Vom Leben nach dem Verrat

Kleiner Ausflug zum Prenzlauer Berg, zu Sascha Anderson und Rainer Schedlinski

Die Verräter und die Verratenen lebten im gleichen Stadtteil. Einem ramponierten Viertel, das bis heute dem Aufschwung Ost zum Trotz vom vierzigjährigen Niedergang der DDR zeugt. Sie wohnten nicht gerade Wand an Wand oder Haus an Haus, aber selten lagen mehr als drei oder vier Straßen zwischen den jeweiligen Adressen. Man konnte und kann mitunter heute noch, wenn man sich vom einen verabschiedet, zu Fuß in wenigen Minuten bequem vor der Tür des anderen stehen. In einer Riesenstadt wie Berlin ist es nicht leicht, sich näher zu sein. Sie kennen sich seit fünfundzwanzig oder dreißig Jahren, manche auch länger. Schon in der DDR waren sie Nachbarn. Die meisten haben nach dem Fall der Mauer, als ihnen die Welt offenstand, nichts daran geändert. Sie sind vielleicht in andere Wohnungen gezogen, nicht aber in andere, attraktivere Stadtteile. Von anderen Städten ganz zu schweigen. Und von den wenigen, die in der DDR einen Ausreiseantrag stellten und in den Westen gingen, sind viele nach der Wende zurückgekommen. Einer dieser Rückkehrer, der vom alten Quartier nicht lassen mochte, war Sascha Anderson, der Verräter des Prenzlauer Bergs. Er hat die Legenden mitbegründet, die sich um dieses besondere kulturelle Biotop Berlins ranken, um die spätrealsozialistische Boheme, die hier seit Anfang der achtziger Jahre versuchte, aus der tristen Gegenwart der DDR in eine Gegenwelt aus Bildern und Büchern zu fliehen. Anderson hat diese Legenden mitbegründet, und er hat sie zerstört. Als Wolf Biermann im Herbst 1991 verkündete und Jürgen Fuchs beweisen konnte, dass „Sascha Arschloch“ ein Zuträger des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gewesen war, dass er zu Mielkes willigen Helfern gehörte und über Jahre hinweg seine Freunde ans Regime verraten hatte, fiel ein Schatten über die kunstverliebte Avantgarde des Prenzlauer Bergs, aus dem sie auch im literaturhistorischen Rückblick nicht wieder ganz heraustritt. Seither ist eine Menge Wasser die Spree hinabgeflossen. Sascha Anderson und Rainer Schedlinski – der zweite Schriftsteller des Prenzlauer Bergs, der als Informant des MfS enttarnt wurde – sind nicht die einzigen geblieben, die man öffentlich anklagte, als Spitzel gedient zu haben. Ungezählte Autoren, Künstler, Sportler, Journalisten und Politiker wurden inzwischen beschuldigt, allzu eng mit der Staatssicherheit kooperiert zu haben – bis hin zu politischen Amts- und Würdenträgern wie Manfred Stolpe und Gregor Gysi. Üblicherweise wird dann – mit spürbarer Rücksicht auf die Sanktionen, die das Presserecht für nicht rundum gerichtsfeste Behauptungen bereit hält – nur vage von „Stasi-Verstrickungen“ gesprochen und davon, dass wir heute nicht alles für bare Münze nehmen dürfen, was in den Akten eines DDR-Ministeriums zu lesen ist, das auf Täuschung und Betrug spezialisierte war. Im Fall Anderson ist solche presserechtliche Zurückhaltung entbehrlich. Zwar stritt er, als der Skandal begann, alles ab. Doch die Beweise, die nach ein paar Wochen vorlagen, waren erdrückend, und so musste er ein peinliches Geständnis nach dem anderen ablegen. Schließlich gab er, als sich schon fast niemand mehr dafür interessierte, das meiste zu: Dass er bei seinen Führungsoffizieren über jeden und alles offenherzig geplaudert, dass er selbst über die engsten Vertrauten Berichte