Die Nacht der Liebe

 Eine wunderbare Wiederentdeckung: Der Roman „Die Glut“ des fast vergessenen ungarischen Erzählers Sàndor Màrai

Ein alter General lebt irgendwo im längst zerfallenen österreichisch-ungarischen Riesenreich auf einem schlossartigen Gutshof. Allein, nur von seiner Dienerschaft umgeben, hängt er der Erinnerung an eine große und zugleich zwielichtige Vergangenheit nach. Der immer gleiche Rhythmus seines Daseins gerät schlagartig aus dem Takt, als man ihm den Besuch eines Jugendfreunds ankündigt. Er verfällt in fieberhafte Aktivität, lässt einen lang nicht benutzten Trakt seines Hauses herrichten und ein sorgsam zusammengestelltes Dinner vorbereiten. Ohne ein Wort der Erklärung war der Freund 41 Jahre zuvor nach einem Essen mit dem General und dessen junger Frau – es hatte genau die gleiche Speisenfolge, die jetzt wieder vorbereitet wird – über Nacht aus der nahe gelegenen Stadt verschwunden. Er trat in den britischen Kolonialdienst ein und sandte nie wieder ein Lebenszeichen in seine alte Heimat. Der General aber war nach diesem stillschweigenden Abschied in das Gartenhaus seines Guts übergesiedelt, traf seine Frau nie mehr und sprach auch nicht mit ihr. Die Geschichte schrieb vor fast 60 Jahren, mitten im Zweiten Weltkrieg, der Ungar Sàndor Màrai. Doch damals hatte man in ganz Europa anderes zu tun, als Romane zu lesen, und so wurde sein Buch „Die Glut“ bald vergessen. Sehr zu Unrecht, denn es ist ungeheuer suggestiv, von großem psychologischen Scharfblick und außerordentlich spannend. Jetzt hat es der Piper Verlag in deutscher Übersetzung neu aufgelegt – eine wundervolle Wiederentdeckung. Der größte Teil des Buchs beschreibt nichts anderes, als dass die beiden alten Männer an der feierlich gedeckten Tafel sitzen und über jene scheinbar so harmonische, ein Menschenalter zurückliegende Nacht reden, als sie am gleichen Tisch saßen und die gleichen Speisen aßen. Nur bleibt diesmal der dritte Stuhl zwischen ihnen leer. Was macht den Roman gleichwohl so spannend? Weshalb legt man ihn nur ungern vor der letzten Seite aus der Hand? Mit fabelhaftem Geschick enthüllt Sàndor Màrai Punkt für Punkt das Geheimnis jener Nacht, dass die beiden Helden für immer trennte und sie zugleich bis zum Ende ihrer Existenz zusammenschweißte. Immer wieder nimmt die Geschichte eine Wendung, die für den Leser nur schwer vorauszuahnen ist, und immer wieder erweist sie sich als die schlimmstmögliche Wendung für das weitere Leben der beiden Alten. Es ist keine Plauderei zwischen Pensionären, an der man bei der Lektüre teilhat, sondern eine Abenteuerfahrt durch die seelischen Abgründe einer Freundschaft zwischen ganz und gar ungleichen Partnern. Es stellt sich heraus, dass der General seine Jahre keineswegs im beschaulichen Rhythmus des Landlebens verträumt hat. Gegen Ende des Romans spricht nur noch er, sein Gast kann sich auf kurze, bestätigende Einwürfe beschränken. In den über vierzig Jahren seiner Einsamkeit hat der General allein kraft seiner Erinnerungen und winziger Indizien den tiefen, verborgenen Konflikt ihrer Freundschaft aufgedeckt. Und die Rolle, die seine Frau dabei spielte. Es ist kein Zufall, dass der Autor eines solchen Romans am Anfang des jetzt zu Ende gehenden Jahrhunderts ein Bürger der k .u. k Monarchie war. Geboren 1900, also in dem Jahr, in dem Sigmund Freud sein Buch über „Die Traumdeutung“ veröffentlichte, hat Màrai viel von der Seelenkennerschaft aufgesogen, die das intellektuelle Klima dieses Vielvölkerstaats damals beherrschte. Wie er die Psyche seiner beiden Romanhelden vor den Augen der Leser Schicht um Schicht bloßlegt, ist ebenso bewundernswert wie erschütternd. Ein Historienmaler von Rang ist Màrai. Sein Buch lässt Pracht und Prunk des alten Österreich-Ungarn wieder auferstehen. Zu Anfang scheint das Leben der beiden Freunde wie im Walzerrausch an ihnen vorüberzufliegen. Doch bald schon zeigen sich Risse im Glanz und dann, mit einem Mal, ist alles um sie her nur noch fadenscheinig – so fadenscheinig, wie die ehemals wertvollen Teppiche, Vorhänge und Polster auf jenem Gutshof, auf dem der General 41 Jahre lang auf seinen geflohenen Freund wartet. In „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ hat Gabriel García Màrquez von der Liebe eines alten Mannes erzählt, der seine Jugendfreundin nach 50 Jahren des Wartens endlich in die Arme schließen und mit ihr im Glück schwelgen kann. Sàndor Màrai beschreibt die Nachtseiten der Liebe, ihre Sprengkraft und Zerstörungswut. Kurz: Er beschreibt die „Glut“ der Leidenschaft, die das Leben zu Grunde richtet. García Màrquez´ Roman stimmte einen heiteren Hymnus auf die Liebe an, Màrais Buch setzt ein düsteres Epitaph dagegen. Beides sind hinreißende, weltkluge Operninszenierungen mit viel Pomp, prunkenden Kulissen und überlebensgroßen Gefühlen. Was will man mehr von einem Roman?

Der Artikel erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ vom 30. Oktober 1999

Sàndor Màra: „Die Glut“. Roman Piper Taschenbuch Verlag, München 240 Seiten, 8,99 Euro ISBN 978-3492233132

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