Zeuge des Untergangs

 Die gesammelten Gedichte Heiner Müllers – Band eins einer umfassenden Werkausgabe  

Als die Gletscher der letzten Eiszeit abschmolzen, ließen sie auf mancher grünen Wiese mächtige Felsbrocken zurück. Diese erratischen Blöcke, die das Eis von weit entfernten Gebirgen herangeschleppt hat, werden heute Findlinge genannt. Sie wirken wie monumentale Gedenksteine für eine fremde, unwirtliche Vergangenheit. Vor knapp zehn Jahren fand der reale Sozialismus, der wie eine politische Eiszeit über Osteuropa lag, sein abruptes Ende. Eins der bedeutendsten literarischen Zeugnisse dieser vergangenen Epoche ist das Werk Heiner Müllers (1929-1995). Es wirkt heute in unserer veränderten Kulturlandschaft wie ein Findling, wie ein erratischer Block. Aus seiner natürlichen Umgebung herausgebrochen und auf eine grüne (Spiel-)Wiese geraten, erinnert es an eine fremde, unwirtliche Vergangenheit. Der Kontrast könnte kaum größer sein: Während die Literatur heute im Zeichen der Ironie und des Spiels steht, ist Müllers Arbeit von ungeheurem Pathos geprägt, von einer geradezu obsessiven Emphase angesichts der Geschichte. Während die Autoren der Gegenwart feinen historischen Differenzen nachspüren, betrachtete Müller die Vergangenheit ziemlich pauschal als ein einziges Gemetzel, das erst durch eine befreiende Revolution beendet werden könnte. Während mittlerweile das Bekenntnis zur Demokratie und zum friedlichen Interessenausgleich auch zum guten Ton der literarischen Debatten gehört, glaubte Müller allein an die klärende Kraft des Konflikts, der – wenn nötig gewalttätig – Entscheidungen herbeizwingt. Zu all dem war Müller ein Meister der Sprache, wohl einer der größten der deutschen Nachkriegsliteratur. Ein Wortmagier, der schon Mitte der achtziger Jahre mit Befremden auf die Zeit blickte, in die er da geraten war: in eine Epoche der „Verkommenheit von Arbeitsmoral und Handwerk auch bei den Schriftstellern. Es gibt keine Maßstäbe mehr. Es ist überhaupt nicht mehr notwendig, einen Satz so zu formulieren, daß er mindestens grammatisch exakt ist. Man kann die größte Scheiße zusammenschmieren – es spielt überhaupt keine Rolle mehr, wenn es verkauft wird.“ Müllers eindrucksvolle Sprachkraft wird auch in dem jetzt erschienenen ersten Band der auf sieben Bände veranschlagten Gesamtausgabe seiner Werke deutlich. Hier sind alle Gedichte dieses Autors versammelt, der als Dramatiker berühmt wurde und doch viele Jahre seines Lebens fast nur Lyrik geschrieben hat. Der Band ist 360 Seiten stark geworden. Er enthält sämtliche bekannten Gedichte Müllers sowie zahlreiche bisher unbekannte Arbeiten aus dem Nachlaß und die Übersetzungen fremdsprachiger Stalin-Hymnen, die er vor den Weltfestspielen 1951 gegen gutes Geld wie „am Fließband“ anfertigte. Zu Lebzeiten hat Müller viele seiner Gedichte unter dem Titel „Lektionen“ zusammengefaßt. Zu Recht, denn seine Verse zielen eher auf den Kopf seiner Leser als auf ihren Bauch. Er schrieb eine Gedankenlyrik, die sich vor allem an politischen Themen entzündete, genauer: an der Idee einer weltverändernden Revolution und an den Problemen beim Aufbau eines sozialistischen Staates. Die Verwandtschaft seiner Texte mit denen seines großen Vorbilds Brecht ging in jungen Jahren so weit, daß ihm Stephan Hermlin ein zur Veröffentlichung eingesandtes Gedicht mit der Randbemerkung zurückschickte: „Das ist denn doch zu viel Brecht!“ Im Zusammenhang gelesen, zeichnet die Lyrik die politische Ernüchterung Müllers nach: den ganz allmählich beginnenden, dann aber immer radikaler werdenden Zusammenbruch seines Vertrauens in den realen Sozialismus. Mit dem Ende der Hoffnung auf die angeblich soviel bessere Gesellschaftsordnung erlosch für ihn auch jede andere politische Zuversicht. Von nun an hielt die Zukunft für ihn nur noch das bereit, was schon die Vergangenheit für ihn war: reine Barbarei. Gerade das macht, in der Epoche nach dem Scheitern der sozialistischen Staaten, das Unzeitgemäße in Müllers Werk aus. Sein Blick war so ausschließlich auf die revolutionären Umbrüche der Geschichte fixiert, daß er die langsamen Entwicklungen hin zu größerer Menschlichkeit nicht wahrnehmen konnte. Seine Utopie – die fast religiöse Züge trug – war eine Erlösung von allem Übel durch einen grundlegenden gesellschaftlichen Neuanfang. Friedrich Dürrenmatt schrieb über den Dramatikerkollegen und -konkurrenten Brecht, dieser denke so „unerbittlich, weil er an vieles unerbittlich nicht denkt“. Auch in diesem Punkt muß man Müller wohl als legitimen Nachfolger Brechts bezeichnen. Sein Werk ist von imponierender Konsequenz und kaum bestreitbarem literarischem Rang. Doch als „Laboratorium sozialer Fantasie“, als das er sein Theater verstanden wissen wollte, ist es heute nur in eingeschränktem Maße brauchbar. Denn Müller wurde zutiefst geprägt von einem gnadenlosen Weltkrieg und dem Kampf der Ideologien. Heute, in Zeiten zivilen Wettbewerbs, wirkt sein Werk wie ein Findling, wie ein düsteres Mahnmal, das die Möglichkeit einer ganz anderen, erschreckenden Lebenswirklichkeit in Erinnerung ruft.

Die Rezension erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ vom 20. April 1998

Heiner Müller: „Werke 1. Die Gedichte“ Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998 360 Seiten, 18,00 Euro ISBN 978-3518408933

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Ein literarischer Extremist

Erst Jesuit, dann Faschist und Kommunist, schließlich Pluralist – die vier Lebenswege des Franz Fühmann