geschrieben, dass er nicht nur die Absichten befreundeter Künstler, sondern auch die politischer Oppositioneller preisgegeben hatte, und dass er sogar noch nach seiner Übersiedlung in den Westteil Berlins Informationen in den Osten der Stadt lieferte. An Andersons Schuld gibt es keinen Zweifel mehr. Äußerlich hat die öffentliche Bloßstellung keine Spuren hinterlassen. Anderson wirkt lediglich etwas zurückhaltender, bedächtiger als 1983, als ich ihn zum ersten Mal in einer Ostberliner Keramikwerkstatt und Hinterhausgalerie traf, um mehr über ihn und seine Arbeit als Lyriker zu erfahren. Damals sprach er kaum über eigene Gedichte. Für sie schien er, bei aller Beredsamkeit, keine Worte zu finden. Dafür riss ihn der Eifer hin, sobald er von den anderen Schriftstellern, Malern, Musikern, Bildhauern des Prenzlauer Bergs erzählte. Er pries ihr Können, schwärmte vom frischen Wind, den sie ins Kulturleben der DDR brächten, und dann diktierte er seinem Besucher aus dem Westen die Namen der Newcomer einen nach dem anderen in den Notizblock: Bert Papenfuß, Stefan Döring, Cornelia Schleime, Ralf Kerbach, Detlef Opitz, Uwe Kolbe. Kurz, er trat auf wie ein leicht überdrehter Impresario, der einer neuen Künstlergeneration den Weg zum Ruhm ebnen will – und der geschickt für dramatische Effekte sorgte, wenn er anklingen ließ, wie sehr die Stasi ihnen mit regelmäßigen Verhören und gelegentlichen Verhaftungen zusetze. Acht Jahre später war dann zu erfahren, was er zur gleichen Zeit den Offizieren der Stasi so alles in die Notizblöcke diktierte: noch mehr Namen, noch mehr Informationen und darunter auch Hinweise, die den Betroffenen den Weg ins Gefängnis ebnen konnten. Es beschlichen einen, auch wenn man sein Leben im sicheren Westen Deutschlands zugebracht hatte, alles andere als freundschaftliche Gefühle. Dennoch nimmt das Gespräch über Verrat mit dem Verräter rasch einen unaufgeregten, abgeklärten Ton an. Anderson steuert von sich aus auf das Thema zu, nennt sich selbst einen Spitzel und versucht nicht, das Vergangene herunterzuspielen. Er will, soviel wird schnell klar, möglichst sachlich und emotionslos über die eigene Schande sprechen. Doch wie schwer das ist, lässt sich an seiner rechte Hand ablesen, die während des ganzen Gesprächs, zwei Stunden lang, am linken Knie reibt und reibt und reibt und keine Ruhe gibt. Wer nach den Gründen für sein Verhalten forscht, dem liefert er nach und nach eine ganze Sammlung davon: Er sei bei den Großeltern aufgewachsen, Vater und Mutter hatten wenig Zeit für ihn, und so wurde das MfS, das sich Zeit nahm, zu einer Art Ersatzfamilie. Oder: Der Verrat habe sich für ihn, der als Siebzehnjähriger erstmals mit der Stasi in Berührung kam, zu ein Gewohnheit entwickelt, sei zu einer zweiten Haut geworden, die er aus eigener Kraft nicht mehr abstreifen konnte. Oder: Da er seine Informanten-Karriere schon als halbes Kind begann, habe er es später nicht mehr gewagt, seinen Vertrauten den bereits Jahre währenden Vertrauensbruch einzugestehen. Oder: Die Berichte, die er so zuverlässig bei der Gegenseite ablieferte, hätten ihm und den anderen vom Prenzlauer Berg überhaupt erst den Freiraum verschafft, den sie für ihre Arbeit brauchten. Allerdings hat er seine Freunde nie gefragt, ob sie bereit waren, für diesen Freiraum von Gnaden der Stasi einen solchen Preis zu zahlen. Aber im „Siemeck“, einer der Kneipen, in der sich die in die Jahre gekommenen