell sie antibürgerliche und antiamerikanische Affekte für sich mobilisierte, zählt inzwischen zu den Gemeinplätzen der Zeitgeschichte. Kein Wunder also, wenn in jenen Jahren in der Bundesrepublik von Fiedlers Postmoderne lange nicht mehr die Rede war. Stattdessen verstrickte sich manch ein Schriftsteller noch einmal für ein Gutteil seiner Lebenszeit in so grobschlächtige Kunstkonzepte wie Agitprop oder sozialistischen Realismus. Als dann in den siebziger Jahren den meisten Autoren klar wurde, wie sehr sie sich in ideologische Sackgassen verrannt hatten, zogen sie sich nach altdeutscher Tradition in weltferne Neue Innerlichkeiten zurück – und machten an Stelle der unbezweifelbaren politischen Wahrheit ihre unbestreitbare persönliche Authentizität zur Richtschnur ihrer Arbeit. Beides waren, nüchtern betrachtet, völlig kunstferne Kategorien. Doch es half nichts, das Pendel musste zunächst von einem Übermaß an gesellschaftlichem Engagement zur absurden Verabsolutierung privatester Sensibilitäten zurückschlagen. Unter literarischen Gesichtspunkten ist 1968 mithin alles falsch gelaufen. Im Windschatten einer zumindest Anfangs auf Demokratisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik zielenden politischen Bewegung wurden ästhetische Modelle diskutiert, hinter denen letztlich totalitäre Einheitsfantasien standen. Ein Irrweg, der die deutsche Literatur mehr als ein Jahrzehnt kostete, ein Jahrzehnt der Dürre und der Dürftigkeiten. In kunsttheoretischer Hinsicht wurde Deutschland so wieder einmal zu einer verspäteten Nation. Erst Anfang der achtziger Jahre lebte die Diskussion um die – inzwischen von dunkel raunenden französischen Philosophen dominierte – Postmoderne auch hier zu Lande auf. Allerdings mit negativem Vorzeichen, denn Jürgen Habermas belegte sie 1981 in seiner Adorno-Preisrede mit der Bannvokabel „konservativ“. Doch selbst an der stießen sich immer weniger Autoren, nachdem mit Umberto Ecos „Name der Rose“ und Patrick Süskinds „Parfum“ dezidiert postmoderne Romane die Bestsellerlisten eroberten. Es ist merkwürdig: Auf die Befreiung des bürgerlichen Individuums von allen zwangsweise verordneten politischen Wahrheiten, reagierte die Ästhetik der Moderne nicht mit Zustimmung und befreitem Aufatmen, sondern mit den Bildern der Entwurzelung, der Verlorenheit und Entfremdung. Heiner Müllers fragmentarische Gruselreigen und geschichtsphilosophische Schockrevuen sind hierfür ein geradezu paradigmatisches Beispiel. Die historische Wende von 1989, die Implosion der letzten politischen Erlösungsphilosophie zwingt dazu, diese Basis der ästhetischen Moderne zu überdenken. Doch Ansätze dazu gibt es bis heute kaum. „Es existiert keine ästhetische Theorie, die von der offenen Gesellschaft ausgeht, von ihrem Wahrheitsbegriff, ihrem Zeitverständnis, ihrem Begriff von Individualität“, schreibt der Lyriker Dirk von Petersdorff, einer der intelligentesten deutschen Autoren der jüngsten Generation. Kaum älter als das Schicksalsjahr 1968, wirft er in seinem Essayband „Verlorene Kämpfe“, der in diesen Tagen erscheint, kopfschüttelnd einen Blick zurück auf die sehr deutsche Vorstellung, die Kunst solle und müsse die sich immer stärker ausdifferenzierenden und auseinander driftenden Bezirke der Gesellschaft in übermenschlicher Anstrengung zusammenhalten: „So entstehen Werke, die religiöse Gesten nachahmen. Jene Begriffe, mit denen Karl Heinz Bohrer die Kunst der Moderne beschreibt, Gewalt und Plötzlichkeit, stellen Äquivalente für Donner und Blitz des sich offenbarenden Gottes dar.“ Die Entfernung zu dem, was 1968 die Diskussion bestimmte, könnte kaum größer sein. Vielleicht verbirgt sich in den klassizistischen Elementen der Postmoderne ein fruchtbarer Ansatz für eine Ästhetik, die unserer Zeit angemessen und zutiefst unangemessen zugleich wäre. Der Maler Carlo Maria Mariani hat diese Elemente in einigen Gemälden – die mit demonstrativer Ironie auf die keineswegs göttlichen, sondern von Menschen und Moden geformten klassischen Idealproportionen verweisen – ins Bild gebracht. Nichts könnte unserer auf ständige Innovation, auf Tempo, Schocks und rabiaten Traditionsbrüchen versessenen Industriegesellschaft stärker widersprechen als eine ruhige, nach dem rechten, humanen Maß suchende neue Klassik. Nichts aber wäre ihr vielleicht auch hilfreicher als eine Kunst, der es gelingt, die schrille, vergnügliche, bewusstlose Welt des Pop mit einer Ästhetik weiser klassischer Lebenskunst und Lebenshilfe zu versöhnen.