Ein Schicksal, zerrissen wie unser Jahrhundert: Franz Fühmann führte vier Leben, vier grundverschiedene, diametral entgegengesetzte Existenzen. Dennoch blieb er sich stets im tiefsten Sinne treu. Er schien unverwüstlich, seine Energie und Willenskraft unerschöpflich. Heute, zehn Jahre nach seinem viel zu frühen Tod, wird deutlich, was die Literatur an Franz Fühmann verloren, was sie an ihm gewonnen hat: den bedeutendsten Schriftsteller der DDR. Er war ein literarischer Extremist. Wo andere zurückschreckten, begann für ihn erst der Wert und die Würde seiner Arbeit. Hartnäckig und ohne sich selbst zu schonen, wühlte er in den Wunden der deutschen Geschichte und in denen seines totalitären Staates. Er war stets auf das Äußerste aus, auf die ganze, ungeteilte Wahrheit – was ihm harte Kämpfe und auch schmerzhafte Niederlagen eintrug. Doch hat er deshalb in seiner Arbeit niemals Kompromisse oder auch nur diplomatische Zugeständnisse gemacht. Im Westen Deutschlands ist Fühmann noch immer wenig bekannt. Einige seiner Erzählungen fanden zwar schon vor Jahrzehnten Eingang in die Lesebücher der alten Bundesrepublik. Auch wurde er hierzulande von Kritikern gefeiert und mit großen Literaturpreisen geehrt. Dennoch stand er stets im Schatten anderer DDR-Autoren, deren Bücher besser in das vom Kalten Krieg bestimmte Klima der Zeit paßten. Jetzt aber, da die politischen Gefahren jedweder fundamentalistischen, totalitären oder auch nationalistischen Strömung offenliegen, jetzt erst tritt der intellektuelle Rang Fühmanns deutlich hervor. Seine Briefe aus den Jahren 1950 bis 1984, die jetzt erschienen sind, spiegeln nicht nur fünfunddreißig der vierzig Jahre DDR-Literaturgeschichte wider. Sie lassen zugleich noch einmal miterleben, wie aus dem besessenen Ideologen Fühmann ein souveräner, pluralistisch denkender Mensch und Schriftsteller wurde. Ein ergreifendes, mitreißendes geistiges Schauspiel. Fühmann war von klein auf zum Fanatismus erzogen worden. Seine bigotte Mutter, die im Alter einem religiösen Wahn verfiel, unterwarf den Sohn strengster katholischer Zucht. Schon als Zehnjährigen schickten ihn seine Eltern in ein Jesuiteninternat bei Wien, wo die Kinder mit rabiaten Mitteln zur künftigen Kirchenelite geformt werden sollten. Doch der Drill zeitigte beim Zögling Franz andere als die erwünschten Folgen: Nach vier Jahren kehrte er der Schule als konsequenter Atheist den Rücken. Unter dem Einfluß seines nationalsozialistisch gesinnten Vaters entschied er sich daraufhin für ein ganz anderes Leben: Er wurde Mitglied einer nationalsozialistischen Jugendorganisation und besuchte das Gymnasium „in Stiefeln und Braunhemd“. Noch vor Kriegsbeginn trat er der Reiter-SA bei und blieb bis zur Kapitulation Deutschlands 1945 ein treuergebener Soldat Hitlers, der fest an die Überlegenheit der germanischen Rasse und an den Endsieg glaubte. Diese Phase seines Lebens hat Fühmann nachträglich oft dramatisch überhöht. Obwohl er lediglich als Funker am Krieg teilnahm und nie einen Schuß in einem Gefecht abfeuerte, urteilte er unerbittlich über sich selbst: „Meine Schulzeit insgesamt ist eine gute Erziehung zu Auschwitz gewesen.“ Er fragte sich wieder und wieder, ob er als KZ-Wachmann ebenso widerspruchslos seinen Befehlshabern gefolgt wäre, wie er es als einfacher Soldat getan hatte. Strenger als er ist kein anderer deutscher Schriftsteller der Nachkriegszeit mit sich selbst ins Gericht gegangen. In der sowjetischen Kriegsgefangenschaft begann dann Fühmanns dritter Lebensweg: Er wurde auf eine der berüchtigten Antifa-Schulen geschickt, wo man ihn zu einem begeisterten Anhänger Stalins umerzog. Der Druck auf die Schüler war so enorm, daß, wie Fühmann später berichtete, manche in den Selbstmord flüchteten. Doch Fühmann nahm, getrieben von Schuldgefühlen wegen der deutschen Kriegsverbrechen, den neuen, den kommunistischen Glauben von ganzem Herzen an. Er wollte am Aufbau einer besseren und gerechteren Welt mitarbeiten. Dies war für ihn keine leere Phrase, sondern ein Vorhaben, dem er sich mit Haut und Haar verschrieb. Als Stalinist kehrte er Weihnachten 1949 nach Deutschland, in die DDR, nach Ostberlin zurück, wo er sich in den fünfziger Jahren zu den strikt linientreuen Schriftstellern des Landes zählte. Er veröffentlichte nur das, was seiner Partei genehm war und unterwarf sich bereitwillig ihren kulturpolitischen Vorgaben. Aber die Kluft zwischen den Idealen und der Wirklichkeit seines neuen Staates blieb ihm nicht lange verborgen. Anfangs versuchte Fühmann noch, die schönen Worte der Propaganda für sich notdürftig mit den tristen Tatsachen des Alltags in Einklang zu bringen. Doch traten ihm die Lebenslügen der DDR schon bald so deutlich vor Augen, daß seine sozialistischen Überzeugungen zu wanken begannen. Jahrelang betäubte er seine Zweifel mit Alkohol. Wie alles in seinem Leben tat er auch dies radikal und gründlich: Die Ärzte gaben ihm nur noch wenige Monate, als er im August 1968 von der Okkupation der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Pakts erfuhr. Die Nachricht vom brutalen Ende des Prager Frühlings empörte ihn zutiefst und gab ihm Kraft, mit dem Regime seines Staates und zugleich mit dem Alkohol zu brechen. Die Briefe lassen erkennen, wie rasch er sich daraufhin zu einem unnachsichtigen Kritiker der DDR wandelte. Fühmann beschränkte sich zunächst auf das Feld, auf dem er sich am besten auskannte, besser als jeder Funktionär: das Feld der Literatur. Er polemisierte vehement gegen die Anmaßung der offiziellen Kulturpolitik, forderte Toleranz gegenüber allen Spielarten der Dichtung und setzte sich beharrlich für junge, in politische Bedrängnis geratene Autoren ein. Viele von denen, die er damals unter seinen Schutz stellte, zählen heute zu den besten Poeten des Landes: so Sarah Kirsch, Wolfgang Hilbig, Frank-Wolf Matthies oder Uwe Kolbe. Verblüffend, was für einen herausfordernden und entschiedenen Ton er gegenüber den Machthabern anschlug. In einem offenen Brief an Klaus Höpcke, den stellvertretenden Kulturminister und obersten Zensor des Staates, übte er 1977 Radikalkritik an der Partei: „Weder ein einzelner, noch ein Berufsstand, noch irgendeine soziale Organisation oder politische Gruppierung ist im alleinigen Besitz der Wahrheit.“ Dem Minister dürfte der Atem gestockt haben. Fühmann machte sich über seinen politischen Einfluß keine Illusionen. Er wußte, mit welchem Zynismus die Funktionäre alle unliebsamen Kommentare der Schriftsteller beiseite schoben. Aber er wollte – selbst auf das Risiko hin, sich lächerlich zu machen – nicht die geringste Chance zur öffentlichen Kritik ungenutzt verstreichen lassen. Heute beweisen seine Worte: In dieser deutschen Diktatur hatte der einzelne weit größere Möglichkeiten zur Verweigerung oder zum Widerspruch, als es die Mitläufer des Regimes jetzt glauben machen wollen. Fühmann gehörte nicht zu den Schriftstellern, die Politisches und Poetisches säuberlich voneinander trennen können. Ihm geriet jedes Buch, jeder Text, jeder Brief in irgendeiner Weise zum Bekenntnis. Nachdem er die ideologischen Denkschemata hinter sich gelassen hatte, plädierte er ohne jede Rücksicht für vorbehaltlose Meinungsvielfalt in der DDR. So erkannte er schon Ende der siebziger Jahre, was die Strategen der SED nicht sehen wollten: Die Idee eines uniformen, straff organisierten sozialistischen Staates war längst überlebt und würde schon bald der zunehmenden Ablehnung durch die Bevölkerung nicht mehr standhalten können. Mit diesen Ansichten stellte er sich im offiziellen Kulturleben seines Landes endgültig – und wohl auch bewußt – ins Abseits. Er näherte sich den französischen oder amerikanischen Philosophen und Sozialtheoretikern, die in den folgenden Jahren die postmoderne Vielfalt der westlichen Welt erforschten und beschrieben. Doch den letzten Schritt, den Schritt in den Westen, mochte Fühmann nicht mehr vollziehen. Die vergangenen Kämpfe hatten ihn erschöpft, und es fehlte ihm die Kraft, seinen vier Existenzen eine weitere, eine fünfte hinzuzufügen. „Ich kann so nicht mehr leben“, bekannte er, kurz bevor er von seiner tödlichen Krankheit erfuhr, „finde keine andre Möglichkeit, stehe vor Konsequenzen, die irgendwie das Ende bedeuten, muß sie ziehen, kann sie nicht ziehen – (bin) also halt ein verbrauchter, abgewirtschafteter alter Mann, und da ist´s immer am besten: Grube graben, alten Mann reinschmeißen, Grube zuschippen, gell?“ Ein Jahr später erfüllte sich diese Forderung. Er starb im Juli 1984 in der Ostberliner Charité. Noch in seinem literarischen Testament aber werden sein lebenslanger Kampf um Aufrichtigkeit und sein Zorn auf Opportunismus und Verlogenheit spürbar: Den Vorzeige-Schriftstellern Gerhard Henninger, Dieter Noll und Hermann Kant untersagte er ausdrücklich, an seiner Beerdigung teilzunehmen. „Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der, gescheitert zu sein: in der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten.“

