Die Rache des Autohändlers

Der Roman „Willenbrock“ von Christoph Hein

Willenbrocks Geschäfte gehen glänzend. Doch er fühlt sich elend. Er schläft mit einer Menge Mädchen. Doch das schlechte Gewissen seiner Frau gegenüber lässt ihn nie los. Er ist zutiefst liberal und friedfertig. Doch mit den Gewalt- und Rachefantasien in seinem Kopf wird er nicht fertig. Er will ein guter, fleißiger, braver Bürger sein. Doch er stellt fest, dass sich der Staat nicht sehr bemüht um gute, fleißige, brave Bürger. Kurz, wir müssen uns Willenbrock als einen unglücklichen Menschen vorstellen. Willenbrock ist in der DDR aufgewachsen und hat in einem volkseigenen Betrieb als Ingenieur gearbeitet. Nach der Wende aber schüttelte er diese Vergangenheit gründlich und ohne großes Bedauern ab. Nostalgie ist ihm fremd. Im Gegenteil: „Man sollte sich dieses Vergnügen regelmäßig gönnen“, denkt er, „man sollte alle paar Jahre die Zelte abbrechen, alles hinter sich lassen, um neu anzufangen.“ Willenbrock ist Autohändler und erfolgreich. Irgendwo in Berlin auf einem umzäunten Grundstück stehen ein paar Dutzend Wagen, er kauft und verkauft und verdient viel Geld dabei. Alles scheint bestens: Er hat eine Frau, die nichts ahnt von seinen Seitensprüngen, einen Mechaniker, der ihm alle Dreckarbeit abnimmt, ein brandneues Haus am Stadtrand und ein schönes altes Gutshaus auf dem Land. Und doch: Etwas bohrt, etwas beißt, etwas brennt in ihm. Willenbrock weiß selbst nicht genau, was ihn stört, was ihn ruhelos macht. Sicher, er hat auch ein paar Sorgen. Aber Sorgen haben alle, und er gehört nicht zu den Menschen, die sich selbst bemitleiden. Es ist irgendetwas anderes, das an ihm frisst, irgendein tieferes Unbehagen in der frisch wiedervereinigten bundesdeutschen Kultur, das Willenbrock selbst nicht richtig begreift. Christoph Hein dagegen, sein Schöpfer, ist sich offenbar ziemlich klar darüber, worin dieses Unbehagen besteht – was die Stärke und zugleich die Schwäche des Romans „Willlenbrock“ ausmacht. Es ist ein ambitioniertes Buch, das viele der Erfahrungen, die das Leben in beiden Teilen unseres Landes während der neunziger Jahre prägten, auf einen Nenner zu bringen versucht. Ein Buch, das konsequent auf die gesellschaftliche Situation hier zu Lande und heut zu Tage zielt – und dem deshalb eine ungewöhnliche Resonanz beim Publikum beschieden sein könnte. Ein Buch aber auch, dessen Mängel mitunter mit Händen zu greifen sind. Ein Buch, dessen Verdienste sicher nicht in seinen künstlerischen oder sprachartistischen Qualitäten liegen, sondern zu aller erst in seinem zeitdiagnostischen Scharfblick und seiner dokumentarischen Kraft. In dieser Hinsicht erinnert es gelegentlich an Romane von Wolfdietrich Schnurre, Heinrich Böll, Erich Loest oder – jüngstes Beispiel eines solchen Autortyps – an die beiden Bücher von Michel Houellebecq. Willenbrocks Problem liegt in ihm selbst. Er ist ein guter Geschäftsmann, er handelt zweckmäßig ohne allzugroße Emotionen, ist nüchtern und illusionslos bis fast zum Zynismus. Er hat einen genauen Blick dafür, bei welchen Autokäuferinnen er eine Chance hat, und nur die versucht er zu verführen. Von Liebe, oder auch Verliebtheit, keine Spur. Er weiß genau, wie unangreifbar und schwerfällig der Justizapparat einer modernen Industrienation ist. Also wird er, als ihm ein eklatantes Unrecht geschieht, nicht zum Michael Kohlhaas, der bis in den Untergang für sein Recht kämpft, sondern er gibt still klein bei und fügt sich. Willenbrock will gut leben – und kein verbohrter Idealist sein. Doch die Sache hat einen Haken: Insgeheim, tief im Inneren kann er gewisse idealistische Neigungen doch nicht ganz verleugnen. Er wäre gern ein Zyniker, aber er ist es nicht. Wenn er mit den