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Ein Herz für die Herzlosen

Der Romancier Christoph Hein erzählt vom reichen Leben ohne Utopie. Ein Porträt

Wenn unter Männern ausnahmsweise doch von Frauen die Rede ist, behaupten manche, sie hätten einen bestimmten „Typ“. Gemeint ist damit, dass sie Frauen mit spezifischen körperlichen Eigenschaften bevorzugen: seien es blonde Haare, blaue Augen, lange Beine, schmale Taille oder was immer. Der Schriftsteller Christoph Hein hat ebenfalls einen bestimmten „Typ“. In seinen Büchern zeigt er eine scheinbar unbeirrbare Vorliebe für Figuren mit spezifischen charakterlichen Eigenschaften. Heins Herz schlägt für die Herzlosen, er ist vernarrt in die Kaltschnäuzigen und Zyniker, er hat ein Faible für Leute, die bis auf die Knochen ernüchtert sind, für Menschen, die den unerbittlichen Tatsachen des Lebens gelassen ins Gesicht sehen.Oder zumindest: diesen Tatsachen gelassen ins Gesicht sehen wollen. Denn zwischen „Wollen“ und „Können“ liegen hier ebensolche Welten wie zwischen der billigen Kaltschnäuzigkeit Fremden gegenüber und einer geradezu philosophischen Gelassenheit, um die wir mit Blick auf uns selbst gelegentlich ringen. Heins Helden bewegen sich in eben diesem Spannungsfeld zwischen der groben Herzlosigkeit gegen andere und einen bewunderungswürdigen Stoizismus angesichts der eigenen Befürchtungen und Begierden. In einer Gesellschaft, die sich regelmäßig als „Ellenbogengesellschaft“ kritisiert, die über wachsenden Egoismus und schwindende Zuwendung zum Nächsten klagt, zielt Hein so auf einen zentralen Punkt sozialer Selbstvergewisserung. Begriffe, die jedoch bei Heins Lesungen selten zu Wort kommen. Er sucht nicht die politische Diskussion mit seinem Publikum, weicht ihr aber auch nicht aus, wenn Fragen an ihn herangetragen werden. Hein war zunächst Autor an der Volksbühne in Berlin, in Ost-Berlin wie es damals noch hieß, und diese Arbeit hat ihm wohl vor allem zweierlei gelehrt: Erstens einen wachen Sinn für die handwerklichen Aspekte des Schreibens – denn kein anderer Schriftsteller erlebt so direkt und deutlich, ob sich seine Texte sprechen lassen, und ob sie über die Rampe kommen wie ein Theaterautor. Zweitens ein Gespür dafür, den Charakter einer Figur nicht schlicht zu beschreiben, sondern ihn aus der Art wie sie redet, sich verhält, für den Leser erkennbar, spürbar, miterlebbar zu machen. Zum ersten Mal ist ihm dies mit Claudia gelungen, der attraktiven, knapp 40-jährigen Ärztin und Hauptperson seiner Novelle „Der fremde Freund“ (1982), die Hein in einem langen Monolog zum Sprechen bringt in einer zunächst betont rationalen und kontrollierten, schließlich aber immer hoffnungsloseren Bekenntnisrede. Claudia ist ein Single und eingefleischter Menschenfeind. Seit ihrer Scheidung schläft sie zwar noch „manchmal mit einem Mann“, wie sie ihrer Mutter bereitwillig mitteilt, doch hat sie nicht mehr das geringste Interesse an einer Ehe oder einem dauerhaften Zusammenleben: „Ich will nicht mehr“, sagt sie, „Tag für Tag in fremde Gesichter starren, die nur deswegen zu mir gehören sollen, weil sie immer die gleichen sind“. Selbst enge Verwandte bedeutet ihr kaum etwas. Von einer kurzen Reise zu ihren Eltern behauptet sie, es sei ein „Höflichkeitsbesuch bei Leuten, mit denen mich nichts verbindet“. Doch diese eiserne Distanz zu allem und jedem geht nicht spurlos an Claudia vorüber. Die immer obsessiveren Beschwörungen ihrer persönlichen Unabhängigkeit und ein nur noch mühevoll zurückgehaltener Unterton der Verzweiflung in ihre lange Konfession machen unübersehbar, welche emotionale Selbstverstümmelung diese Frau betreibt. In einer ähnlichen Monologtechnik hat Hein auch seine späteren Romane „Horns Ende“ (1985) und „Das Napoleonspiel“ (1993) geschrieben. Im ersten Roman ist es ein Historiker, der sich wegen eines ihm angetanen offensichtlichen Unrechts erst in Weltekel und dann in den Selbstmord flüchtet. Im zweiten ist es ein Jurist und Spieler, der Menschen nur als Mittel zum Zweck betrachtet und aus Langeweile einen Mord begeht. Doch am „Napoleonspiel“ – das Hein trotz aller Kritik als eines der eigenen „Lieblingsbücher“ bezeichnet – lässt sich auch ablesen, welche Probleme diese spezifische Erzählweise mit sich bringt: Auf der Bühne kann der Schauspieler einen Monolog mit Leben erfüllen, kann ihm szenische ebenso wie emotionale Bewegung verleihen. In Romanform läuft der Monolog leicht Gefahr, unanschaulich und spröde zu werden, neigt zum bloßen Räsonnement. Nicht als Monologe, sondern als Geschichten mit traditionellen Erzählern hat Hein „Der Tangospieler“ (1989) und seinen jüngsten, schönsten und reifsten Roman „Willenbrock“ geschrieben. Auch der Tangospieler Dallow und der Autohändler Willenbrock sind keine Philanthropen. Beide haben in der DDR schmerzhafte Erfahrungen gesammelt. Dallow musste wegen einer politischen Lappalie für fast zwei Jahre ins Gefängnis, Willenbrock wird wegen angeblicher ideologischen Unzuverlässigkeit um seine Reise- und alle Karrierechancen gebracht. Beide reagieren, wie sie das für Heins Helden gehört, auf diesen Knick in ihrer Laufbahn mit heimlicher, sogar vor sich selbst verheimlichter Verbitterung und einer guten Portion Lebensekel. Doch Hein hält sich bewusst vor allzuviel Pathos fern. „Ich hoffe, das Ganze hat Witz. Mir liegt an den komischen Zügen meiner Figuren“, meint Hein, und die Reaktion des Publikums bei Lesungen ist ein überzeugender Beleg dafür, dass er sein Ziel nicht verfehlt. In „Willenbrock“ gelingt es Hein, das individuelle Schicksal seiner Hauptfigur auf ebenso dezente wie glaubwürdige Weise in ein Porträt der allgemeinen gesellschaftlichen Befindlichkeit einzubetten. Der Roman spielt nach der „Wende“, die DDR und damit Willenbrocks berufliche Benachteiligungen liegen also schon Jahre zurück – doch wirkt etwas von den Enttäuschungen aus dieser Vergangenheit in ihm weiter. Sein Leben ist geprägt von einem radikalen und tiefgreifenden „Utopieverlust“. Willenbrock glaubt schlicht an nichts und niemanden mehr, die religiöse Geborgenheit seines polnischen Angestellten Jurek betrachtet er mit sanfter Verwunderung, das politische Engagement ehemaliger Kollegen kommt ihm nur noch lächerlich vor. Das einzige, was für ihn zählt, ist handfester wirtschaftlicher Nutzen. Er ist ein ziemlich ruppiger Materialist geworden, und will sich von keiner altruistisch verbrämten Ideologie mehr etwas vormachen lassen. Doch ist Willenbrock – anders als die in der DDR lebenden Helden in Heins Romanen – nicht mit einem staatlich verordneten Sozialismus konfrontiert, sondern mit lauter anderen ebenso materialistischen, zutiefst skeptischen und gründlich ernüchterten Mitbürgern. Das soziale Panorama, das Hein hier entwirft, ist eines der Freizügigkeit und des Wohlstandes, aber zugleich auch des Zerfalls, der Auflösung aller traditionellen Bindungen und Sicherheiten. Willenbrocks Geschäft läuft gut, aber die Versicherungen versichern es nicht mehr. Willenbrock hat Zweitwohnung, Zweitwagen und zahlreiche Zweitfrauen, aber die Polizei kümmert sich nur notdürftig um die Einbrüche auf seinem Autohof. Selbst als Willenbrock akut bedroht wird und bei einem Polizeibeamten Hilfe erbittet, verweist der ihn weiter, weil „er dafür nicht zuständig sei“. In diesem Moment beginnt inmitten einer hochentwickelten Gesellschaftsordnung das elementare Schutzversprechen, das sonst jede Gemeinschaft für seine Mitglieder bereithält, beängstigend zu bröckeln. Christoph Hein geht es jedoch nicht darum, unsere soziale Situation in möglichst düsteren Farben zu malen, sondern vielmehr darum, die Reaktionen der Menschen auf diese Situation zu studieren. Er zeigt, wie sich Willenbrock mehr und mehr alleingelassen fühlt, wie Willenbock – gerade weil er (vielleicht zurecht) von seinen Mitmenschen das gleiche erwartet wie von sich selbst – kaum mehr mit Hilfe rechnet, und wie sich deshalb der Gedanke an Gewalt und Gegengewalt immer stärker in seinem Kopf festsetzt. Kurz: Hein führt vor, wie in eine rundum zivilisierte, sich immer stärker ausdifferenzierende und also um ihren inneren Zusammenhalt ringende Gesellschaft gleichsam durch die Hintertür archaische Verhaltensmuster mit beängstigendem Automatismus zurückkehren.