Kombattanten von einst im inzwischen wiedervereinigten Berlin treffen, spielt das alles inzwischen keine Rolle mehr. Vieles erinnert hier an die Samisdat-Ausstellungen oder privat organisierten Lesungen der achtziger Jahre: die gleiche Musik wie damals, ähnliche Bilder an den Wänden, derselbe Ton der Gespräche. Die Szene lebt ungebrochen fort. Anderson, Bert Papenfuß, Detlef Opitz zählen hier zu den lokalen Berühmtheiten und dürfen sicher sein, dass fast jeder im Raum sie kennt und sie beobachtet. Auch eine Boheme kennt ihre lokalen Helden und Veteranen, die sich in ihrem mitunter zweifelhaften Ruhm sonnen möchten. Papenfuß ist einer der klügsten und begabtesten der Prenzlauer Poeten. Im „Siemeck“ tritt er auf wie der Chef einer Streetgang, der, ganz in schweres schwarzes Leder gehüllt, seinen Mitmenschen lange Blicke, aber nur wenig Worte gönnt. Auch wenn er zu den langjährigen Opfern Andersons gehört, betrachtet er ihn weiterhin als Freund. Allerdings als einen Freund „mit schillernder Persönlichkeit“, der nie ein enges Verhältnis zur Wahrheit hatte, „und das wussten alle, auch schon in der DDR“. In seinen Augen ist Andersons Neigung, sich „in Scheinwelten hineinzureden“, ein betrüblicher Charakterfehler, eine „Marotte“, die ihm seine Freunde auszutreiben versuchen. Doch – und dann nimmt Papenfuß den Tonfall eines Patriarchen an, der den ungeratenen Sohn in Schutz nimmt – doch der ungeheuere öffentliche Druck auf Anderson habe diesen Freunden ihre Arbeit nicht leichter gemacht. Verrat als Familienangelegenheit. So verständnisvoll sind nicht alle der alten Opfer. Uwe Kolbe oder Jan Faktor zum Beispiel bleiben bis heute auf Distanz zu Anderson. Ebenso Adolf Endler, der, als die ersten Anschuldigungen laut wurden, zunächst noch eine Ehrenerklärung für den Beschuldigten publizierte. Oder Elke Erb, die 1985 mit Anderson gemeinsam im Westen eine Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung mit neuer Literatur aus der DDR herausgab. Sie ist Lyrikerin, eine schmale, feinsinnige Frau, die allein in einer kalten Erdgeschoßwohnung lebt. Ihr erstes Buch nach der Wende erschien in dem von Anderson gegründeten Druckhaus Galrev. Nach seiner Entlarvung hat sie den Verlag verlassen und fast alle Kontakte zu dem Dichter, den sie einen „Denunzianten“ nennt, gemieden. Es gibt, sagt sie, „keine Räume mehr“, in denen sie und er „gemeinsam gehen könnten“. Allerdings weiß sie noch nicht, ob sie sich diese Distanz weiterhin wird leisten können. Ihre Lyrik ist nicht eben leicht verständlich, nur wenige Verlage interessieren sich für ihre schwerverkäuflichen Texte. Die Münchner Edition Christian Pixis bot ihr an, so erzählt sie, ein neues Buch mit ihr zu machen. Doch der Typograph dieser Edition, dessen Name dann im auch Impressum ihres Bandes genannt werden würde, ist kein anderer als der umtriebige „S.Anderson“. Trotz allem, fügt Elke Erb hinzu, respektiert sie nach wie vor Andersons Gedichte. Sie hält sein „Verfahren, mit Sprache zu arbeiten“ für eigenständig und konsequent, sogar zu einem Wort wie „Reinheit“ greift sie, wenn es um seine Lyrik geht. Sie hat vor unserem Gespräch seit langem mal wieder einen von Andersons Bänden aus dem Regal geholt, um diesem Autor lesend auf die Spur zu kommen. „Der inständig Versuch, sich zu entziehen, sich nicht festzulegen“, spricht für sie aus seiner Arbeit, „sich zu zeigen, ohne sich sehen zu lassen“. Der Versuch, Schriftsteller