anderen Mädchen schläft, kann er die Liebe zu seiner Frau nie ganz und gar vergessen. Wenn er spürt, wie leichthin die Justiz über sein Schicksal hinweggeht, möchte er sich schulterzuckend abwenden – aber dann wächst in ihm doch die Wut und der Grimm, und er wünscht sich doch so etwas Naives wie Gerechtigkeit auf Erden. Willenbrock ist also, nimmt man alles nur in allem, ein Durchschnittsdeutscher der neunziger Jahre. Ein soziologischer Normalfall, einer, der sich mit den Verhältnissen nach der Wiedervereinigung arrangiert hat und ohne große Hochs und Tiefs zurechtkommt. Und genau das macht den Mut und das Können Christoph Heins in diesem Roman aus: Denn in der Literatur ist kaum etwas schwerer einzufangen als der Normalfall, als das Durchschnittsschicksal, dem alles Dramatische oder Sensationelle fehlt. Doch so ganz ohne Dramatik kommt Hein in seinem Roman nicht aus. Er lässt die Gewalt in Willenbrocks solide, scheinbar so gesicherte Existenz einbrechen. Zunächst sind es nur ein paar Wagen, die von seinem Autohof gestohlen werden. Willenbrock betrachtet den Einbruch lediglich als „ärgerliche Beeinträchtigung“. Doch als er schließlich feststellt, dass die Polizei ernste Nachforschungen gar nicht in Betracht zieht und den Fall nur pro forma aufnimmt, um ihn möglichst bald zu den Akten zu legen, ist er verärgert: „Er hatte das Gefühl, von den Beamten belästigt worden zu sein.“ Bei einem zweiten Überfall auf seinen Autohandel, einige Wochen später, kommt der inzwischen zur Sicherheit engagierte Nachtwächter zu Schaden: Er wird von den jugendlichen Gangstern gefesselt, sein Hund erschlagen. Diesmal nehmen die Polizisten die Angelegenheit zwar ernster, doch Fahndungserfolge können sie wieder nicht versprechen. Schließlich wird Willenbrock selbst überfallen. Nachts in seinem Landhaus hört er, mit seiner Frau im Ehebett, Geräusche aus dem Nebenzimmer. Er reagiert klug und beherrscht, versucht die Einbrecher zu erschrecken und zu verjagen. Es kommt zu einem wüsten Handgemenge, Willenbrock wird leicht verletzt, doch er kann die Eindringlinge in die Flucht schlagen. Es sind nicht die Schmerzen seiner Verletzung, die Willenbrock daraufhin zusetzen, es ist das Gefühl, all diesen Gefahren schutzlos ausgeliefert zu sein. Zwar treibt die Polizei jetzt einen spürbar höheren Aufwand bei ihren Nachforschungen, ja sie kann die mutmaßlichen Täter sogar stellen, doch da es sich um Ausländer handelt, werden sie nicht bestraft, sondern kurzerhand in ihre Heimat abgeschoben. Christoph Heins genaue Beobachtungen der psychischen Nöte des Opfers einer Gewalttat zählen sicher zu den literarisch intensivsten Passagen seines Romans: Willenbrock ist wütend, er schreibt beschwörende Briefe an die Justizbehörden und erwägt, den verantwortlichen Staatsanwalt zu verklagen. Er zweifelt an sich, wird von Angstzuständen geplagt, ergeht sich in detailliert ausgemalten Rachefantasien – die er dann wieder abstoßend findet. Auch mit seiner Frau gerät er aneinander. Sie möchte das Landhaus lieber verkaufen, als je wieder darin zu übernachten. Er dagegen will um seinen Besitz kämpfen, will das Haus mit Alarmanlagen und ähnlichem elektronischen Schnickschnack sichern – und weiß doch, das Sicherheit auf diesem Weg nicht zu erlangen ist. Nie, auch nicht in der DDR, hat sich Willenbrock so hilflos, so ohnmächtig gefühlt. Kein Wunder, wenn er dem Angebot eines russischen Kunden, ihm eine Pistole zu besorgen, bald nur noch wenig und schließlich keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen hat. Kein Wunder auch, dass die Waffe immer mehr zur psychischen Zuflucht, zum Fetisch wird, mit der Willenbrock seine alte Sicherheit zurückzugewinnen hofft. Vergeblich, wie sich am Ende zeigt. Hein