Das Porträt erschien in Nachrichtenmagazin „Focus“ vom 9. Mai 1994

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„Die Namen“. Ein Besuch bei Don DeLillo

Sein Roman „Die Namen“, fängt an wie eine gewöhnliche Scheidungsgeschichte. Eine Ehefrau hat ihren Mann beim Seitensprung mit ihrer besten Freundin erwischt. Sie fängt daraufhin mit dem gemeinsamen Sohn auf einer griechischen Insel ein neues, einfaches Leben an. Um den beiden nahe zu bleiben, nimmt der reuige Mann einen Job in Athen an als Mitarbeiter einer Versicherung. Zugegeben, ein sensationeller Auftakt ist das nicht. Doch am Ende der Geschichte hat sich der Held in eine böse Geheimdienstgeschichte verstrickt, ist ein Freund statt seiner von griechischen Nationalisten niedergeschossen worden, und er sieht sich konfrontiert mit einer bizarren Sekte, die im ganzen Nahen Osten Ritualmorde begeht – aus sprachphilosophischen Gründen. „Die Namen“ ist ein doppelbödiger Roman, ein Roman über die Flucht aus der westlichen Warenwelt und über die Sehnsucht nach ihr; über perfekte Manager, die unfähig sind, ihr Privatleben zu managen; über Terroristen, die Frieden herbeibomben wollen; über ungläubige Humanisten und gläubige Killer; und nicht zuletzt über die Sprache selbst, die der Verständigung dient, aber immer schon unverständlichen Regeln folgte. „Die Namen“ war, erzählte Don DeLillo als ich ihn 1994 in einem kleinen Restaurant in Manhattan traf, wohl das entscheidende Buch seiner Karriere. Er hat es vor gut zehn Jahren in Griechenland geschrieben. Damals konnte er den american way of live nicht mehr ertragen, jenen endlosen Taumel des fröhlichen Konsums, der Moden und des Entertainments. Seine Abwendung war pathetisch, eine große Geste: Er wollte zurück zu den Wurzeln der westlichen Kultur und mietete sich deshalb ein Zimmer unweit der Akropolis. Doch der Roman, der dort entstand, liest sich wie beides – wie ein Loblied auf die Vernunft des Abendlandes und zugleich wie eine fundamentale Kritik an ihr. Der Leser muß sich seine Meinung selbst bilden, DeLillo bevormundet ihn nicht: ein erzählerisches Kabinettstück, mit dem er in Amerika in die erste Garde der Literatur aufgerückt ist. Im Gespräch wirkt DeLillo wie seine Bücher. Auf den ersten Blick unscheinbar, sanft, seine schmalen Hände gestikulieren kaum, seine Stimme bleibt zurückhaltend. Doch nachdem ich mich auf den Dialog mit ihm erst einmal eingelassen hatte, wurden seine Worte immer suggestiver. Er ist weitsichtig, seine Brille vergrößert die Augen ins Riesenhafte, der Blick bekommt etwas Bohrendes. Auch dann noch meidet er ausladende Gebärden, spricht ruhig, gelassen – und hat doch die Aufmerksamkeit seines Zuhörers fest im Griff mit einer geradezu einschüchternder Kraft und Sicherheit. Natürlich ist er ein Besessener, ein Wahrheitssucher, der – unserer chaotischen, desintegrierten Gegenwart zum Trotz – herauszufinden versucht, was die Welt im Innersten zusammenhält. Doch diese Energie, die man im Umgang mit ihm rasch zu spüren bekommt, ist gepaart mit einer wohltuenden Ironie. Das schon allein bewahrt ihn vor jedem Fanatismus. Er ist ernst bei der Sache, ohne sich selbst zu ernst zu nehmen. Er gehört zu den intelligentesten und stilsichersten Autoren Amerikas, aber sein literarisches Bekenntnis bleibt einfach und demonstrativ leserfreundlich: „Ich möchte Vergnügen bereiten durch Sprache, durch die Architektur eines Buches oder eines Satzes und durch Figuren, die komisch sind, ordinär, gewalttätig oder alles das zusammen.“ Am besten ist ihm das wohl in „Weißes Rauschen“ gelungen, in jenem Roman, für den er den begehrten National Book Award erhielt. Er schrieb den Roman, als er nach über drei Jahren aus Griechenland zurückkehrte. Seine amerikanische Heimat war ihm fremd geworden, und er begann, sie zu erforschen wie ein Ethnologe eine exotische Zivilisation. Selten ist so klug, so witzig und auch so giftig über die Amerikaner und ihren Alltag geschrieben worden: über ihre Vorliebe für Fast Food und Psychiater, für schnelle Scheidungen und wohltemperierte Supermärkte, für liveübertragene Katastrophen aus aller Welt und schnellwirkende Pillen gegen Katastrophen im eigenen Leben. Das Unheimlichste in diesem Buch sind die Kinder. Es beginnt wie ein heiterer Familienroman: ein umsichtiger Vater, eine zupackende Mutter, dazu mehrere Sprößlinge die gemeinsam die Wechselfälle ihres Vorstadt-Daseins meistern. Aber dann bricht ein veritables Verhängnis über die Figuren herein, das laue Leben erfährt einen abrupten Klimasturz, und plötzlich erweisen sich die Kinder als abgebrühte Realisten, die ihren Eltern noch die letzten Illusionen rauben. Gnadenlos reißen sie die Fassade ein, mit der sich ihre Erzeuger um böse Wahrheiten, um Angst und Tod herumzudrücken versuchen. Das Familienidyll endet so in einem lustvoll verübten Mord. Wie gesagt, DeLillos Bücher sind keine angenehme Lektüre. Aber eine wirkungsvolle. Wer „Weißes Rauschen“ gelesen hat, betrachtet danach manches mit anderen Augen: einen Supermarkt oder einen Katastrophenbericht im Fernsehen – und vielleicht sogar die eigenen Kinder. DeLillos halbdokumentarischer Roman „Sieben Sekunden“ (über das Attentat auf John F. Kennedy) gehört zu seinen größten Erfolg. Er ist spannend wie ein Politthriller und stand lange auf allen amerikanischen Bestsellerlisten. Zugleich aber belegt das Buch eine denkbar beunruhigende Erkenntnis: daß selbst eine gigantische Aufklärungsarbeit, daß selbst das Bekanntwerden sämtlicher Tatsachen, die mit diesem Mord zusammenhängen, nicht die Wahrheit ans Licht gebracht hat. Kennedy wurde vor laufenden Kameras und hunderten von Zeugen umgebracht, wahre Heerscharen von Polizisten und Reportern haben alle nur denkbaren Fakten überprüft – und doch weiß man bis heute nur eines mit Sicherheit: Lee Harvey Oswald war nicht der einzige Täter. Beginnt an den Grenzen der Aufklärung zwangsläufig der Mythos – zumindest die Neigung zum Mystifizieren? Auf jeden Fall erzählte mir DeLillo, er habe sich vor der endlosen, jahrelangen Arbeit an „Sieben Sekunden“ ein Foto von Oswald ins Bücherregal über seinem Schreibtisch gestellt. Mit diesem Bild vor Augen schrieb er Monat um Monat auf den letzten Satz des Romans zu, den er genau im Kopf hatte. Als es schließlich soweit war, als er endlich diesen letzten Satz in die Maschine tippen wollte, bewegte sich das Foto – das zuvor so lange unverrückbar gegen die Bücher gelehnt hatte – und schwebte sanft vom Regalbrett. Der Satz handelte von der merkwürdigen Ausstrahlungskraft, die bis heute von Lee Harvey Oswalds Namen ausgeht. DeLillo erzählte das unterkühlt. Er ist nicht der Typ, der Anekdoten mit melodramatischen Effekten ausstattet. Aber sein Blick bekommt in solchen Momenten wieder etwas Bohrendes, und man versteht mit einem Mal, weshalb die „New York Review of Books“ diesen äußerlich so unauffällige Mann zum „Chef-Schamanen“ einer neuen Schule beängstigender amerikanischen Literatur erklärt hat. Bücher, Sätze oder Worte sind für ihn mehr als notierte Informationen. Sie haben ein eigenes Leben, eine eigene Macht. Als wir uns verabschiedeten, fragte ich ihn nach dem Roman, an dem er zur Zeit arbeitet. Er will nicht darüber sprechen, ist sichtlich besorgt. Es wird sein größtes, sein wichtigstes Buch werden und den Titel „Unterwelt“ tragen: „Es versucht, mich zu töten“, sagt DeLillo, während wir uns die Hände geben. Er dreht sich um, eine gewöhnliche Gestalt, absolut verwechselbar, solange man nicht in seine Augen schaut, und verschwindet in der New Yorker Menschenmenge. Inzwischen hat er den Kampf mit dem Monstrum ausgestanden.

