Leise Stimme aus der Asche

 Gertrud Kolmars Theaterstück „Nacht“ wird mehr als sechzig Jahre nach seiner Fertigstellung in Düsseldorf uraufgeführt

Ihr ist kaum etwas erspart geblieben. Ein Gefühl von Glück hat sie wohl nur in wenigen Augenblicken ihres Lebens kennengelernt. Schon die Fotos aus ihrer Kindheit zeigen sie nie lächelnd oder gelöst, sondern stets mit ungeheuer ernstem Gesicht. Als habe sie mit inständiger Gefasstheit einem dunklen Schicksal entgegengesehen, von dem sie ahnte, dass sie ihm nicht entgehen würde. Sie war und blieb einsam. Ihre Versuche eine Partnerschaft aufzubauen, scheiterten ausnahmslos. Nach einer ersten heimlichen Affäre wurde sie, kaum 20-jährig, von ihrer Familie zu einer Abtreibung gezwungen – und litt dann Zeit ihres Lebens unter der unerfüllten Sehnsucht nach einem Kind. Als deutsche Jüdin der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts erlebte sie Ausgrenzung, Missachtung, Verfolgung in einem inzwischen oft beschriebenen und doch schwer vorstellbarem Maße: Man hat sie enteignet und zu Zwangsarbeit verpflichtet. Ihre Familie wurde ins Exil gedrängt und zerstreute sich über drei Kontinente. Ein Cousin beging aus Angst, an die Nazis ausgeliefert zu werden, in Frankreich Selbstmord, ein anderer Cousin starb im KZ Mauthausen. Ihr Vater wurde in 81-jährig in Theresiestadt ermordet, sie selbst in Auschwitz vergast. Dennoch hat Gertrud Kolmar, deren Rang als Lyrikerin erst nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein anerkannt wurde, kaum geklagt. Im Gegenteil: Als für sie zwar noch nicht ihr entsetzliches Ende absehbar war, wohl aber ihr „gewöhnliches“ Lebensunglück, schrieb sie an ihre Schwester: „Wirst Du mir glauben, wenn ich hierher setze: ?Ich habe niemals eine Enttäuschung erlebt‘, und ?Die Wirklichkeit war stets unausdenkbar schöner als alle Illusion‘? Glaubst Du mir das? Es war so für mich. Nicht, als ob ich nie unglücklich gewesen sei, als ob ich keinen Schmerz erlitten hätte. Nein, ich bin sehr, sehr unglücklich gewesen; ich habe große und tiefe Schmerzen erduldet, die ich doch auch geliebt habe, wie eine werdende Mutter die Qualen lieben kann, mit denen ihr Kind sie segnet. Aber ich hatte das alles vorher geahnt, es kommen sehn, im voraus schon auf mich genommen; ich kannte den hohen Preis, den ich zahlen würde, da gab es keine Enttäuschung.“ Heute ist eine unzeitgemäßere Schriftstellerin als Gertrud Kolmar schwer vorstellbar. Sie war klug und selbständig, aber alles andere als emanzipiert. Die wenigen Männer, zu denen sie sich hingezogen fühlte, liebte sie mit Leidenschaft zur Hingabe und Unterordnung. Beruf oder Erfolg bedeuteten ihr nichts, Ehe und Mutterschaft wären ihr alles gewesen. Auf den Terror der Nazis reagierte sie nicht mit Flucht oder gar Rebellion, sondern mit dem Rückzug in die Familie – ohne aber die Augen vor der Realität und damit vor der näherrückenden, lebensbedrohlichen Gefahr zu verschließen. Sie wusste, um eine Formulierung Carl Seeligs aufzugreifen, vom geheimen „Glück des Unglücks“ – und war schließlich bereit, ihre ganze Existenz dieser schwermütigen, hoffnungslosen Spielart des Glückes zu widmen. Doch trotz des unzeitgemäßen Charakters ihrer Arbeit und ihres Naturells ist sie bis heute nicht nur unvergessen, sondern