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Arie über die Sorgen der Branche

André Schiffrins Klagegesang „Verlage ohne Verleger“

Große Oper, großer Auftritt während der Frankfurter Buchmesse. In den Konferenzsaal „Alliance“ marschieren ein und betreten das Podium: vier Verleger aus Schweden, England, Italien und Deutschland, dazu ein Übersetzer und ein Autor, der in Personalunion Verleger in USA und Lektor ist. Alle sechs holen tief Luft und besingen in weit ausholenden Arien die Sorgen der Buchbranche im Allgemeinen und den Essay “ Verlage ohne Verleger“ von André Schiffrin im Besonderen („Über die Zukunft der Bücher“. Mit einem Nachwort von Klaus Wagenbach. A. d. Amerikan. v. Gerd Burger. Wagenbach, Berlin. 125 S., 17,80 Mark). Auch im Publikum sitzen Verleger und Lektoren dutzendweise, man kennt sich, nickt sich zu, und murmelt zustimmend den Generalbass zu der Klagekantate, die vom Podium erklingt. Am Schluss wird, weil’s Brauch ist, noch ein Manifest in die Welt geschickt, liebevoll gespickt mit giftigen Bemerkungen über Verlagskonzerne, die sich nur für „maximale Renditen“ interessieren und nicht für gute Bücher. Dann gehen alle auseinander im Bewusstsein, endlich ein paar Dinge über die schmalgeistigen Managertypen der Branche öffentlich klargestellt zu haben. Aber haben sie das wirklich? Hat das kleine, bewunderungswürdige Häuflein unabhängiger Büchermacher mit Schiffrins Essay – der in USA, Japan und halb Westeuropa zur gleichen Zeit erscheint – eine unerbittliche Analyse der zeitgenössischen Verlagswelt in Händen? Samt einem Katalog wünschenswerter Maßnahmen, wie den unabhängigen Verlagen ihre Unabhängigkeit erhalten und ihre Kreativität gegen den betriebswirtschaftlichen Rigorismus der Konzerne verteidigt werden kann? Zunächst einmal: André Schiffrin ist Büchermensch von Kindesbeinen an und ein Verleger mit internationalem Renommee. Sein Vater, Jacques Schiffrin, in Russland geboren, wanderte nach dem Ersten Weltkrieg nach Frankreich aus und begründete dort die legendäre Klassiker-Bibliothek La Pléiade, die bis heute bei Gallimard erscheint. Vor den Nazis nach New York geflohen, tat sich Schiffrin senior mit Kurt Wolff, einem der Überväter der deutschen Verlagswelt, zusammen, der als Emigrant in USA Pantheon Books ins Leben gerufen hatte. Bei Pantheon arbeitete auch Schiffrin junior viele Jahre und leitet heute den Verlag The New Press. Der Grundton von André Schiffrins Essay ist nostalgisch. Betrübt gedenkt er jener verflossenen Zeiten, in denen die Verlegerei als „Beruf für Gentlemen“ betrachtet wurde. Ein Beruf, in dem nicht viel zu verdienen war, und in dem führenden Positionen oft genug von Leuten besetzt wurden, die nicht viel verdienen mussten, da sie von ihrem Vermögen leben konnten. Der Durchschnittsgewinn aller US-Verlage, schreibt Schiffrin, lag seit den zwanziger Jahren durchgängig bei ungefähr vier Prozent nach Steuern – egal ob die Wirtschaft gerade boomte oder in der Krise war, egal ob sich der jeweilige Verlag auf Kitsch spezialisierte oder auf erlauchte Kunst. Ab den sechziger Jahren begannen dann – in Amerika genauso wie in Deutschland – große, mitunter branchenfremde Konzerne kleinen Verlage aufzukaufen. Sie versprachen sich davon eine vorteilhafte Abrundung ihrer Angebotspalette („Synergieeffekte“) und vor allem kräftige Profite durch Rationalisierungsmaßnahmen, die von den ein wenig weltfremd wirkenden Büchermenschen verschlafen worden waren. Da Pantheon Books zunächst vom Verlag Random House geschluckt, und der erst von dem Elektronikimperium RCA und dann von dem Medientycoon S.I.Newhouse aufgekauft wurde, hatte Schiffrin das zweifelhafte Vergnügen, diesen Konzentrationsprozess aus der Nähe mitzuerleben. Seine Erfahrungen sind bedenkens- und bemerkenswert. Bei jeder dieser Übernahmen hieß es anfangs, an dem Kurs der Verlage, vor allem an dem der literarisch anspruchsvollen Pantheon Books solle nichts geändert werden. Doch sehr bald schon wurde ein massiver ökonomischer Erwartungsdruck an alle Beteiligten weitergegeben – und von Jahr zu Jahr erhöht. Die Ergebnisse blieben aber, allen Anstrengungen der Verlage und allen Opfern (zumeist Menschenopfer in den Lektoraten und eine Minderung der intellektuellen Qualität der Programme) zum Trotz in äußerst überschaubaren Dimensionen: 1997, nachdem Random House 17 Jahre im Besitz von Newhouse gewesen war, belief sich der Gewinn der ganzen Verlagsgruppe auf nur 0,1 Prozent des Umsatzes. Schreibt Schiffrin. Dieses fatal schlechte Resultat ist natürlich ein vortreffliches Argument für Schiffrin – hatten die kleinen Verlage doch, bevor sie aufgekauft wurden, mit besseren Programmen meist bessere Ergebnisse erzielt. Doch genau an diesem Punkt werden auch Zweifel an Schiffrins Argumentation wach – und es ist wohl bezeichnend, dass es an diesem Punkt um Geld, um Zahlen geht. Denn 1998 wurde Random House von der Bertelsmann-Gruppe übernommen, die bekannt gab, künftig 15 Prozent Profit erwirtschaften zu wollen. „Das würde“, rechnet Schiffrin vor, „in konkreten Zahlen bei einem Jahresumsatz von rund einer Milliarde Dollar auf eine Gewinnsteigerung von aktuell rund einer Million Dollar auf zukünftig 15 Millionen Dollar hinauslaufen.