Don DeLillo: „Die Namen“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Matthias Müller. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994. 425 Seiten, 48,00 DM

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Chronist der großen Wanderung

 V. S. Naipaul, der radikale Romancier und Reporter von den Karibischen Inseln, auf seiner endlosen Reise

London, Mai 1954: In einem mit Menschen, Möbeln und Manuskripten vollgestopften Büro der BBC sitzt ein kleiner Mann mit unverkennbar indischen Gesichtszügen. Er ist 21 Jahre alt und freier Mitarbeiter der englischen Rundfunkanstalt. Doch an diesem Tag arbeitet er nicht für irgendeine Sendung. In grotesker Haltung, die Schultern weit zurückgeworfen, die Füße rechts und links auf der obersten Strebe des Stuhls, kauert er „wie ein Affe“ vor einer BBC-Schreibmaschine und tippt auf „nicht raschelndem“ BBC-Papier den ersten Satz seines ersten druckreifen Buchs. Der Satz war ihm ohne großes Nachdenken in den Sinn gekommen, und das Buch, an dessen Anfang er stand, sollte erst drei Jahre danach veröffentlicht werden. Dennoch war jener Augenblick im Redaktionsraum der BBC die entscheidende Wende im Leben des Vidiadhar Surajprasad Naipaul, der Moment, in dem er zum Schriftsteller wurde. Er hat ihn in seiner Autobiographie festgehalten und liebevoll ausgemalt. Heute, fast 40 Jahre später, gehört Naipaul zu den bedeutendsten Autoren der englischsprachigen Welt. Er hat bislang rund 20 Bücher veröffentlicht, Essays, Erzählungen, Romane, die zu den besten zählen, die in seiner Generation geschrieben wurden: ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches und imponierendes Werk, für das er unter Insidern der Buchbranche seit Jahren als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird. Naipaul ist Romancier und Reporter zugleich, und er vereint diese beiden Rollen mit einer Perfektion, für die es im deutschen Kulturraum keinen Vergleich gibt. Er kennt nicht nur den Globus sondern auch die Seele der Menschen bis in die abgelegensten Winkel. Er versteht es darüber hinaus, sein Wissen in einfache und klare, aber mitreißend erzählte Geschichten zu verwandeln. Sollten sich die Historiker künftiger Jahrhunderte irgendwann einmal ein Bild davon machen wollen, wie die Völker der verschiedenen Kontinente in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammenlebten, werden sie in den Büchern V. S. Naipauls eine Quelle ersten Rangs finden. Er wurde 1932 auf Trinidad geboren. Sein Großvater kam als einfacher Plantagenarbeiter aus dem indischen Uttar Pradesh auf die Insel in der Karibik. Naipauls Vater arbeitete zunächst als Drucker und diente sich, angetrieben von einer ungeheuren Begeisterung für das Schreiben, zum Berichterstatter der englischsprachigen Zeitung „The Trinidad Guardian“ hoch. Diese beiden Eigenschaften hat er an seinen Sohn vererbt: den unbeugsamen Willen und die Leidenschaft für die Literatur. Hinzu kam das ausgeprägte Selbstbewußtsein V. S. Naipauls: Schon als Schüler der fünften Klasse kritzelte er das Gelöbnis in sein Lateinbuch, Trinidad binnen fünf Jahren zu verlassen – zu eng, zu provinziell erschien ihm die Insel. Er schwor sich, sein Leben um keinen Preis in der Abgeschiedenheit zu vertun. Tatsächlich brauchte er nur ein Jahr länger, um sein Vorhaben zu verwirklichen. Gerade achtzehnjährig brach er, mit einem Staatsstipendium versehen, nach Oxford auf, um Literatur zu studieren. Zurück blieben die Familie und die Heimat, in der er sich später genauso fremd fühlen sollte, wie an jedem anderen Ort der Erde: „Ich verließ sie alle und ging forsch auf das Flugzeug zu, ohne zurückzuschauen.“ Sein Vater starb drei Jahre später, der Sohn sah ihn nicht wieder. Naipaul ist kein Mann für halbe Sachen: Mit fast unmenschlicher Konsequenz verfolgte er seinen Traum, Schriftsteller zu werden. Bis heute ist er stolz darauf, nie einen anderen Beruf erlernt zu haben. Selbst einen gutdotierten Job als Werbetexter warf er nach wenigen Wochen hin, um wieder an seine Schreibmaschine zurückzukehren. Er zog es vor, von wenigen Pfund zu leben, zur Untermiete zu wohnen und bis zur totalen Erschöpfung an seinen Manuskripten zu arbeiten. „Ich stand“, notiert er später, „dauernd unter einem enormen Druck.