findet ein immer stärker werdendes Interesse. In den vergangenen Jahren sind allein drei Bücher über ihr Leben erschienen, ein Sammelband mit Arbeiten über ihr Werk und eine Edition ihrer Briefe, dazu sind Auswahlbände mit Gedichten, sowie ihre beiden längeren Prosaarbeiten „Susanna“ und „Eine jüdische Mutter“ neu vorgelegt worden. Am Sonntag schließlich wird am Düsseldorfer Schauspielhaus in einer Inszenierung von Frank-Patrick Steckel erstmals das Theaterstück „Nacht“ gezeigt, das Gertrud Kolmar 1938 schrieb, und das seither nur in Italien publiziert wurde und ungespielt in den Archiven auf seine Entdeckung wartete. Eine Premiere aus dem Grab, genauer: aus der Asche, fast genau 57 Jahre nach dem Tod der Autorin, eine Uraufführung über 60 Jahre nach Fertigstellung des Stückes. Was ist das besondere an dieser Dichterin? Sie stammte aus einer jener überaus gebildeten, kultivierten und assimilierten jüdischen Familien, die in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zu Wohlstand und Ansehen gelangt waren. Ihr Cousin, jener verzweifelte Mann, der sich schließlich auf der Flucht vor den Nationalsozialisten an der französisch-spanischen Grenze umbrachte, war der Philosoph und Literaturtheoretiker Walter Benjamin. Er gehörte zu den wenigen Menschen, so berichteten Verwandte später, mit dem sich Gertrud Kolmar auf ausführliche, literarische Gespräche einließ. Aber selbst diesen Kontakt darf man sich nicht zu vertrauensvoll vorstellen. Jüngere Forschungen haben gezeigt, wieviel Distanz sie auch zu diesem (Seelen-) Verwandten wahrte. Benjamin war es auch, der – nachdem ein erster Band mit frühen Versen von Gertrud Kolmar 1917 als Privatdruck erschienen war – die Autorin in ihrer Arbeit bestärkte und sie bei ihren ersten Schritten im Literaturbetrieb unterstützte. Er wandte sich an Willy Haas, der Herausgeber der „Literarischen Welt“ und empfahl ihm zwei ihrer Gedichte, die am 5.April 1928 in der Zeitschrift erschienen, um, wie es im Begleittext Benjamins hieß, „das Ohr des Leser Tönen zu gewinnen, wie sie in der deutschen Frauendichtung seit Annette von Droste nicht mehr vernommen worden sind“. Wenn Benjamin hier als Referenz gleich einen erlesenen Namen wie den der Droste nennt, so kann man das als einen Akt des publizistischen Nepotismus abtun. Doch die wenigen kundigen Kritiker, die sie zu Lebzeiten fand, griffen meist ebenfalls früh zu hohen Vergleichen. Mit Else Lasker-Schüler oder Franz Werfel wurde sie auf eine Stufe gestellt und fand, zumal unter Schriftstellerinnen, rasch Unterstützung. Eine Unterstützung, die in den von mörderischen politischen Grabenkämpfen zerrissenen dreißiger Jahren die ideologischen Fronten scheinbar mühelos übersprang: So setzten sich die nazinahe Ina Seidel gleichermaßen für sie ein wie die entschieden naziferne Elisabeth Langgässer. Kurz, Gertrud Kolmar war auf dem Weg, eine anerkannte Lyrikerin zu werden, als 1930 ihre Mutter starb. Mit fragloser Selbstverständlichkeit übernahm sie daraufhin die Aufgabe, für ihren Vater den Haushalt zu führen. Die eigenen Interessen unterzuordnen, zu „Dienen“ und „Opfer“ zu bringen, wie zwei ihrer schönsten Gedichte betitelt sind, gehörte zu ihren prägenden Wesenszügen. Eine Bereitschaft zum Verzicht mit fatalen Konsequenzen – denn die