“ 15 Prozent von einer Milliarde sind aber, wie man auch ohne Taschenrechner zuverlässig ermitteln kann, nicht 15 sondern 150 Millionen. Schiffrins deutscher Verlag, Wagenbach in Berlin, nennt das einen Druckfehler, der in der nächsten Auflage korrigiert wird. Gut. Kann vorkommen. Dennoch bleibt Schiffrin seinen Lesern eine gründliche ökonomische Argumentation schuldig. Ist zum Beispiel Bertelsmanns Ankündigung, den Gewinn von Random House um das 150fache steigern zu wollen, wirklich ernst zu nehmen oder vielleicht nur Propaganda? Oder wollte Bertelsmann, wie beim Kauf zu hören war, Random House nur deshalb in seinen Besitz bringen, um einen bevorzugten Zugang zu wichtigen amerikanischen Buchstoffen (die Nervensägen der Branche sprechen neuerdings von „Content“) zu erlangen, die dann in den ungezählten Untergliederungen des Konzerns gründlich ausgeschlachtet werden können? Ist Bertelsmann im Buchgeschäft nicht erfahren genug, um zu wissen, dass die Entwicklung solcher Stoffe nur gelingen kann, wenn man sie nicht zugleich mit überzogenen Profiterwartungen verbindet? Weiter: André Schiffrin lässt S.I.Newhouse in seinem Essay nicht eben gut aussehen. Dafür hat er gewiss Gründe, vermutlich gute. Doch die Beweisführung, mit der er ihn als schlechten Geschäftsmann hinstellen will, ist letztlich nicht überzeugend oder zumindest unvollständig: Mag sein, dass es Newhouse nicht gelungen ist, jene vier Prozent Rendite zu erwirtschaften, die früher für kleinere amerikanische Verlage üblich waren. Doch Schiffrin unterlässt es zu untersuchen, ob sich der Wettbewerb gegen Ende des 20. Jahrhunderts in einem Maße verschärft hat, der auch die traditionellen Verlage unter diese Marke drückt und sie so zu rabiaten Rationalisierungsmaßnahmen zwingt. Außerdem: Newhouse hat Random House 1980 für rund 60 Millionen Dollar gekauft. 1998 verkauft er die Verlagsgruppe für über eine Milliarde Dollar an Bertelsmann. Ein Deal, der sich – wie immer man zu den intellektuellen Niveau steht, dass Newhouse in seinen Verlagsprogrammen aufgezwungen hat – nicht eben ruinös ausnimmt. Im Detail lässt Schiffrin also eine Menge Fragen offen. Alles in allem macht er jedoch auf eine bedenkliche Tendenz aufmerksam. Das Buchgeschäft kannte seit jeher drei Bereiche: Einen, der ökonomisch interessant ist, einen, in dem Autoren aufgebaut werden, die künftig (hoffentlich) ökonomisch interessante Bücher schreiben werden, und einen Bereich, der dazu geeignet ist, dem Verlag ein glanzvolles literarisches Image zu verschaffen. Die großen Verleger alter Schule bemühten sich diese drei Bereiche in ihrem Haus in kluger Balance zu halten. Sie betrieben die klassische Mischkalkulation: Die Bestseller aus dem ersten Bereich mussten die Titel der beiden anderen Bereiche finanzieren und die üblichen zwei bis fünf Prozent Jahresrendite erwirtschaften. Wenn es nun angesichts eines auch auf dem Buchmarkt gewachsenen Konkurrenzdruckes einigen Großverlagen gelingen sollte, den Bestsellerbereich und damit den einträglichen Verlagsbereich für sich zu sichern, gerät jene alte Balance für alle Verlage ins Kippen. Da es aber kein wohlhabendes Land mit kulturellem Selbstbewusstsein zulassen wird, dass die so genannte anspruchsvolle Literatur ganz verschwindet, wird man diese in irgendeiner Weise subventionieren (was in einigen kleineren Sprachräumen bereits geschieht). Früher oder später würde also in einem Buchmarkt, der sich einst weitgehend selbst regulierte, die Gewinne privatisiert, die Verluste aber den Steuerzahlern zugeschoben. Eine Entwicklung, die auch dem härtesten Vertreter des Wirtschaftsliberalismus nicht gefallen dürfte. Doch Schiffrin – und dies ist aus deutscher Sicht wohl die größte Schwäche seines Essays – sieht gerade in massiver staatlicher Förderung die Rettungschance der unabhängigen Verleger. Konsequenterweise lässt er seinen neuen Verlag The New Press von „großen Foundations“ unterstützen, die den, wie er schreibt, „verhältnismäßig geringen Fehlbetrag des Jahresbudgets“ tragen. Schiffrin muss sich hier erstens die Frage gefallen lassen, wie unabhängig ein unabhängiger Verlag ist, wenn er sich von staatlichen Förderung abhängig macht. Zweitens hat er sich offenbar nicht sehr intensiv mit den Erfahrungen der österreichischen Verlage beschäftigt, die seit Jahren schon am Tropf der Subventionen hängen. Da auch ihr „Fehlbetrag des Jahresbudgets“ regelmäßig ausgeglichen wird, sinkt ihre Fähigkeit rapide, sich beim Kampf um die Leser durchzusetzen. Mit dem Ergebnis, dass sie – und damit ihre Autoren – mehr und mehr vom Buchmarkt verschwinden. Nein, Klagegesänge helfen nicht, und Subventionen auch nicht. Die kleinen, unabhängigen Verlage müssen schlicht cleverer und kreativer sein und bleiben als die Konzerne. Was, wenn man sich manche der Branchenriesen anschaut, so schwer gar nicht ist. Tatsächlich gibt es ja Verlage, die keinem Konzern angehören und schon seit geraumer Zeit erfolgreich sind: Diogenes zum Beispiel, Antje Kunstmann, der gute, alte Suhrkamp Verlag und letztlich auch Eichborn, sieht man einmal über den Kummer hinweg, den sie ihren Aktionären nach dem Börsengang bereitet haben. Jedes Programm aus einem dieser Häuser nötigt nicht nur mehr Respekt ab, sondern hat langfristig auch mehr mit einer lebendigen Zukunft der Bücher zu tun, als alle Programme aus Verlagen, denen das wirtschaftliche Risiko letztlich durch Staats- oder Stiftungsgelder abgenommen wird.