zu sein und Informant? Bespitzelter und Spitzel? Alles ein wenig, aber nichts ganz und gar? Dem gesamtdeutschen Literaturbetrieb fällt es schwer, den Schnitt nachzuvollziehen, mit dem Elke Erb den Dichter Anderson vom Denunzianten gleichen Namens trennt. Vor seiner Enttarnung galt er als bemerkenswerter Autor. Seine Bücher wurden eingehend rezensiert, man lud ihn ein zu Autorentreffen, bedachte ihn mit dem Stipendium der Villa Massimo. Nach seiner Enttarnung verfiel er weitgehend dem öffentlichen Schweigen. Zwei Lyrikbände von ihm sind in den neunziger Jahren erschienen, ihre publizistische Resonanz war minimal. Seine Autobiographie Sascha Anderson wurde dann naturgemäß vor allem mit Blick auf Eingeständnisse seine Stasi-Tätigkeit gelesen, zwei weitere Bände mit Prosa und Gedichten, die 2006 erschienen, ebenso. Das Bestürzende an Andersons Autobiografie ist, wie wenig menschliche Verbindlichkeit sie erkennen lässt. Auf den dreihundert Seiten des Buches taucht eine stattliche Zahl von Geliebten, Ehepartnerinnen und Kindern auf. Doch keiner Frau, keinem Kind sind mehr als ein paar Zeilen oder Nebensätze gewidmet. Auch die Freunde, mit denen er jahrzehntelang zusammenarbeitete, geistern allenfalls als Schemen durch seine Erinnerungen. Stattdessen: Weitschweifige Berichte über Andersons Engagement für die Dresdner und die Prenzlauer Künstlerszene. Dazu: lange Aufzählungen der Bücher, die er ermöglicht hat, der Ausstellungen, die er organisierte, der Rockkonzerte, bei denen er mitsang, der Keramikarbeiten, an denen er mittöpferte. Glaubt man seinem Buch, galt die ganze Konzentration Andersons zeitlebens fast ausschließlich sich selbst und seiner Karriere. Damit könnte man sich als Leser einer Autobiografie zufrieden geben, wenn Anderson tatsächlich die entscheidenden Punkte seiner Vergangenheit offen legte. Doch die Auskünfte, die er dazu gibt, bleiben nebulös. Er streitet nichts ab, aber er macht auch nie präzise Angaben über Umfang und Inhalt seiner Zuträgerei. Andererseits mangelt es nicht an Exkulpationsversuchen. Immer wieder lässt er, wie schon im persönlichen Gespräch, anklingen, dass die Verantwortung für sein Handeln nicht er selbst, sondern – wahlweise – sein nicht eben wohlgeordnetes Elternhaus, die brutalen Methoden der DDR-Polizei oder die perfiden Strategien der Stasi trugen. Daneben gibt es noch einen Haufen von Verharmlosungsversuchen: Seine Stasi-Berichte hätten dazu beigetragen, Freunde vor der Stasi zu schützen, oder die Stasi zu verwirren, oder gar die Stasi über ihre widersinnige Tätigkeit aufzuklären. Man muss Anderson zugute halten, dass er aus seiner „Unfähigkeit, zu erzählen“ kein Geheimnis macht, sondern sie offen benennt. Vielleicht würde er sein Leben gern genauer und seinen Opfern gegenüber fairer darstellen, hat es aber einfach nicht besser hinbekommen. Vielleicht. Aber wäre es dann nicht klüger gewesen, seine Erinnerungen unpubliziert zu lassen? Denn das, was er mit oft Mitleid erregender Unbeholfenheit festgehalten hat, ist gegen Ende hin schlicht skandalös. Anderson, der nicht nur in der DDR, sondern auch von West-Berlin aus für die Stasi arbeitete, musste sich nach der Wiedervereinigung wegen geheimdienstlicher Tätigkeit verantworten und wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Doch konnte er die Buße nur schwer akzeptieren: „Als es mir gut ging, wären dreißigtausend Mark keine Strafe gewesen, jetzt überstiegen die dreitausend Mark, die ich für die Einstellung des Verfahrens zahlen sollte, selbst meine Schuldgefühle.