demonstriert an seinem Helden so die psychischen Kosten des Lebens in einer modernen, liberalen Gesellschaft. Er zeigt mit literarischen Mitteln vor, was sonst nur als „soziale Dissoziation“, „Verbürokratisierung“ „Entsolidarisierung“ oder „Desintegration“ in soziologischen Untersuchungen von Ulrich Beck über Gerhard Schulze bis Anthony Giddens aufs Schlagwort gebracht wird. Es scheint so, als sei Willenbrock den Risiken unserer Risikogesellschaft nicht gewachsen. Doch es ist nicht unangemessene Ängstlichkeit, die ihn plagt. Er ist sehr wohl entschlossen genug, die Chancen und Reize unserer schönen neuen Wirtschaftswelt für sich zu nutzen. Auch ist er nicht auf eine metaphysische Geborgenheit in traditionellen Sinne aus – zumindest betrachtet er seinen glaubensfesten katholischen Mechaniker eher mit Verwunderung als mit Neid. Doch kann er sein Bedürfnis nach ein wenig mehr Ordnung, ein wenig mehr Gerechtigkeit im Hier und Jetzt letztlich nicht verleugnen. Unsere Lebensverhältnisse sind für seinen Geschmack schlicht ein wenig zu abstrakt, zu formal, zu „cool“ geworden. Hein hat für Willenbrocks Empfindungen ein schönes, knappes Bild gefunden. Als Willenbrocks Frau in einen Kurzurlaub aufbricht – in dem sie ihren Mann betrügen wird, wie er sie so oft zuvor -, trägt er ihr das Gepäck ins Abteil. Als er wieder auf dem Bahnsteig steht, möchte er von seiner Frau nach schöner alter Tradition Abschied nehmen. Doch, „Willenbrock konnte Susanne nicht sehen. Als der Zug anfuhr … , winkte er, doch er blickte nur in die sich in der Scheibe spiegelnde Sonne“. Wer einmal versucht hat, den Reisenden in einem ICE mit weitgehend verspiegelten Fenstern zuzuwinken, weiß um die Antiquiertheit mancher traditioneller menschlicher Gesten. Doch leider erreicht Heins Prosa in diesem Buch nur selten eine solche Dichte und Überzeugungskraft. Man spürt deutlich, dass ihn an Willenbrocks Geschichte mehr die Analyse unserer gesellschaftlichen Lage gereizt hat als die literarischen Feinheiten. Er breitet die Handlung routiniert aus – aber eben doch nur routiniert und nicht mit der sprachlichen Suggestionskraft, die vor allem seine Rollenprosa in „Der fremde Freund“, „Horns Ende“ und „Das Napoleonspiel“ auszeichnete. Dennoch kann man Christoph Hein den Respekt für dieses Buch nicht verwehren. Es gibt nur wenige deutschsprachige Schriftsteller, die so klug und präzise von den aktuellen Probleme unserer Epoche zu erzählen verstehen. Vielleicht spürt Willenbrock die Schattenseiten einer utopielosen, durch und durch pragmatischen Zeit besonders deutlich, weil er – wie sein Schöpfer Hein – noch vor zehn Jahren in einem ganz anderen Staat mit ganz anderen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Doch dass seine Sorgen letztlich unser aller Sorgen sind, liegt auf der Hand. Bernd Willenbrock verkauft Autos in Berlin. Und lebt ein ganz normales Leben. Ein ganz normales deutsches Leben. Damals, in der DDR, war Willenbrock Ingenieur. Jetzt führt er einen Autohof und eine ganz normale deutsche Ehe. Sie haben ein Haus auf dem Land, keine großen Probleme. Hin und wieder betrügt Willenbrock seine Frau mit seinen Kundinnen. Dann schleichen sich die Katastrophen ins Leben des Bernd Willenbrock. Sein Betrieb wird beraubt. Die Polizei erweist sich als machtlos. Willenbrock wird erneut bestohlen. Von Einbrechern in seiner Wohnung wird er verletzt. Seine Frau betrügt ihn. Der brave, wohlanständige Willenbrock steht vor den Trümmern seiner braven, wohlanständigen Existenz. Willenbrock resigniert. Dann aber bekommt er einen Revolver.

Christoph Hein: „Willenbrock“. Roman Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000 319 S., 39,80 Mark.

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