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Brasch ist nicht Brasch

 Ein Star, dem bei der Wende die Sprache stehen blieb und der daraufhin 14 000 Seiten schrieb

Manche Autoren schreiben gern in kleinen Kammern, in Mönchszellen. Thomas Braschs Arbeitszimmer ist riesig, das größte einer staunenswert großen Berliner Wohnung. An den Wänden lehnen und hängen kolossale Spiegel, die den Raum vertiefen und – weil die Spiegel einander spiegeln – endlosen Spiegelschächte aufreißen, in denen unvorsichtige Betrachter den Kopf verlieren können. Manche Autoren schließen sich ein, um mit ihrer Arbeit ungestört allein zu sein. Bei Brasch stehen nicht nur die Türen offen, sondern auch die Fenster, hinter denen das nächtliche Berlin lärmt, sich Züge kreischend in den Bahnhof Friedrichstraße schieben und wunderbar romantische Lichterflecken über die Spree schaukeln. Die meisten Autoren setzen sich mit ihrem Text an einen Tisch. So können sie sich über ihn beugen, um ihm ganz nahe zu sein. Brasch steht. Er „hat’s am Rücken“, wie er sagt, und kann besser an Pulten schreiben. Also hat er zwei hohe Tische, zwei Werkbänke, L-förmig mitten in den Raum gerückt. An ihnen steht er bei der Arbeit wie ein Kapitän auf seiner Brücke. Doch manchmal, in einem unaufmerksamen Moment, wirkt Brasch hinter den hohen Tischen, in seiner Literaturwerkhalle, zwischen den grenzenlosen Spiegelwänden, inmitten des ungeheueren, ewig rauschenden Berlin sehr klein, sehr fern von allem. Aber Vorsicht, Brasch ist ein erfahrener Maskenspieler, ein Spezialist für Illusionen. Er kann aus so flüchtigem Material wie Worten lebendige Charaktere formen. Was bringt so einer dann erst mit handfesten Requisiten in der eigenen Wohnung zu Stande? Das Bühnenbild zu bereiten für den Auftritt eines mitten in die Welt gefallenen und doch verlorenen Dichters dürfte für ihn kein Problem sein. Also alles Theater? Sicher ist nur eins: dass sich hier einer präsentiert, der keinen Schritt unbedacht tut, der weiß, dass er Rollen spielt und dass sich jede Rolle plötzlich wandeln kann. Brasch ist gar nicht Brasch. Für jemanden mit seiner Gestaltungskraft wird auch die eigene Identität schnell zur Knetmasse. Kein Wunder, wenn Brasch gelegentlich selbst vor den bodenlosen Spiegelschächten der Selbstreflexion seinen Kopf verlöre. In einer der Rollen, die er für sich selbst entwirft, ist er gar kein echter Schriftsteller. „Heiner Müller“, sagt er, „hat den amerikanischen oder skandinavischen Germanisten, die ihn in den siebziger Jahren in der DDR besuchten, immer Thomas Brasch vorgestellt als literarischen Geheimtipp. Ich musste aber meine Fähigkeiten nicht unter Beweis stellen. Ich war ja verboten, zum Glück.“ So wurde Brasch zu einem Schriftsteller ohne Bücher, aber mit vorteilhaftem Image. „In der DDR gab es andere Gesetze für Schriftsteller. Man musste nur das Gerücht verbreiten, dass man Schriftsteller ist, dann war man schon für den Staat gefährlich – was einen erstens für die Frauen attraktiv machte, und zweitens musste man sein Talent nicht unter Beweis stellen, denn man wurde ja nicht veröffentlicht.“ Ganz so amüsant dürfte es für Brasch in der DDR nicht immer gewesen sein. Zwei Mal wurde er von Hochschulen exmatrikuliert, danach wegen des Verteilens von Flugblättern zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und nach der Haft zur Bewährung als Fräser in ein Transformatorenwerk geschickt. Sein Vater, stellvertretender Kulturminister der DDR, verlor wegen der Flugblattaktion des Sohnes sein Amt. Als Brasch 1976 in den Westen kam, hatte er ein ganzes Bündel mit Manuskripten unterm Arm. Die Behauptung, Schriftsteller zu sein, war offenbar doch mehr als Imagepflege gewesen. Sein Erzählungsband „Vor den Vätern sterben die Söhne“, die Theaterstücke „Lovely Rita“ und „Rotter“, die Lyriksammlung „Der schöne 27. September“ und der Film „Engel aus Eisen“ beförderten Brasch umgehend vom Geheimtipp zum literarischen Nachwuchsstar, der allen Sätteln gerecht war, der in jeder Disziplin brillierte. Aber seltsam, Erfolg ist Brasch offenbar nicht geheuer. Zugegeben, jeder zweite Schriftsteller behauptet, Starruhm nach Kräften zu meiden, und stimmt dann vollmundig das Lied vom scheuen, weltflüchtigen Poeten an, auch wenn’s nicht sehr glaubwürdig klingt. Doch Brasch erzählt – ganz untypisch für Schriftsteller – nur wenig und geradezu unwillig von der eigenen Arbeit. Viel lieber und leichtzüngiger schwärmt er von anderen Schriftstellern, von Beckett und Brecht, Joyce, Arno Schmidt und Fontane. Und für Shakespeare und Tschechow schwärmt er nicht nur, ihnen dient er seit fast 20 Jahren als Übersetzer – wozu die Stars des Literaturbetriebs im Allgemeinen nicht gern bereit sind. Ist hier also tatsächlich einer zu schüchtern für den Betrieb? Ist sein Maskenspiel, seine Selbstinszenierung als aufrecht arbeitender Dichter mitten auf dem Präsentierteller seines Arbeitssaals nur ein Ablenkungsmanöver? Nur ein Trick, mit dem er sich im Grunde besonders effektvoll verbirgt? Auf jeden Fall ist Brasch kein kaltblütiger Professional. Als 1989 der Staat von der historischen Bildfläche verschwand, der ihn so lange gequält hatte, wollten Journalisten nur zu gern seine Meinung zur Agonie der DDR hören. Doch Brasch fand mit einem Mal keine Worte mehr: „Plötzlich blieb mir die Sprache stehen.“ Zum Thema DDR ist sie bis heute nicht wieder in Gang gekommen. Was ihn nicht gleichgültig lässt – zumindest nimmt er diese Wendung des Gesprächs zum Anlass, eine erste Flasche Sekt aus dem Kühlschrank zu angeln. Seither, seit 1989 lebt Brasch größtenteils von seinen Übersetzungsaufträgen. Sicher, es sind auch in den neunziger Jahren Theaterarbeiten von ihm aufgeführt worden, doch an seine frühen, schnellen, Aufsehen erregenden Erfolge knüpfte all das nicht an. Um Abstand zu gewinnen von jeder Aktualität, stürzte er sich in ein gigantisches Prosaunternehmen über den Mädchenmörder Karl Brunke, eine historische Figur, die 1905 zwei junge Frauen auf deren Verlangen hin erschossen hatte. 14 000 Manuskriptseiten hat er über Brunke verfasst – doch nur rund 100 davon wollte sein Verlag drucken: Der Band „Mädchenmörder Brunke“, eine Novelle, erschienen im vergangenen Jahr bei Suhrkamp. Über den Rest des Materials geht Brasch mal großzügig hinweg, dann wieder glaubt man zu spüren, dass es ihn nicht ruhen lässt. Drei der elf Bände, in die er den enormen Papierberg namens „Brunke“ hat binden lassen, zeigt er vor und bringt bei dieser Gelegenheit – es ist spät und die erste Flasche leer geworden – aus der Küche einen zweiten Sekt mit. Brasch weiß alles über Brunke, zitiert Gerichtsakten aus dem Kopf, hat alle Daten, Fakten, Indizien präsent, kennt Brunkes Formulierungen bis in Detail. Vielleicht ist die zehnjährige Anstrengung, ein solches Romanmonster über eine einzige Person zu schreiben, letztlich nur als der Versuch eines Schriftstellers zu verstehen, es endlich einmal nicht beim üblichen Rollen- oder Maskenspiel zu lassen. Als Versuch, endlich einmal einer Figur ganz auf den Grund zu gehen – und so vielleicht einen festen Punkt in unser gründlich veränderten Welt zu erobern, auf dem er stehen kann. Ob es ihm gelungen ist, werden die Leser nicht erfahren, denn Suhrkamp will dieses Prosagebirge nicht publizieren und Brasch den Verlag nicht wechseln. Vielleicht waren die 14 000 Seiten nötig, um ihn von einer Obsession zu befreien: von der Hoffnung, die unauslotbaren Spiegelschächte der Reflexion und Selbstreflexion irgendwann hinter sich zu lassen. Zurzeit beschäftigt sich Brasch lieber mit den Gedichten, die während der Arbeit am „Mädchenmörder Brunke“ entstanden sind. Rund 500 sind zusammengekommen, viel zu viel für einen Lyrikband. Er wird eine Auswahl treffen müssen und hofft sie im kommenden Jahr in Buchform in Händen zu halten – wenn Suhrkamp diesmal mitspielt. Die Gedichte zeigen, wie präzise er arbeitet, wie wandlungsfähig, klar und anschaulich seine Sprache ist, wie er – darin Brecht verwandt – mit betont nüchternen Wendungen die Emotionen der Leser zu packen und sie mitzureißen versteht. Ein Poet, kein Zweifel. Brasch trinkt das letzte Glas leer. Draußen lärmt noch immer das nächtliche Berlin. Fenster und Türen stehen weiter offen. Vielleicht ist er endlich über Brunke hinweg – und über die Wende. Zu wünschen wäre es ihm. Der Literatur auch. Talente wie ihn gibt es nicht oft. Man muss sie pflegen.