“ Will Anderson also nur eine Strafe anerkennen, die für ihn keine Strafe ist, weil es ihm gerade gut geht? Wie viel, fragt man sich unwillkürlich, ist in seinen Augen ein zwanzig Jahre währender Verrat an guten Freunden wert? Ähnliche Erfahrungen wie Anderson machte Rainer Schedlinski. Auch er berichtet vom abrupten Ende des öffentlichen Interesses an seinen literarischen Arbeiten. 1991 wurde er, so erzählt er, zu hundertfünfzig Veranstaltungen eingeladen, hundert davon nahm er wahr. Nachdem seine Stasi-Tätigkeit im Januar 1992 im Fernsehen aufgedeckt wurde, habe ihn, sagt er, nie wieder irgendjemand um eine Lesung gebeten: „Es war wie abgeschnitten.“ Offenbar galt, schließt er mit merklicher Bitterkeit, das Interesse des Publikums in den Jahren zuvor nicht seinen Gedichten, sondern einem romantischen Traumbild vom politisch verfolgten, armen Poeten aus dem rauen Osten. Er hat aus all dem radikalere Konsequenzen gezogen als Anderson und seine Arbeit als Schriftsteller beendet. Er wurde einer der Geschäftsführer des Druckhaus Galrev, zuständig vor allem für die Buchhaltung. Wenn er an literarischen Veranstaltungen teilnimmt, betrachtet er sich dort eher als Verleger, nicht mehr als Autor. Und dann beginnt auch er, wie Anderson, von allein über seine Vergangenheit als Spitzel zu reden. Seiner Stimme fehlt mit einem Mal das Volumen, die Hände wandern beim Sprechen ziellos über den Schreibtisch, und die Luft wird ihm gegen Ende der Sätze knapp. Es ist, als würde ein anderer Darsteller dieselbe Rolle mit anderen Gesten spielen: Auch er weiß, wie Anderson, auf die Frage nach den Motiven für seinen Handeln viel zu sagen und kann schließlich doch nur mit den Schultern zucken. Letztlich stehen beide vor ihrer eigenen Vergangenheit wie vor einem Rätsel. Sogar seinen ehemaligen Führungsoffizier, Oberst Reuter, hat Anderson nach seiner Enttarnung befragt, weshalb er, nach Einschätzung der Stasi mit der Stasi zusammenarbeitete. Doch Reuter konnte ihm nicht weiterhelfen, im Gegenteil, er und seine Kollegen beim MfS seien sich darüber klar gewesen, dass sich Anderson, hätte der die Stasi-Kontakte seinen Freunden gegenüber eingestanden, jederzeit aus ihrem Zugriff hätte befreien konnte, ohne einschneidende Folgen befürchten zu müssen. Aber Anderson und Schedlinski fehlte offenbar, was so viele andere Bürger der DDR hatten, die Annäherungsversuche der Stasi zurückwiesen: Mut, Verantwortungsgefühl, der Willen zur Wahrhaftigkeit. Gerade Tugenden wie diese gehören aber zu jenem glanzvollen Klischee, das hierzulande gern vom aufrechten, kritischen Schriftsteller gepflegt wird. So waren Enttäuschung und Wut besonders groß, als das Doppelspiel der beiden ruchbar wurde. Dabei gibt es etliche historische Parallelfälle. Die Verbindung zwischen Schriftstellerei und Verrat, ja Hochverrat ist nicht so selten, wie es in den Stasi-Debatten gelegentlich den Anschein hat. Während der vierziger Jahren, um nur sie als Beispiel zu nehmen, warf die KP Frankreichs ihrem Ex-Mitglied Paul Nizan – einem Erzähler und Jugendfreund Sartres – vor, Parteigeheimnisse gegen Geld an das Innenministerium geliefert zu haben. Pierre Drieu La Rochelle, französischer Romancier und Snob, kollaborierte mit den Nazis. Der norwegisch Epiker Knut Hansum schenkte Goebbels eine Medaille, die er bei der Verleihung