Margriet de Moor erzählt vom Zusammenbruch eines Lebens
Was für ein zarter, anmutiger, kluger Roman! In der Verlagsbranche nennt man solche Bücher oft „klein“ oder „still“. Aber treffen diese Etiketten zu? Schließlich erzählt Margriet de Moor unter anderem von einer erotischen Besessenheit, von einem inständig herbeigesehnten Seitensprung und von dem philosophischen Dialog eines ehebrecherischen Tierarztes mit einem anästhesierten Hund über die Frauen und die Liebe. Daneben erzählt sie noch von einigen Autounfällen mit tödlichem Ausgang, lang vergangenen Selbstmorden und vom tragischen Verlöschen einer ganzen Familie. Ein stilles Buch? Es ist auf jeden Fall ein intensives Buch. „Nennen wir es mal die Geschichte einer Straße“, lautet der erste Satz, und Margriet de Moor kennzeichnet damit sehr genau, um was es ihr in diesem Roman geht – und nimmt den Leser zugleich doch auf den Arm. Denn natürlich handelt ihre Geschichte nicht von einer Straße, sondern von den Menschen, die sie benutzen. Andererseits spürt sie ganz ohne Innerlichkeitsgeraune einem inneren Weg nach, den diese Menschen zurücklegen, einem Weg, der mindestens so viele Gefahren birgt, wie eine überfüllte Straße, ein Weg, auf dem man gründlich vom Weg abkommen und in Unfälle mit tödlichem Ausgang verwickelt werden kann. „Zee – Binnen“ ist der wohl unübersetzbare Titel des niederländischen Originals, und er benennt die Strecke zwischen der Kleinstadt Noordwijk Binnen und dem Badeörtchen Noordwijk an Zee. Zugleich aber benennt er jene Reise ins Herz der Finsternis, die wir alle antreten, wenn wir uns gelegentlich mit vollem Ernst fragen, ob das Leben, das wir führen, tatsächlich das Leben geworden ist, das wir einst führen wollten. Vincent, der Held dieses Romans, ist ein wohlhabender, verheirateter Tierarzt, dessen „Verliebtheit von vor vierzehn Jahren“ noch immer den Blick auf seine Frau verklärt. Offenbar ein glücklicher Mann. Doch eines Nachts beim Spaziergang findet er auf der Oude Zeestraat, eben jener Strecke zwischen Zee und Binnen, einen Taschenkalender, den, wie die Handschrift verrät, eine Frau verloren haben muss. Und er entdeckt seinen eigenen Namen in dem Kalender – denn jene unbekannte Frau hat eine Verabredung mit ihm. Genauer, sie hat wegen einer Katze einen Termin mit seiner Praxis gemacht. Das ist alles, was Margriet de Moor braucht, um Vincent auf die Reise zu schicken, auf eine Expedition zu verborgenen, ungenutzten Möglichkeiten seines Lebens. Kurz: auf den gefahrvollen Weg von Zee nach Binnen. Erst ist Vincent nur amüsiert über den seltsamen Zufall seines Fundes, doch bald schon lässt ihn diese unbekannte Kalenderbesitzerin kaum noch los, sie spukt in seinem Kopf herum, bis er schließlich der Verabredung von Tag zu Tag, Minute zu Minute ungeduldiger entgegenfibert. Wie Margriet de Moor das erzählt, ist virtuos. Sie romantisiert nichts, sie dramatisiert nichts und vermag doch, die Gefühle und die Neugier des Lesers immer wieder zu fesseln. Sie verschweigt nicht die brutale Gemütsruhe, mit der Vincent von einer fernen, noch fremden Geliebten träumt, während er mit der eigenen schlafenden Frau im Bett liegt. Sie führt den Lesern diese Geliebte nicht als besondere Schönheit vor, sondern eine ruhige, reife Frau, die von der Liebe nicht mehr viel erwartet, aber die Chance, die sich ihr überraschend in der Person des jüngeren Vincent bietet, mit ruhiger, reifer Hand ergreift. Und sie zeigt auch, dass Vincent seine Frau trotz seiner Affäre nicht weniger liebt als zuvor. Er erweitert kurzerhand seinen verklärenden Blick, der zuvor nur einer galt, auf eine zweite, die für ihn schon deshalb schön ist, weil er lange vor ihrem ersten Treffen unbewusst beschlossen hat, dass sie einfach schön sein müsse. Eine Moral hat das alles nicht. In keinem Satz wird auch nur der Hauch von Kritik an einem Mann spürbar, der, ohne eine Sekunde zu zögern, den ihm am engsten verbundenen Menschen hintergeht. Und auch nicht an einer Frau, die viel Kraft aufwendet, um die Veränderungen ihres Mannes und ihrer Ehe nicht wahrnehmen zu müssen. Margriet de Moor urteilt nicht, sie zeigt nur, was geschehen kann, wenn man den Blick vom vertrauten Pfad des eigenen Lebens hebt und frei in die Landschaft ringsum schweifen lässt, zu all den anderen, brachliegenden Entwürfen von uns selbst: Wir können überaus verlockende, neue Weg entdecken und damit verlockende neue Aspekte von uns selbst. Aber wir können auch endgültig die Kontrolle über unser Fahrzeug verlieren und tödlich stranden. Margriet de Moors Roman ist auch deshalb so schön und so sympathisch geworden, weil ihre Sprache klar bleibt. Sie lässt sich auf ihrer Abenteuertour durch das Innenleben der Hauptfiguren nicht zu schwärmerischen, metaphernseligen Lyrismen hinreißen. Sie hat vielmehr ein wunderbares Gleichgewicht aus psychologischer Präzision und Mitgefühl mit ihre Helden gefunden. Und sie versteht es, dieser Mischung immer auch ein wenig Ironie mitzugeben. So legt sie ausgerechnet einem Hund, der betäubt auf seine Operation wartet, die Worte in die Schnauze, die Vincents Situation an genauesten beschreiben: „Jeder hat so seine angeborenen Sehnsüchte. Man jagt von Zeit zu Zeit etwas Unmöglichem nach, vor allem, wenn es um Frauen geht . . . Wir sind komplizierter, als wir denken.“ Der Weg von Zee nach Binnen ist alltäglich und doch komplizierter und gefahrvoller, als wir denken. Schon deshalb gehören entsprechende Reiseberichte zum Lieblingsstoff der Weltliteratur. Ein Spezialist für derartige Logbücher aus dem Innenleben war Thomas Mann – der, vielleicht ein Zufall, Noordwijk und die Straße zwischen Zee und Binnen gut kannte. Drei Mal hat er hier Urlaub gemacht. 1939, 1947 und 1955. Im Tagebuch kann man nachlesen, wie er von Ehefrau Katja chauffiert im Auto über die Oude Zeestraat rollt, und fast fürchtet man um ihn: „Abfahrt mit K. Sehr nervös u. vom Abschied erschüttert bei der nicht leicht zu findenden Ausfahrt im Radfahrergewimmel. High Way und Straße nach Noordwijk. Ankunft hier 1/2 8 Uhr, allein zu zweien . . . Windstille.“
Margriet de Moor: „Die Verabredung“. Roman Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Carl Hanser Verlag, München 2000 192 S., 34 Mark