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Was bleibt? Was stirbt?

Gespräch mit Hans Christoph Buch und Marcel Reich-Ranicki über Büchermoden, zu Recht oder zu Unrecht vergessene Romane und Autoren sowie einen Umschwung in der deutschen Gegenwartsliteratur

Uwe Wittstock: Kritiker rezensieren Bücher üblicherweise, sobald sie erschienen sind, also sobald sie in das öffentliche Bewusstsein eintreten. Doch wie, wann und warum treten Bücher aus dem öffentlichen Bewusstsein wieder heraus? Aus welchen Grund betrachtet man bestimmte Bucher schon sehr bald als veraltet oder uninteressant, andere dagegen noch nach Jahrhunderten als frisch und lebendig?
Marcel Reich-Ranicki: Die Vergänglichkeit literarischer Werke hängt keineswegs nur von ihrer Qualität ab, sondern wird auch von anderen Faktoren bestimmt, in Abhängigkeit von der Gattung. Sehr großen Einfluss hat natürlich das Theater, nur darf man nicht vergessen, dass heute wie vor hundert Jahren ein großer Teil des Repertoires (etwa 80 bis 90 Prozent) aus Stücken besteht, die keinen literarischen Wert haben und in der Regel nach wenigen Jahren verschwinden. Aber das Theater hält eine gar nicht so geringe Anzahl von klassischen Dramen am Leben. Das gilt für die drei großen Lessing-Dramen („Minna von Barnhelm“, „Nathan der Weise“ und „Emilia Galotti“), für einige Schiller-Stücke (vor allem die frühen: „Räuber“, „Kabale und Liebe“ und „Don Carlos“), für die Hauptwerke von Kleist und Büchner. Sie alle werden noch von Zeit zu Zeit gespielt, weil sie dankbare Aufgaben für das Theater bieten. Aber auch ein späterer Dramatiker wie Gerhart Hauptmann taucht nicht selten im Repertoire auf, wohl vor allem deshalb, weil sich in manchen seiner Stücke, auch in den schwächeren, sehr gute Rollen finden. Anders ist es um die Lyrik bestellt: Wenn ziemlich viele Gedichte von Goethe, Eichendorff oder Heine noch gelesen werden, so deshalb, weil sie in Anthologien und Schullesebüchern offeriert werden. Dann gibt es noch einen Faktor, der in der ausländischen Literatur kaum eine Rolle spielt: Ich meine die Vertonungen von Gedichten, kurz, das deutsche Lied. Die Vertonungen von Schubert, Schumann, Mendelssohn-Bartholdy, Hugo Wolf und anderen haben die Texte keineswegs abgetötet, sie haben ihnen genutzt. Weit größer ist die Vergänglichkeit des Romans. Ein guter, ein hervorragender Roman lebt dreißig, vierzig Jahre – nicht länger. Gewiss gibt es Ausnahmen: Das sind die Meisterwerke, die wenigen genialen Bücher. Aus der ganzen Zeit vor Theodor Fontane wird bestenfalls Goethes „Werther“ noch gelesen. Wittstock: Jenseits der deutschen Literatur gibt es aber noch eine ganze Menge Romane aus dem 19. Jahrhundert, die bis heute sehr wohl viel gelesen werden: die Bücher von Dostojewski, von Tolstoi, Flaubert, Balzac, Dickens, Austen. Hans Christoph Buch: Es gibt auch viel ältere Romane, die den Leuten sehr wohl noch geläufig sind, wie „Don Quichotte“ zum Beispiel oder der „Simplicissimus“. Reich-Ranicki: Beim „Simplicissimus“ bin ich (aus sprachlichen Gründen) nicht ganz sicher. Aber die Germanisten machen sich gern Illusionen. Es geht doch nicht um Studenten, die dies und jenes der Prüfungen wegen lesen müssen. Ansonsten liest niemand heute die Romane von Wieland oder Jean Paul, von Tieck, Gutzkow oder Immermann. Das sind nur noch Museumsstücke, womit noch nichts gegen die Qualitäten der Romane etwa von Jean Paul gesagt werden soll. Auch ein Zeitgenosse Fontanes wie Wilhelm Raabe hat sich schon überlebt. Buch: Ich stimme Ihnen zu, ein großer Teil der Literatur der Vergangenheit ist heute nur noch Pflichtlektüre für Germanistikstudenten. Doch gerade die Lyrik ließe sich, wenn sie stärker in die Musik, auch die populäre Musik einbezogen würde, leicht unters Leservolk bringen. Die Vertonung spielte ja im Mittelalter schon eine große Rolle. Lyrik, das waren nicht nur Gedichte, sondern vor allem Lieder. Musik sorgt immer dafür, dass Texte sich besser einprägen. Aber nicht nur die Vertonung von Gedichten, auch die Kunst der Deklamation ist im deutschen Sprachraum in Vergessenheit geraten. Mein früh verstorbener Freund Joseph Brodsky zum Beispiel, der aus der UdSSR ausgebürgerte Dichter und spätere Nobelpreisträger, konnte sein gesamtes Werk auswendig und trug seine Gedichte mit einem Pathos vor, wie es der deutschen Lyrik nach Rilke abhanden kam. Brecht und Benn pflegten das Unterstatement und lasen, aus unterschiedlichen Gründen, Poesie wie Prosa vor. Bei Brodsky hatte das Auswendiglernen aber nicht nur eine ästhetische Dimension – er glaubte an die Existenz der Musen fast im leibhaftigen Sinn -, sondern ganz praktische Gründe: Auf diese Weise verhinderte er die Beschlagnahmung seiner Manuskripte durch den KGB und schmuggelte seine Werke in den Westen, nicht in einem Koffer, sondern im Kopf – das englische „by heart“ ist das passende Wort dafür. Ich denke, es ist kein Wunder, dass Romane recht bald wieder aus dem Bewusstsein der breiten Leserschaft verschwinden. Romane sind ja vielmehr ihrer Zeit verhaftet, müssen vielmehr von der Atmosphäre einer bestimmten Epoche enthalten als etwa Dramen, die sozusagen zeitlose Geschichten erzählen. Romane liefern dagegen die „Prosa des Alltags“, wie Hegel es einmal formulierte. Dass solche Bücher dann auch leicht mit der Zeit sterben, die sie beschrieben haben, liegt auf der Hand. Ein Roman wird oft zum Erfolg, weil seine Zeit sich in ihm wiedererkennt. Ist diese Zeit dann vorüber, ist der Reiz des Buches für einen großen Teil der Leserschaft auch schon wieder erloschen. Für nachwachsende Generationen ist das Buch dann nur noch von dokumentarischem Interesse. Reich-Ranicki: Was Sie eben sagten, Herr Buch, trifft mit Sicherheit zu, nur hätte ich da zwei Ergänzungen. Erstens, kleinere epische Formen, zumal die Novelle, sind doch dauerhafter als Romane. Ich glaube, dass Gottfried Kellers Novellen immer noch etwas gelesen werden und nicht nur in der Schweiz – und einige Novellen von Storm liest man heute nicht nur in Schleswig-Holstein. Zweitens, dass Romane, die den Zeitgeist einfangen und bewusst machen, zusammen mit der dargestellten Epoche absterben, ist richtig, trifft aber in noch höherem Maße auf das Drama zu. Das expressionistische Drama, also Ernst Toller, Georg Kaiser, Walter Hasenclever – hat von 1910 bis etwa 1920 ein enormes Echo gehabt. Schon um 1930 empfand man diese Stücke als hysterisch, niemand wollte sie sehen. Ähnlich war es nach dem Zweiten Weltkrieg. Borcherts „Draußen vor der Tür“ war ein großes deutsches Ereignis – und zu Recht. Das Stück hat moralische und gesellschaftliche Fragen der ersten Nachkriegszeit ausgedrückt und damit das deutsche Publikum erschüttert. Zwanzig Jahre später war es beinahe vergessen – und das sollte man weder dem Theater noch dem Publikum vorwerfen.