“ Aber es gelang ihm, diesen Druck produktiv zu nutzen: Im ersten Jahrzehnt seiner Karriere publizierte er neun gewichtige Bücher, darunter eines seiner Meisterwerke: „Ein Haus für Mr. Biswas“. In diesem Roman fand er endgültig zu dem Thema seines Lebens. Mit dem großen Atem eines Epikers entwirft er ein Panorama des heillosen Völkergemischs in der Karibik. Inmitten des wüsten Durcheinanders der Rassen, Religionen und Kulturen ringt Mr. Biswas, ein dünnhäutiger Inder, um Orientierung für seine Existenz. Verzweifelt und allen Rückschlägen zum Trotz arbeitet er jahrzehntelang, um seiner Familie ein Haus bauen zu können: eine Zuflucht im Chaos. Als es endlich bezugsfertig ist, steht Biswas bereits am Rand des Todes und stirbt bald darauf – aber er hinterläßt ein wunderbares Symbol für die menschliche Beständigkeit und Willenskraft. Naipaul wurde seither nicht müde, die neuen Gefahren unserer multikulturellen Zukunft zu beschwören. Er ist der große Chronist jener modernen Völkerwanderungen, die heute Europa erschüttern. Die ersten Anzeichen dieser kommenden Unruhen spürte er schon vor Jahrzehnten in der Dritten Welt auf. Immer wieder beschreibt er die Einsamkeit des einzelnen angesichts dieses gigantischen Umbruchs, die Verlorenheit des Individuums, das auf keine verbindliche Tradition mehr zurückgreifen kann. Aber er läßt zugleich keinen Zweifel daran, daß diese Zukunft unaufhaltsam ist, ja daß sie längst begonnen hat – wie Naipauls eigenes Schicksal belegt. Er gehört zu den Heimatlosen, den ewig Reisenden, die nirgendwo zur Ruhe kommen. „Der Bequemlichkeit halber“ hat er seinen festen Wohnsitz in Großbritannien, London bietet ihm beste Flugverbindungen. Über sein Landhaus in Wiltshire hat er ein – leider recht langatmiges – Buch geschrieben, das jetzt in Deutsch erschienen ist: „Das Rätsel der Ankunft“. Doch die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er in Hotels oder proviso- rischen Unterkünften. Er wohnte in Indien und Pakistan, durchstreifte die islamische Welt vom Iran über Malaysia bis nach Indonesien, studierte die USA, Lateinamerika und die Karibik. Über Afrika schrieb er zwei seiner schönsten Bücher „Sag mir, wer mein Feind ist“ und „An der Biegung des großen Flusses“. Mit seinem scharfen Verstand und seinem unbestechlichen Blick macht sich Naipaul allerdings nicht nur Freunde. Er erkennt die Schwächen seiner Zeitgenossen, und er hat den Mut, sie öffentlich anzuprangern. Sein Fazit, nachdem er als Collegelehrer in den Vereinigten Staaten gearbeitet hatte: „Ungebildete Studenten mit weißen Söckchen bedrohen Amerika mehr als Öl-Embargos.“ Über seine britische Wahlheimat schrieb er: „Das Leben hier ist eigentlich eine Art Kastration. In England sind die Leute sehr stolz darauf, dumm zu sein.“ Anstoß erregte Naipaul oft mit seinen Ansichten über Staaten der Dritten Welt, die er auf seinen Reisen erkundete. Er ist kein Mann der politisch ausgewogenen Formulierung. Er will provozieren, Tabus verletzen und so neue Einsichten vermitteln: „Die Leute sagen, der Mann im Busch ist ausgebeutet worden, ist ein Opfer des Kolonialismus. Ich dagegen glaube, daß die Menschen in Europa viel größere Ungewißheiten und Gewalt ertragen haben als je ein Mensch, der im Busch lebt. Ich bin erstaunt über diese Kreativität in Europa. Europa wird kreativ bleiben. Unkreative Länder, das sind doch wohl die arabischen Länder und Afrika. Sie tun nichts, das sind parasitäre Orte.“ Man hat Naipaul vorgehalten, aus solchen Sätzen spräche die Arroganz des Emporkömmlings, aber sein Furor ist stets durch enorme Kompetenz untermauert: Er weiß genau, wovon er spricht, und er kann es gut begründen. Außerdem wendet sich seine Kritik grundsätzlich gegen beide Seiten, gegen die Armen und die Reichen, gegen die Erste und die Dritte Welt. Tatsächlich neigt Naipaul, der es vom namenlosen Koloniebewohner zum Kos- mopoliten und Weltautor brachte, zu unerbittlichen Urteilen. Naipaul schont nichts und niemanden – aber am wenigsten sich selbst. Er legt die strengsten Maßstäbe an seine Bücher an und läßt beim Schreiben keine Entschuldigungen gelten. Er ist ein fanatischer Arbeiter, der seine Manuskripte, nachdem sie getippt sind, mehrfach mit der Hand abschreibt und an jedem Satz, jeder Formulierung tagelang feilt – oft bis zum körperlichen Zusammenbruch. Auf diese Weise wurde V. S. Naipaul, was er heute ist: ein, im buchstäblichen Sinn des Wortes, freier Autor. Er ist niemandem etwas schuldig, er kennt keine Rücksichten oder Kompromisse. Seine Überzeugungen sind an keine Parteien oder Institutionen gebunden – und gerade deshalb so wertvoll. Kein Wunder, daß er seine Souveränität letztlich mit Anfeindungen und Einsamkeit bezahlen mußte. Doch beklagt hat er sich nie. Sein Interesse gilt allein der Literatur und dem Versuch, sich den Tatsachen des Lebens so illusionslos wie möglich zu stellen: „Das hat mir Unabhängigkeit bewahrt: von Leuten, von Verstrickungen, von Rivalitäten, vom Wettbewerb. Ich habe keine Gegenspieler, keine Rivalen, keine Meister; ich fürchte niemanden.“