Pflege des immer gebrechlicher werdenden Vaters fesselte sie an Berlin und ließ sie, trotz inständiger Beschwörungen der in die Schweiz emigrierten Schwester, den rechten Augenblick zur Flucht ins Ausland versäumen. Aber in Gefühlsdingen kannte Gertrud Kolmar keine halben Sachen. Sie legte sich stets mit Entschiedenheit und Konsequenz fest, gab sich rücksichtslos preis. Sie gehörte zu den Frauen, die, wie ihre Dichterkollegin Ulla Hahn es formulierte, lieben „ohne sich zu fragen, was sie dafür empfangen werden, die in der Hingabe sich selbst in ihrem ganzen Reichtum erleben, ihre eigene Stärke erfahren, die fähig sind zu einer Liebe ohne Vorbehalte, ohne Kalkül, ohne Verstellung, maßlos.“ Hinter dieser radikalen Leidenschaftlichkeit, die, wie Ulla Hahn lakonisch anmerkt, Männern sicher „als Schwäche und Bedrohung gleichermaßen“ erschien, stand ein deutlich spürbarer Wunsch nach Verschmelzung mit dem Verehrten, nach einer unio mystica der Liebe. Was sie lockte, war die Möglichkeit der Selbstauflösung, der Selbstauslöschung in der Gemeinsamkeit mit einem Gegenüber. Und diese Vision hatte keineswegs nur sanfte, hingebungsvolle Aspekte, sondern sie nahm in den Gedichten mitunter recht rabiate Züge an: „Mann, ich träume dein Blut, ich beiße dich wund / Kralle mich in dein Haar und sauge an deinem Mund“, schreibt sie in einem Gedicht. Doch diesen Abschied von sich selbst im Einswerden mit einem geliebten Menschen gelang ihr in ihrem Leben nie. Ihr Versuch aus dem als kümmerlich empfundenen alltäglichen Leben zu verschwinden in eine Gegenwelt der Liebe, ging wieder und wieder fehl: So lag es für eine so sprachbegabte, sprachbesessene Frau wie Gertrud Kolmar vermutlich nahe, aus der Literatur jene Gegenwelt zu machen, in der sie Schutz gegen die Zumutungen des Gewöhnlichen finden konnte. Sie floh regelrecht in die Poesie, sie vollzog jene unio mystica, die ihr in der Liebe nicht vergönnt war, mit der Lyrik. Sie machte die Gedichte zu ihrer Zuflucht und ihrem Exil; einem Exil allerdings, dass ihr Schutz nicht bieten konnte vor den Nachstellungen ihrer Mörder. Bis heute teilt sich dem Leser, vor allem in den Gedichten der dreißiger Jahre, etwas mit von der Intensität dieser Liebesverschmelzung, die Gertrud Kolmar mit der Sprache betrieb. Manche ihrer Verse haben eine geradezu halluzinatorische Kraft, sie beschreiben oder benennen nichts im üblichen Sinne, sondern rufen unbekannte Bilder und Emotion im Leser wach, die sich noch lange in seinem Kopf festhaken. Gedichte seien, schrieb Franz Fühmann einmal mit Blick auf die Lyrik Georg Trakls, „eine andere Art Träume“. Und so wie Träume unsere unbewussten Wünsche erfüllen und doch zugleich unerfüllt lassen, so vermögen auch bestimmte Gedichte am Bewußtsein vorbei Gefühle in uns zu erwecken, von denen wir vielleicht nicht ahnten, dass sie unsere sind. Die großen Gedichte Gertrud Kolmars haben diese Qualität. Ihre Prosa und ihre Theaterarbeiten sind damit nicht zu vergleichen. Auch „Nacht“, die „dramatische Legende in vier Aufzügen“, die jetzt in Düsseldorf uraufgeführt wird, ist sicher nicht zu den höchsten literarischen Leistungen Gertrud Kolmars zu rechnen. Doch einige der Motive, wie der Wunsch nach Selbstopfer, nach Unterwerfung unter einen starken, herrscherlich auftretenden