Buch: Ich war in den Jahren, als Reich-Ranicki gerade in der Bundesrepublik anlangte, also Ende der fünfziger Jahre, Schüler am Beethoven Gymnasium in Bonn. Dort haben wir bis zum Abitur keineswegs das gelesen, was heute als die große Literatur dieser Jahre gilt. Selbst Kafka galt noch nicht als moderner Klassiker, sondern als umstritten. Sartre und Camus waren ebenfalls heftig umstritten. Man war damals mehr oder weniger der Überzeugung, Gegenwartsliteratur habe in der Schule nichts zu suchen, die las man unter der Bank. Selbst Brecht war noch nicht kanonisiert. Benno von Wiese benotete in meinem ersten Semester als Student eine Seminararbeit sehr schlecht, weil ich nachzuweisen versuchte, dass Brechts Parteinahme für den Kommunismus sehr wohl mit der spezifischen Poesie seines Werks zusammenhängt und dass man beides nicht so säuberlich trennen kann, wie das Benno von Wiese gern gehabt hätte. In dieser Zeit las man in der Schule, aber auch weit darüber hinaus Autoren, die heute vergessen sind. Werner Bergengruen zum Beispiel, Stefan Andres, Albrecht Goes. Die konservative Literatur der fünfziger Jahre, Reinhold Schneider gehört auch dazu, wird heute zu Unrecht vernachlässigt. Nicht nur die im Ausland lebenden oder nach Deutschland zurückgekehrten Autoren des Exils wurden damals durch den Erfolg der Gruppe 47 an die Wand gedrängt: Auch die Literatur der inneren Emigration und der konservativen Opposition gegen Hitler geriet nach dem Erscheinen der „Blechtrommel“ in Vergessenheit. Ein Buch wie Reinhold Schneiders Novelle „Las Casas vor Karl V.“ ist aber nach wie vor lesenswert, und es ist interessant, dass hier, ähnlich wie bei Andres und Bergengruen, der spanische Katholizismus als Vergleichs- und Bezugspunkt dient.
Reich-Ranicki: Ja, ja, es stimmt schon, nur habe ich den Verdacht, dass man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Werke der Autoren der „Inneren Emigration“ damals aus verständlichen Gründen stark überschätzt hat. Wenn sich heute jemand über diese Literatur äußert, was ja nur ganz selten passiert, dann in der Regel auf Grund einer mindestens zwanzig oder dreißig Jahre zurückliegenden Lektüre. Ich bin sicher, dass die abermalige Lektüre diesen Lesern eine herbe Enttäuschung bereiten würde. Ich glaube nicht, dass man diese historischen Romane, die eine mehr oder weniger deutlich erkennbare Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ enthalten, jetzt unbedingt wiederentdecken sollte.
Wittstock: Natürlich ist es ein wichtiger Grund für Leser, zu Büchern zu greifen, weil in diesen Büchern Dinge verhandelt werden, die sie persönlich bewegen. Es ist dies das Prinzip des tua res agitur, ein ganz wichtiger, respektabler und guter Grund, der das Interesse von Lesern an Literatur weckt. Doch gibt es andererseits auch Literatur, die dem Leser nicht seine eigene Welt, sondern ganz andere fremde Welten und Probleme vor Augen stellen will. Eine Literatur, die das Publikum für ferne, fremde oder vergessene Fragen zu interessieren versucht. Wäre es in diesem Sinne nicht doch möglich, oder wünschenswert, ein paar der vergessenen Bücher aus den fünfziger Jahren wieder hervorzuholen und dem Publikum erneut ans Herz zu legen?
Reich-Ranicki: Ich sehe da nur geringe Möglichkeiten. Die Verdienste Bölls sollen nicht geschmälert werden. „Wo warst du, Adam“ sowie „Und sagte kein einziges Wort“ sind ganz wichtige Bücher der fünfziger Jahre. Aber es hätte doch wohl keinen Sinn, für diese mittlerweile nun ganz historischen Romane die Trommel zu rühren – es würde nichts ergeben.
Buch: Ich habe die erwähnten Autoren auch damals schon im Deutschunterricht nur als Pflichtpensum, also ohne Vergnügen, gelesen. Wenn ich sagte, manches aus dieser Zeit sei zu Unrecht vergessen, meinte ich nicht, die gesamte Literatur der fünfziger Jahre müsse dringend wieder entdeckt werden. Aber um einzelne Bücher tut es mir schon leid: Ich las als Schüler mit roten Ohren die autobiografischen Romane von Peter Weiss, die heute auch weitgehend vergessen sind. Ich habe alles verschlungen, was Weiss schrieb, ich bin dann sogar nach Stockholm gefahren, um ihn kennen zu lernen. Dass er heute nur von wenigen noch gelesen wird, schmerzt mich schon. Wittstock: Kann man von Lesern verlangen, sich mit Büchern zu beschäftigen, die von Problemen handeln, die sie persönlich nichts oder nur wenig angehen? Reich-Ranicki: Wenn es sich um wirklich gute Literatur handelt, stellt sich diese Frage nicht. Natürlich sind auch bedeutende Romane zeitgebunden, aber es können sich auch Leser späterer Epochen in ihnen sehr wohl wiedererkennen. Das gilt, um hier nur ein Beispiel zu geben, für einen Roman aus den fünfziger Jahren, den ich für einen der schönsten nach 1945 halte – für Wolfgang Koeppens immer noch unterschätztes Buch „Tauben im Gras“.