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„Die Musik des Zufalls“

Paul Auster schreibt Romane, die in Atem halten

Paul Austers größte Leidenschaft ist der Misserfolg. Der soziale Abstieg hat es ihm angetan. Auf Verluste ist er wie versessen und seine Spezialität sind schleichende Zusammenbrüche. In den sechs Jahren von 1985 bis 1990 hat Auster sechs Romane publiziert, und in jedem erleben die Hauptfiguren ihren totalen Ruin. Sie verlieren alles: Arbeit und Geld, Bindungen und Besitz, Freunde und Familie. Schließlich stehen sie da, mit leeren Händen, von aller Welt verlassen, „mitten im Nirgendwo“ – wie ihre Bilanz in jedem Buch fast wortgleich lautet. Der alttestamentarische Urahn dieser Pechvögel heißt Hiob, doch während dem auch im größtem Unglück noch sein Glaube und sein Gott blieb, stürzen seine amerikanischen Nachfolger ins Nichts. Natürlich kann man nicht behaupten, dass sie sich dabei gut amüsieren, aber ihr rasanter Niedergang vollzieht sich immer mit ihrer Zustimmung und zu ihrer Zufriedenheit. Denn nur auf diese Weise gelingt es ihnen, tatsächlich sie selbst und also frei zu sein. Die Beharrlichkeit, mit der Auster dieses Thema verfolgt, lässt auf eine persönliche Besessenheit schließen, die bedeutende literarische Früchte tragen kann. In seinem Fall hat sie das bis heute allerdings noch nicht getan. Auch mit seinem neuen Roman „Die Musik des Zufalls“ bleibt Auster dem beschriebenen Handlungsmuster treu. Jim Nashe arbeitet als Feuerwehrmann in Boston und zählt zur Zeit nicht zu den Glückskindern: Seine Mutter ist gestorben, seine Frau spurlos verschwunden und seine zweijährige Tochter zur Pflege bei Verwandten im fernen Minnesota. Als er dann noch vom Tod seines Vaters erfährt, berührt ihn das vergleichsweise wenig, denn der hat zuvor jahrzehntelang nichts von sich hören lassen. Wichtiger ist für Nashe, durch das Ableben seines ansonsten wenig fürsorglichen Erzeugers zweihunderttausend Dollar geerbt zu haben. Zu den festen Gesetzen von Austers literarischer Welt gehört, dass sein Held dieses kleine Vermögen nicht dazu benutzt, sein aus den Fugen geratenes Leben wieder in bürgerliche Bahnen zu lenken. Im Gegenteil: Nashe setzt das Kapital ein, um alles, was ihm bislang noch Halt und Zuflucht gab, gründlich zu beseitigen. Er kündigt seinen Job, verschleudert das wenige, das er noch sein eigen nennt, setzt sich in einen frisch gekauften Saab und verbringt das nächste Jahr auf den endlosen Autobahnen Amerikas. Auster ist klug genug, diesen Entschluss, alle Brücken hinter sich abzubrechen, als einen höchst zweischneidigen, ambivalenten Akt darzustellen. Nashe betreibt mit diesem Schritt sowohl seine Selbstbefreiung als auch seine Selbstvernichtung: „In den nächsten fünf Tagen regelte er seine Angelegenheiten, rief den Vermieter an und sagte ihm, er könne sich einen neuen Mieter suchen, schenkte seine Möbel der Heilsarmee, meldete Gas, Strom und Telefon ab. All das geschah mit einer Unbekümmertheit und Brutalität, die ihm tiefe Befriedigung verschaffte, doch nichts davon reichte an das Vergnügen heran, einfach Dinge wegzuwerfen … Er behandelte seine Vergangenheit wie einen Haufen fortzuschaffenden Müll … Er kam sich vor wie einer, der endlich den Mut gefunden hat, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen – nur dass in diesem Fall die Kugel nicht den Tod bedeutete, sondern das Leben; die Explosion, die die Geburt neuer Welten einleitete.“ Mit diesem rabiaten Ausstieg hat Nashe seine Existenz zum Spielball des Zufalls gemacht und der schlägt, das kann bei Auster wohl nicht anders sein, zu mit vernichtender Wucht. Kurz bevor Nashe seine letzten Dollars durchbringt, trifft er auf einen jungen, nicht eben erfolgsverwöhnten Poker-Profi namens Jack Pozzi – und damit gerät das Buch auf die schiefe Bahn. Gemeinsam beschließen sie, die verbliebenen Geldreserven bei einer nächtlichen Partie gegen zwei Millionäre zu riskieren. Am nächsten Morgen sind sie nicht nur pleite, sondern haben einen Berg von Spielschulden am Hals, den sie durch wochenlange Sklavendienste in einem reichlich merkwürdigen privaten Arbeitslager wieder abtragen. Aber das ändert nichts daran, dass Nashes Schicksal besiegelt ist. Sein Ende ist ebenso abrupt und willkürlich, wie es zuvor alle seine wichtigen Entscheidungen waren: Er stolpert mit einem Mal blindlings aus seinem Leben und damit auch aus dem Roman – zurück bleibt der Leser, der sich fragt, was das alles soll. Zugegeben, Auster versteht es, sein Publikum zu unterhalten, oder genauer: es in Atem zu halten. Bei ihm ist immer etwas los. Kaum hat er eine Geschichte begonnen und richtig in Schwung gebracht, zieht er die Notbremse, ändert die Richtung und treibt seine Figuren in neue, ganz andere Abenteuer hinein. Ob durch diesen erzählerischen Wankelmut die Glaubwürdigkeit oder die psychologische Plausibilität seiner Bücher zum Teufel geht, kümmert ihr offenbar herzlich wenig. Hauptsache: Action. So wird bei ihm in „Mond über Manhattan“ aus einer Aussteigerstory eine Romanze, die sich dann zu einer biographischen Recherche wandelt, um schließlich in einen Vater-Sohn-Konflikt zu münden. In „Die Musik des Zufalls“ verfährt er ähnlich: Das Buch beginnt als Abrechnung mit einem verfehlten Leben, geht über in eine wacker erzählte Kriminalgeschichte, bevor es in einer symbolbeladenen Parabel auf die Absurdität des Daseins und die Vergeblichkeit allen Tuns endet. Überdies liebt es Auster, seine Romane in der Nähe populärer Kino-Genres anzusiedeln: Er bedient sich munter bei den Motiven des Psycho-Thrillers, benutzt die leicht angestaubten Kulissen der Katastrophen-Filme oder plündert die Mythen des Westerns. In „Die Musik des Zufalls“ stößt man auf Anleihen beim Road-Movie und bei den typisch amerikanischen Straflager-Geschichten samt Ausbruchsversuch und prügelnden Aufsehern. Jeder halbwegs kinoerfahrene Zeitgenosse findet sich also in Austers Büchern sofort zurecht – was ihnen zunächst einmal einen Sympathievorschuss einträgt. Doch derlei medienübergreifende Zitate machen noch keinen Romancier. Die literarischen Versatzstücke und die Fertigteile aus der Filmgeschichte, die Auster so fingerfertig zusammenheftet, wollen nicht so recht zueinander passen. Unentwegt hantieren die Figuren bedeutungsvoll mit Requisiten, die dann für die Geschichte funktionslos bleiben. Immer wieder begegnet man in seinen Büchern blinden Motiven oder auch Handlungssträngen, die der Autor zunächst mit viel Aufwand verfolgt, bevor sie sang- und klanglos in der Versenkung verschwinden. Erstaunlich ist zudem die Leichtfertigkeit, mit der sich Auster gelegentlich Klischees anvertraut, wie sie einfältiger und platter kaum zu denken sind. Man ist so frappiert, dass man fast vergisst, sich über den Autor zu ärgern: Seine beiden Millionäre zum Beispiel sind unkultiviert wie William Hearst, verschroben wie Howard Hughes und lassen sich, als richtige Amerikaner, in ihrem luxeriösen Speisezimmer Hamburger mit Cola servieren. Pozzi, der Berufsspieler, ähnelt seinen Kollegen aus den Serien-Western oder -Krimis wie ein Ei dem anderen: ein schmächtiger Schwätzer, der allen Frauen an die Wäsche geht und sich bei der Arbeit hinter dem sprichwörtlichen Pokerface verschanzt. Eine Prostituierte, mit der sich Pozzi vergnügt, ist ein wenig dumm, aber hat natürlich ein goldenes Herz und verliebt sich sofort in ihren Freier. All das ist nicht zuletzt deshalb so störend und irritierend, weil man an einigen Passagen sehr genau merkt, wie gut Auster schreiben kann, wenn er seine Eitelkeit und sein Imponiergehabe vergisst. In den wenigen Momenten, in denen er seine Leser nicht durch schicke Anspielungen zu beeindrucken, durch Gedankensprünge zu verblüffen oder durch herbeigezwungene Rätsel einzuschüchtern versucht, in diesen wenigen Momenten erweist er sich als ein talentierter Erzähler, dem man durchaus die Kraft zutraut, einen großen Roman über die bemerkenswerte Sehnsucht seiner Helden zu schreiben: Über den Wunsch die Vergangenheit los zu werden, jedes Eigentum abzuschütteln, alle Kontakte rücksichtslos zu kappen, damit sie endlich frei und ungehindert sie selbst sein können – auch wenn sie dafür mit ihrem Untergang bezahlen müssen. Vorläufig beschränkt sich Paul Auster darauf, aus Leibeskräften jedem halbseidenen Effekt und allen intellektuellen Moden hinterherzuhecheln. Sollte er daran irgendwann einmal die Lust verlieren, könnte man Lust bekommen, seine Bücher zu lesen.

Paul Auster: „Die Musik des Zufalles“. Roman
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1992 254 Seiten, 38,00 Mark

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Die Familie war eine feste Burg

Ein Gespräch mit Günter de Bruyn über den ersten Band seine Autobiographie „Zwischenbilanz“, die Vorstellung, das Gute im Übermaß könnte das Schlechte besiegen und Fotos, die unsere Erinnerung verändern, sowie seine Dankbarkeit für Karl May