des Literaturnobelpreises erhalten hatte und besuchte den bewunderten Hitler auf dem Obersalzberg. Und Ezra Pound, der amerikanische Poet und Homme de lettres, hielt noch in den letzten Kriegsmonaten im italienischen Radio antisemitische Hetzreden gegen die anrückenden amerikanischen Truppen. Es sind Parallelfälle, und doch gibt es bemerkenswerte Differenzen. Denn diese Schriftsteller waren Gesinnungstäter. Sie verrieten ihr Land oder ihre Weggefährten aus Überzeugung. Nizan war nach dem Hitler-Stalin-Pakt zum Gegner der KPF geworden. Drieu La Rochelle glaubte durch Kollaboration seiner Rolle als Intellektueller gerecht zu werden und brachte sich nach der Niederlage der Deutschen um. Hamsun veröffentlichte noch im Mai 1945 einen rühmenden Nachruf auf Hitler. Pound blieb seinen Ansichten treu, obwohl man ihn dafür zwischen 1945 und 1958 in Lager und Heilanstalten einsperrte. Nichts davon bei Anderson und Schedlinski. Keiner von ihnen behauptet, sich mit der Stasi eingelassen zu haben, weil er an den realen Sozialismus oder an die glorreichen Worte des großen Vorsitzenden Honecker glaubte. Mit merkwürdigem Stolz weist Anderson sogar auf Bemerkungen in seinen Spitzelberichten hin, die man als Kritik an der engstirnigen Kulturpolitik der SED verstehen kann. Fast so als wäre, was er getan hat, nicht so schlimm, weil er es ohne innere Überzeugung tat. In ihrem Buch Der Verrat im XX. Jahrhundert nennt Margret Boveri den Verrat ein bedauerliches, aber typisches Kennzeichen der Epoche. Denn, so schreibt sie, die Unzahl der Bindungen und Institutionen, die vom Einzelnen Treue und Standhaftigkeit verlangten, fügen sich heute nicht mehr zu einem schlüssigen Wertesystem zusammen. Kein Wunder, wenn sich immer mehr Menschen irgendwann in den oft gegensätzlichen Loyalitätsforderungen verhedderten und sich dann als Verräter auf der Anklagebank wiederfänden. Aber diese Entschuldigung können Anderson und Schedlinski nicht vorbringen. Sie haben nicht aus Überzeugung verraten, sondern ihre Überzeugungslosigkeit reichte offenbar so weit, dass selbst intimste Bindungen für sie massiv im Wert sanken. Kann man, parallel zur fahrlässigen Körperverletzung, von fahrlässigem Verrat sprechen? War es gerade die Leichtfertigkeit ihres Handelns, die dann den öffentlichen Abscheu über sie derart ins Riesenhafte wachsen ließ? So viele Fragezeichen, Vermutungen, Spekulationen, Hypothesen. Am Prenzlauer Berg stachelt ein Gespräch über Verrat nach wie vor die Phantasie an. Sicher ist, dass gerade Andersons Name noch immer klingt wie ein Synonym für Verrat, obwohl sich seither so viele andere wegen ähnlicher oder noch umfangreicherer Stasi-Sündenkataloge zu rechtfertigen hatten. Leute, die heute wieder munter Reden schwingen, Politik betreiben, öffentliche Ämter innehaben. Von Anderson nimmt im Literaturbetrieb jenseits seines alten Freundeskreises kaum einer mehr ein Stück Brot. Zweifellos aus guten Gründen. Bemerkenswert aber, dass es gerade ein Schriftsteller ist, an dem in diesem Fall das Exempel statuiert wird. Fast so, als würde heute von Dichtern eine Unschuld erwarten, die von Politikern längst niemand mehr einzufordern wagt. Obwohl es doch einst gerade die Künstler und Autoren waren, denen die Freiheit der Narren eingeräumt wurde.

Der Artikel erschien in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 4. Juli 1998</em>

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