Mann und damit eben zu einem Auflösung des isolierten Ich in ein Liebesideal, diese Motiv wird auch in ihrem Stück mit rückhaltloser Klarheit und Dringlichkeit formuliert. Keine fünf Jahre, nachdem Gertrud Kolmar diese „dramatische Legende“ fertiggestellt und in Abschriften bei Freunden und Verwandten deponiert hatte, wurde sie im Februar 1943 bei einer sogenannten „Fabrikaktion“ an ihrem (Zwangs-)Arbeitsplatz verhaftet, im Zug nach Auschwitz transportiert und dort – wie es üblicherweise knapp und pauschal heißt – ermordet. Doch die wahre Dimension dieses Verbrechens, dem Gertrud Kolmar mit Millionen anderen zum Opfer fiel, lässt sich mit solchen summarischen Bemerkungen nur schwer ermessen und veranschaulichen. Vielleicht ist es nicht falsch, sich gelegentlich vor Augen zu stellen, was ein solcher Satz im Detail für einen Einzelnen bedeutete – und das Deutsche für dieses Sterben verantworlich waren. Gertrud Kolmar wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit Ende Februar in einem ungeheizten Transportwaggon, zusammengepfercht mit zahllosen anderen, Tag und Nacht ohne Wasser und Nahrung nach Auschwitz gefahren. Dort angelangt dürfte sie an der Rampe kurz Josef Mengele oder einem seiner Arztkollegen gegenübergestanden haben, die sie als nicht arbeitsfähig selektierten und mit einer Handbewegung in den Tod schickten. Vor einem als Dusche ausgegebenen Raum musste sie sich – auf Anweisung von Deutschen – mit den ebenfalls ausgesonderten Männern, Frauen und Kindern entkleiden und in die Gaskammer gehen. Über das, was nun folgte schreibt der Historiker Raul Hilberg in seinem Buch „Die Vernichtung der europäischen Juden“: „Wenn die Opfer von Auschwitz nacheinander die Gaskammern betraten, entdeckten sie, dass die vermeintlichen Duschen nicht funktionierten. Draußen wurde der Hauptschalter betätigt, um die Beleuchtung abzustellen, und ein Rot-Kreuz-Wagen mit dem Zyklon fuhr vor. Ein SS-Mann, der eine Gasmaske trug, die mit einem Spezialfilter versehen war, hob den Glasverschluss über einem vergitterten Schacht ab und schüttete einen Zyklon-Kanister nach dem anderen in die Gaskammer. Wenn sich die ersten Kugeln auf dem Boden der Kammer verflüchtigten, begannen die Opfer zu schreien. Auf der Flucht vor den aufsteigenden Gas stießen die Stärkeren die Schwächeren nieder und stellten sich auf die Liegenden, um gasfreie Luftschichten zu erreichen und so ihre Leben zu verlängern. Der Todeskampf dauerte etwa zwei Minuten; dann hörte das Schreien auf, und die Sterbenden fielen übereinander. Innerhalb von fünfzehn (gelegentlich auch fünf) Minuten waren alle in der Gaskammer tot. Nun ließ man das Gas entweichen, und nach eine halben Stunde wurde die Tür geöffnet. Die Leichen fanden sich turmartig aufgehäuft, manche in sitzender oder halbsitzender Position, Kinder und ältere Menschen zuunterst.“ Die Leichen wurden daraufhin – unter Aufsicht von Deutschen – durch Sonderkommandos von Gefangenen in die Öfen der Krematorien geschafft und verbrannt. Nach nur ein oder zwei Stunden Aufenthalt in Auschwitz war von der durch eine maßloser Liebenssehnsucht geplagten Frau und überragenden Lyrikerin Gertrude Kolmar nicht mehr geblieben als Rauch und eine handvoll Asche.

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