Uwe Wittstock: Zu Beginn Ihres Buches Zwischenbilanz schildern Sie eine eindrucksvolle Szene: Sie erzählen von dem Film Emil und die Detektive, den sie als Kind gesehen haben. Gegen Ende des Filmes wird, wie es sich gehört, der Bösewicht von der Polizei verhaftet. Emil und seine kleinen Freunde helfen dabei. Sie schreiben über dieses happy end, daß Ihnen „das Bild der Kinderscharen, die sich um den Schuft mit Melone drängen, ihn am Fliehen hindern und damit zu beweisen scheinen, daß geballte Güte stärker sein kann als Gewalt“, dauerhaft im Gedächtnis geblieben ist. Hat diese Vorstellung – das Gute in Übermaß könne das Schlechte besiegen – Sie in Ihrer Jugend beherrscht?
Günter de Bruyn: Ja, das schon. Aber diese Filmszene wird so erzählt, daß die Enttäuschung gleich mitgeliefert wird. Der Leser soll sich nicht die gleichen Illusionen machen wie ich damals. Richtig ist, daß ich der idealistischen Vorstellung lange angehangen habe, das geballte Gute werde schon irgendwie das Schlechte besiegen. Ich habe sie mir erst spät mühevoll abtrainiert. Ich habe die Erinnerung an diesen Kinobesuch auch deshalb ziemlich zu Anfang meiner Zwischenbilanz geschildert, weil das Buch natürlich den Reifeprozeß des jungen Menschen beschreiben soll, der ich einmal gewesen bin. Dieser naive Glaube an den Sieg des Guten wird dann später durch Lebenstatsachen korrigiert. Nebenbei: Die Szene im Kino endet damit, daß ich die Angst schildere, die ich als Kind hatte, aus dem schönen Traum zu erwachen, den mir der Film vermittelte. Offenbar hat auch das Kind, das ich war, zumindest geahnt, daß die Welt nicht so schön und gerecht ist wie dieser Film.
Wittstock: Manche Kapitel Ihres Buches erzählen Sie entlang der Fotos, die Sie noch aus der entsprechenden Epoche besitzen. Sie erklären, wie stark die Erinnerung geprägt ist durch die Fotografien, die wir kennen – auch wenn sich dieser Aspekt in Ihrem Buch nie vordrängt und Sie letztlich doch mehr den persönlichen Erinnerungen vertrauen als den Fotos. Werden unsere Erinnerungen durch unsere Fotos im Nachhinein verändert?
de Bruyn: Das glaube ich schon. An einer Stelle meines Buches erzähle ich, daß ich mir heute nicht mehr sicher bin, ob ich mich an etwas tatsächlich Erlebtes erinnere oder nur an eine Fotografie. Erst nachdem ich die Fotografie nach einiger Zeit wiedergesehen habe, wurde mir klar, daß meine Erinnerung so genau mit dem Foto übereinstimmt, daß ich mich wohl nur an die Fotografie von jenem Ereignis erinnere, nicht an das Ereignis selbst. Da hat sich wohl etwas geändert, seit es die Fotografie gibt: Vor ihrer Erfindung konnte man sich seiner Erinnerungen sicherer sein. Vielleicht ist das aber auch nur für meine Generation so. Möglicherweise gibt es diese Art von Täuschung heute nicht mehr so häufig, weil das Bild inzwischen eine viel alltäglichere Rolle spielt. In meiner Kindheit war die Fotografie noch etwas Neues und etwas Besonderes: In unserer Familie spielten die Familienfotos immer eine große Rolle, sie wurden bei allen Geselligkeiten gezeigt. Wir haben sie oft angeschaut und so haben sie sich stark eingeprägt. Das ist heute, wo fast jeder ein Fernsehgerät im Zimmer hat, wahrscheinlich nicht mehr so. Wenn Bilder in Massen vorhanden sind, ist die Bedeutung des einzelnen Bildes sicher nicht mehr so groß.
Wittstock: Ihre Zwischenbilanz verliert sich nicht in den Erinnerungen, sondern ist geordnet in knappe Kapitel, denen man dramaturgischen Schliff anmerkt. Sie erzählen oft sehr komplexe Geschichten in wenigen, ganz einfachen Sätzen. Wie haben Sie das gemacht?
de Bruyn: Die Schwierigkeit war für mich in erster Linie folgende: Ich wollte mein Leben so einfach wie möglich, daß heißt chronologisch erzählen. Aber im strengen Sinne ist das gar nicht möglich, weil sich oft viele Dinge nebeneinander entwickeln, die nichts mit einander zu tun haben. Das kennt jeder: Was man an einem bestimmten Tag in der Schule erlebt hat, muß nichts zu tun haben mit dem, was am gleichen Tag in der Familie passiert ist. Wenn man also tatsächlich streng chronologisch berichten würde, brächte man für den Leser alles durcheinander. Ich habe dann eine Möglichkeit gefunden, zwar ungefähr in chronologischer Reihenfolge zu erzählen, aber das Erlebte doch zu bestimmten Themenschwerpunkten zusammenzufassen. Das hat mir die Möglichkeit gegeben, viel wegzulassen, was nicht unbedingt erzählenswert ist. Ich konnte so Schwerpunkte setzen und Spannungsbögen schlagen. Außerdem habe ich mich immer bemüht, neben meinem Leben die Zeit mitzuerzählen. Auch dadurch wird die Erinnerung gesiebt: Man achtet darauf, was wirklich bedeutsam ist, was ein Zeitbild geben kann. Damit entsteht natürlich wieder die Gefahr, daß man das Individuelle vergißt, oder daß man sogar die eigenen Erinnerungen verfälscht, damit sie zum Zeitbild passen. Da muß man aufpassen und eng an den Erinnerungen bleiben. Insofern war das immer eine Gratwanderung zwischen der rein persönlichen Erinnerung und dem Erinnern an das damalige Zeitgeschehen.
Wittstock: Wenn man Zwischenbilanz liest, hat man den Eindruck, alle Jugendlichen waren damals in der sogenannten „bündischen Jugend“ organisiert. Das kann man sich heute kaum vorstellen. Uniformen und Aufmärsche sind heute geradezu abschreckend für Jugendliche.
de Bruyn: Die damalige Begeisterung für Jugendorganisationen ist heute schwer nachvollziehbar. Aber den großen Einfluß, den die Hitlerjugend auf die junge Generation hatte, kann man sich wohl nur erklären, wenn man bedenkt, welche Bedeutung die „bündische Jugend“ schon während der Weimarer Republik erreichte. Jede politische Richtung hatte ihre meist uniformierten Jugendbünde. Der Anpassungsdruck, der heute von der Popkultur ausgeübt wird, ging damals in dieser Richtung. Nur wenige konnten sich dem entziehen.
Wittstock: Waren die kirchlichen Jugendorganisationen so etwas wie eine Zuflucht vor den politischen Problemen in dieser Zeit?
de Bruyn: Das waren sie auf jeden Fall mit dem Beginn der Nazizeit. Aber damit ist die Frage nicht beantwortet, warum die „bündische Jugend“ vorher schon so wichtig und beliebt war. Das läßt sich nur historisch erklären. Die Jugendorganisationen entstanden um die Jahrhundertwende, als Ausbruch aus der damaligen Erwachsenenwelt. Die Jungen revoltierten gegen die Alten. Dann machten sich die Parteien diese Organisationen zunutze. Nach 1933 wurden dann vor allem die kirchlichen Organisationen tatsächlich zur Zuflucht für die, die nicht zu den Nazis wollten. Das war eine ähnliche Lage, wie sie später in der DDR wieder auftrat. Da war die Kirche auch in gewisser Weise ein ideologiefreier Raum. Dorthin zog man sich zurück, wenn man von der staatlichen Ideologie nichts wissen wollte.
Wittstock: Sie schreiben, daß Sie die Außenwelt schon vor der Machtübernahme Hitlers als feindlich und angsteinflößend empfanden und die Familie als behütenden Schutzraum. Woher kam das?
de Bruyn: Damals gab es viel mehr intakte Familien im traditionellen Sinn. Die Kinder wuchsen sehr behütet auf. Meine Familie war auch so ein behütendes Nest für die Kinder. Wer so aufwächst, schaut in jungen Jahren die Umwelt leicht etwas ängstlich an. Dann kam bei mir noch hinzu, daß meine Familie in Berlin lebte, aber katholisch war. Wir lebten also in der Diaspora. Ich wuchs mit dem Gefühl auf, daß alles außerhalb der Familie anders war als wir. Die Außenwelt war das Nicht-Katholische und damit Fremde – und also mit Angst verbunden. Hinzu kam selbstverständlich auch noch die Unsicherheit der politischen Zustände am Ende der Weimarer Republik.