Wittstock: Mitunter verschwinden Epochen aber auch schnell von der Bühne: Große Teile der osteuropäischen Literatur, auch der DDR-Literatur, handeln vom Leben im realen Sozialismus. Nun gehört der Ostblock der Vergangenheit an, und wir könnten uns auf den Standpunkt stellen, diese Literatur geht uns nichts mehr an, weil wir in einer anderen Welt leben. Reich-Ranicki: Viele unserer Rezensenten meinten in den sechziger- und siebziger Jahren, es sei angebracht, den Büchern aus der DDR einen besonderen Preisnachlass einzuräumen, sie wurden nach einem ermäßigten literarkritischen Tarif beurteilt. Was aus der DDR importiert wurde, hat man also meist gerühmt – vorausgesetzt, dass man in diesen Büchern Anzeichen der gewünschten politischen Gesinnung fand oder zu finden glaubte. Ich kann mir diesen Vorwurf nicht machen: Ich habe die Arbeiten der DDR-Autoren nicht nur als Zeitdokumente betrachtet, sondern sie immer auch nach ihrem literarischen Wert befragt. Aber ich fürchte, dass auch ich manche dieser Bücher überschätzt habe. Es ist ja sehr wenig, beinahe nichts geblieben. Wittstock: Aber ein paar Ausnahmen werden Sie doch wohl gelten lassen? Können Sie nicht wenigstens ein paar heute noch lesenswerte Bücher der Literatur der DDR nennen? Wie sehen Ihre Top Five der DDR-Literatur aus? Buch: Ganz oben steht für mich die „Unvollendete Geschichte“ von Volker Braun. Eine Novelle, die beeindruckend und spannend ist und heute noch mit Gewinn lesbar, wenn man wissen will, wie das Leben in der Stasi-durchsetzten DDR war. Dann die „Neuen Leiden des jungen W.“ von Plenzdorf, ein Buch, das nicht umsonst von Schülern zusammen mit „Werthers Leiden“ gelesen wird – auch wenn wir uns jetzt nicht darüber zu streiten brauchen, welches der beiden Bücher letztlich das bessere ist. Weiter: Die frühen Stücke von Heiner Müller, gerade die Aufbaustücke, in denen er den Parateiauftrag ernst nimmt. Diese Stücke sind von einer Bitterkeit, einem Zynismus, einer Vielschichtigkeit, dass man sie sehr wohl noch lesen kann. Viertens natürlich auch Franz Fühmann. Schließlich Christa Wolf, obwohl sich in der Tat einige ihrer Bücher mit den Zeitläuften erledigt haben. So was wie ihren „Geteilten Himmel“, das kann man heutzutage wirklich nicht mehr lesen.
Reich-Ranicki: In der Diktatur hat die Lyrik die größten Chancen. Von Peter Huchel wird einiges bleiben, auch das eine oder andere Gedicht von Bobrowski, ferner manche noch in der DDR entstandenen Gedichte von Sarah Kirsch, Günter Kunert und Wolf Biermann. Von der Prosa wohl Jurek Beckers „Jakob der Lügner“, aber auch Franz Fühmann, auf den ich übrigens schon 1958, als kein Mensch im Westen diesen Namen kannte, in der F.A.Z. nachdrücklich hingewiesen habe. An Christa Wolf habe ich nie recht glauben können. Ihr „Nachdenken über Christa T.“ hat mich damals, 1969, sehr beeindruckt, ich habe dieses Buch gelobt und gerühmt. Ich fürchte, es ist heute schwer lesbar. Buch: Es gibt noch viele andere wichtige Romane der DDR-Literatur. Die Romane von Christoph Hein zum Beispiel. Wir dürfen heute nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, nur weil es früher bei einigen Rezensenten einen Bonus für Texte gab, die aus der DDR kamen, dürfen wir diese Bücher jetzt nicht gleich alle auf den Müllhaufen der Geschichte werfen. Natürlich gab es zur Zeit der deutschen Teilung eine gewisse Verlogenheit unter den westlichen Kritikern der Literatur der DDR gegenüber, aber unter diesen Büchern gab es ja auch sehr respektable Leistungen – auch wenn es nicht gleich Geniestreiche waren. Ich denke da an Kurzgeschichten wie „Das Ende der Kindheit“ von Klaus Schlesinger, eine Geschichte über den Tag des Mauerbaus, die sogar in der DDR erscheinen durfte und keine Konzessionen macht, gleichzeitig aber auch nicht den westlichen Standpunkt vertritt. Ähnliches hat ja auch Uwe Johnson versucht. Wittstock: Um mit der Gegenwart zu enden: Die junge deutsche Literatur findet zurzeit sehr viel mehr Anerkennung bei Kritikern und Publikum als die entsprechende junge Literatur der siebziger, achtziger und frühen neunziger Jahre. Es scheint sich während der neunziger Jahre ein regelrechter Umschwung vollzogen zu haben. Woran liegt das?
Reich-Ranicki: Die jetzige Situation hat verschiedene Ursachen. Zunächst: Die Konkurrenz ist schwächer geworden, in der englischen, französischen oder italienischen Literatur findet sich jetzt nur wenig Nennenswertes. Andererseits sind zu unserer Literatur Autoren aus dem Osten hinzugekommen, die sich dort früher nicht recht artikulieren konnten und auch solche, die noch sehr jung sind und also erst in den letzten zehn Jahren zu schreiben begonnen haben. Wittstock: Müssen wir nicht außerdem erwähnen, dass Deutschland während der neunziger Jahre die Wiedervereinigung erlebt hat? Die jüngere Autorengeneration hat also hautnah ein wichtiges, hochinteressantes Stück Geschichte erlebt. Ist es da ein Wunder, dass sie auch wieder mit mehr Freude Geschichten erzählen möchte? Gibt es schon deshalb so etwas wie einen Mentalitätswechsel? Reich-Ranicki: Ja natürlich! Wittstock: Und wie würden Sie ihn beschreiben? Reich-Ranicki: Es ist eine Banalität, wenn man sagt, dass heute niemand die Schriftsteller hindert, alles Sexuelle darzustellen. Auch die Hemmungen der Autoren (übrigens beiderlei Geschlechts) sind in dieser Hinsicht geringer geworden oder sogar ganz verschwunden. Niemand imponiert den Lesern, wenn er das, was sich im Bett abspielt, genauestens beschreibt. Es gibt bei der jungen Generation häufig Überdruss an Sexualität ohne emotionalen Hintergrund. Der Slogan der 68-er Generation: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ ist heute undenkbar. Damit hängt es gewiss zusammen, dass in der Literatur der Gegenwart häufiger von der Liebe die Rede ist und noch häufiger von der Sehnsucht nach der Liebe. Buch: Die Resonanz der jungen deutschen Literatur – vor allem der Erzählerinnen – bei einer neuen Leserschicht lässt aufhorchen. Hier wirkt ein Denkanstoß nach, den Sie, Herr Wittstock, wenn ich mich recht erinnere, Anfang der neunziger Jahre gaben: eine neue Leserfreundlichkeit, nachdem die Autoren der damals mittleren Generation, vor allem die Nach-Achtundsechziger, sich ins Getto der Theorielastigkeit, der Schwerverständlichkeit oder formaler Experimente zurückgezogen hatten, die – bis hin zum „nouveau roman“ – schon anderswo ausprobiert worden waren. Als tragfähige und begehbare Brücke hin zum Leser dient heute oft die Kurzgeschichte, die jahrzehntelang vernachlässigt worden war. Interessanterweise knüpfen die jungen Autoren nicht an den von Hemingway oder Kafka verkörperten Typus von Kurzprosa an – einerseits die Parabel mit philosophischem Tiefgang, andererseits die atmosphärisch dichte Story, die mit Aussparungen und knappen Dialogen arbeitet und heute in den Journalismus oder die Werbung abgewandert ist, sondern an ältere Erzählmodelle: Ambrose Bierce, O’Henry, Carson McCullers, oder in der Gegenwart: Raymond Carver und John Updike. Kein Wunder, denn mit den Stilmitteln von Kafka oder Hemingway ließen sich zeitgenössische Themen wie die erotische Suche einer jungen Frau oder das Coming-out eines Homosexuellen kaum darstellen.

Das Interview erschien in der „Welt“ vom 14. Oktober 2000

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