Wittstock: Der regelmäßige Weg zur Kirche war also einer, der von den Spiel- und Klassenkameraden wegführte?
de Bruyn: Ja, das war so. Obwohl ich das damals als ganz natürlich empfand. Ich kannte ja nichts anderes. Aber wichtig ist auf jeden Fall, daß früher die Bindung der Kinder an die Familie viel stärker war, als sie das heute üblicherweise ist. Es gab damals für Kinder, bevor sie zur Schule kamen, fast keine Berührung mit der Welt außerhalb der Familie. Es war nicht üblich, die Kinder in Kindergärten zu schicken. Man war kinderreicher als heute, die Mutter war normalerweise zu Hause, und auch die entferntere Verwandtschaft spielte eine größere Rolle. Die Familie war noch so etwas wie eine feste Burg.
Wittstock: War die Literatur für Sie eine Zuflucht vor Ihren Angstgefühlen? Würden Sie Ihre frühe Leidenschaft für die Literatur als eine Flucht vor der Wirklichkeit bezeichnen?
de Bruyn: Nein, das halte ich für einen Fehlschluß. Die Kämpfe, die bei ihm ausgefochten werden, sind welche zwischen Gut und Böse, bei denen das Gute immer siegt. Sie wecken nicht Kriegsbegeisterung, sondern Sinn für Gerechtigkeit. Ich habe Karl May in einer Zeit gelesen, in der Krieg und Militär die Ideale des deutschen Jungen zu sein hatten, und ich habe ihn immer als ein Gegner dieser Ideale empfunden. Seine Bücher vermitteln ein bestimmtes Gefühl von Freiheit, weil es immer Einzelne sind, die alle entscheidenden Dinge tun. Natürlich sind diese großen Einzelnen, Winnetou oder Old Shatterhand, auch Kämpfer, Krieger, aber das ist nicht das Entscheidende dabei. Es ist ein ausgeprägter Individualismus, der sich in den Karl May-Gestalten zeigt. Ich hab das damals, als ich Karl May las, als direkten Gegensatz zu der Gleichmacherei der Nationalsozialisten empfunden. Karl Mays Helden sind immer Einzelgänger, niemals Teil einer uniformen militärischen Masse, wie sie die Nazis verherrlicht haben.
Wittstock: Ihre Erinnerungen an die Kriegsjahre gehören zu den erschütterndsten Abschnitten Ihrer Zwischenbilanz. Sie lassen Ihr Erschrecken über Ihre Mitmenschen, vor allem über die männlichen Mitmenschen, die Soldaten erkennen. Was hat Sie damals am stärksten berührt?
de Bruyn: Ahnungslos wie ich war, entsetzten mich die seelischen Abgründe, die sich in besonderen Situationen plötzlich offenbarten. Ich sah, daß Leute, die gewöhnlich ein ganz normales Leben führen, sich als Soldaten sehr verändern können und einen Zug zur Grausamkeit entwickeln, der besonders dann aufbricht, wenn sie in Gruppen auftreten, in Männerbünden, wie zum Beispiel beim Militär. Normale vernünftige Leute werden hemmungslos brutal. Das habe ich als Kind erlebt und später als Soldat. Im Lazarett erlebte ich Männer, die sich zunächst als hilfsbereite Menschen zeigten, die mir von Frau und Kindern erzählten, und die dann plötzlich Erschießungen als besondere Höhepunkte ihres Lebens bezeichneten. Das war besonders erschreckend deshalb, weil ich das Gefühl hatte, diese Ausbrüche waren nicht an ideologische Schulung gebunden. Es ging hier vielmehr um seelische Abgründe, die immer wieder hervorgerufen und von politischen Kräften jederzeit ausgenutzt werden können.
Wittstock: Andererseits erzählen sie in Ihrem Buch, daß Sie in Ihrer Jugend dazu neigten, Frauen zu idealisieren. Ist das als Kehrseite Ihres Erschreckens vor den Abgründen der Männerseele zu verstehen?
de Bruyn: Das ist einmal die Kehrseite – aber nicht nur das. Diese Neigung, Frauen zu idealisieren, hat auch damit zu tun, daß ich in meiner Jugend keine Gelegenheit hatte, sie kennenzulernen. Wir sind damals fern von den Mädchen aufgewachsen. Meine Oberschule war und hieß Oberschule für Jungen. Dann sind wir früh kaserniert worden und bekamen Frauen überhaupt nicht zu Gesicht. Kein Wunder also, daß man dazu neigte, sie mit einem Heiligenschein zu versehen.
Wittstock: Die Schrecken des Krieges, die Sie als Soldat erlebten, werden in Ihrem Buch zurückhaltend geschildert. Es gibt einige Passagen, die genau und deutlich zeigen, was passiert ist. Aber Sie haben diese Szenen nie melodramatisch oder reißerisch ausgebaut. Welche Ereignisse oder Erlebnisse haben Sie ausgewählt für Ihr Buch, und nach welchen Kriterien?
de Bruyn: Jede Antwort auf diese Frage muß sich so anhören, als sei das alles bewußt gemacht. Das ist aber natürlich nicht so. Es ist in einem Kapitel des Buches davon die Rede, daß ich zu einer Zeit, in der es mir besonders schlecht ging – nach meiner Verwundung – ein großes Zutrauen ins Wort hatte, und daß ich mir vorstellte, man könne den Krieg genau so schildern, wie man ihn erlebte. Diese Hoffnung habe ich längst aufgegeben. Ich bin in dieser Hinsicht bescheidener geworden. Ich weiß, selbst wenn ich das Ganze ausführlich beschreiben würde, könnte ich trotzdem niemals so ganz den Leser erreichen. Ich bin also sparsam umgegangen mit schockierenden Szenen. Vielleicht ist das sogar wirkungsvoller. Ich übergehe also manche Erlebnisse, weil ich das Gefühl habe, sie nicht adäquat wiedergeben zu können. Aber bis ins Letzte kalkuliert, ist das alles nicht.
Wittstock: In der Erinnerung arbeiten ja unbewußte Auswahlmechanismen. Bestimmte Erinnerungen werden intensiv gespeichert, andere werden weggedrängt. Sind sie bei der Arbeit an Ihrem Buch Ihrem Gedächtnis genauer auf die Spur gekommen?
de Bruyn: Problematisch ist das Verhältnis von Erinnerung und Wirklichkeit immer. Es gibt verdrängte Erinnerungen, die beim Schreiben wieder freigelegt werden, manchmal hatte ich aber auch den Eindruck, daß die Erinnerungsarbeit die Verdrängung noch vollständiger macht. Wonach man krampfhaft sucht, das entzieht sich erst recht. Auch gibt es Erinnerungen, die nebelhaft bleiben, und andere, die sich durch Dokumente aus der Vergangenheit als falsch erweisen. Die Zweifel an den Erinnerungen habe ich auch in meinem Buch anklingen lassen. Erinnerung ist nie ganz korrekt.
Wittstock: Die ersten Wochen nach Kriegsende, die Sie auf abenteuerlichen Rückwegen zu Ihrer Familie verbrachten, beschreiben sie als Tage der Anarchie und des freien Lebens. In dieser ersten Nachkriegszeit bekannten sich viele Menschen in Deutschland zu sozialistischen Ideen. Die bildeten dann einen Teil der Anhängerschaft der sich allmählich bildenden DDR. Sie begeisterten sich dagegen eher für die Idee, künftig ganz ohne Staat auszukommen und für einen betonten Individualismus. Warum das?
de Bruyn: Es ist falsch, wenn Sie von Ideen sprechen, zu dieser Zeit war das für mich eher eine Gefühlssache. Ich hatte nach dem Krieg Gelegenheit, in sozialistische Kreise hineinzukommen und war von der Form der wiederum einsetzenden Organisiertheit abgestoßen. Ich hatte in Zwangsorganisationen gelitten und wollte aus jedem uniformierten Denken heraus. Politisch war das nur in Ansätzen. Vorherrschend war eine Skepsis, die mich vor Vereinnahmung auf der Hut sein ließ.

Das Gespräch wurde 1991 in Berlin geführt

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