Die Entscheidung, Volker Braun den Büchnerpreis zu verleihen, ist die Entscheidung für einen ästhetisch höchst anspruchsvollen und zugleich immer politisch denkenden Schriftsteller. Wie nur wenige andere Autoren im Westen und im Osten Deutschlands hat er mit seiner Literatur auf die zeitgeschichtlichen Hoffnungen und Befürchtungen, auf die ideologischen Aufbrüche und Abstütze in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts reagiert. 1939 in Dresden geboren, wuchs er in der DDR auf. In seiner Jugend gehörte seine ganze Liebe, sein ganzer Idealismus der Revolution. Sie gab seiner frühen Lyrik und Dramatik den Rhythmus vor: Zeile um Zeile rannten seine Arbeiten an gegen alles Gewohnte, Bestehende und stürmten voraus in eine – vermeintlich – bessere Welt. Sie drängten hin zu einem idealen Sozialismus, in den er den real existierenden seiner Heimat lieber heute als morgen verwandelt sehen wollte. Braun schrieb wilde Hymnen auf die Anfangsjahre der DDR, die noch heute mitreißend klingen, obwohl man inzwischen nur zu genau weiss, wohin dieser Anfang führte. Später dann veröffentlichte er in der Tonlage Brechts kluge Lieder über die mühsame „Wühlerei / In der ökonomischen Scheiße“. Und schließlich verfasste er stille Oden über den großen Wert kleiner politischer Fortschritte. Doch trotz seiner marxistischen Grundhaltung waren Konflikte mit den Kulturfunktionären der DDR für Braun nicht zu vermeiden. Stücke von ihm durften lange nicht aufgeführt werden, seine schönste Erzählung „Die Unvollendete Geschichte“ konnte nur in einer Zeitschrift erscheinen, und selbst Lyrikbände wurden zensiert und gekürzt. Die Borniertheit der Parteiapparatschiks, die jahrzehntelange politische Erstarrung der DDR, ihre soziale Grabesruhe hinterließ bei diesem so sehr an Veränderung und Umwälzung glaubenden Autor bald schon deutliche Spuren. Bereits in dem 1979 erschienenen Gedichtband „Training des aufrechten Gangs“ klang an, was sich dann immer deutlicher zeigte – Brauns poetische Weltsicht verdunkelte sich zusehends, nahm statt des unbeugsam utopischen nun einen eher elegischen Klang an. Er ging streng und immer strenger mit seinen frühen Glaubenssätzen ins Gericht – ohne sich deshalb endgültig von seinen linken Grundüberzeugungen zu verabschieden. Der Bruch, die Störung wurde zum literarischen Prinzip seiner Arbeit. Mit Bedacht zerschlug er in seinen Gedichten die Sätze, zerriss er die Grammatik, lieferte dem Theater mit Vorliebe nur mehr Fragmente. Ihm war sein Weltbild in Splitter zerfallen, sein politischer Lebenstraum an der Realität zuschanden gegangen – und er sah nicht ein, weshalb er den Schmerz über diese Erfahrung seinem Publikum ersparen sollte. Wie tief diese Krise reichte, ließ Volker Braun in seinem Rimbaud-Essay erkennen, in dem er seine existenzielle Erschütterung deutlich aussprach: „Freunde und Feinde warten auf meine endgültige Reise ins Aus, den Abgang vom Gerät. Sie sagen ihn voraus als die Konsequenz: die Zerreißprobe endet … Aber ich bin nicht nur das zerrissene Fleisch, ich bin es auch, der es zerreißt. Ich entkomme nicht, es sei denn über die eigene Grenze.“ Aber auch nach dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung Deutschlands hat Braun seinen Frieden mit der neuen politischen Situation nicht gemacht. Im Gegenteil: Im Nachhinein wollte es ihm offenbar so scheinen, als habe die üble Ausgangslage im realen Sozialismus zumindest einen letzten, fernen Funken Hoffnung auf eine gerechtere, bessere Zukunft eingeschlossen. Dagegen vermochte er – wie auch Heiner Müller, der andere große Dramatiker der DDR – in einer kapitalistischen Welt ohne wirksamen politischen Gegenspieler überhaupt keinen Ausweg aus einem allumfassenden Jammertal mehr zu erkennen. Volker Braun ist ein Ideenlyriker und ein Geschichtsdramatiker von stattlichem Format – und also eine gute Wahl als Träger des Büchnerpreises. Aber Braun ist auch, wenn es ihm gelingt, sich ganz und gar auf eine scheinbar alltägliche, kleine Geschichte einzulassen, ein überaus sinnlicher, begnadeter Erzähler. Doch leider hat er dieses Talent, nicht zuletzt immer wieder verfangen in dem scheinbar so großen Kleinkrieg um politischen Grundsatzfragen, nur selten gepflegt. Viel zu selten.
Kategorien
- A.J. Liebling
- Alan Scott Haft
- Albert Ostermaier
- Alexander Schimmelbusch
- Alfred Andersch
- Alfred Neven DuMont
- Alison Lurie
- Amy Chua
- André Heller
- André Schiffrin
- Andrea Maria Schenkel
- Anja Jardine
- Anna Gavalda
- Arno Schmidt
- Axel Hacke
- Barbara Honigmann
- Benjamin von Stuckrad-Barre
- Bernd Pfarr
- Bernhard Schlink
- Bernhard Sinkel
- Birgit Vanderbeke
- Botho Strauß
- Brigitta Eisenreich
- Charlotte Roche
- Chlodwig Poth
- Christa Wolf
- Christian Kracht
- Christoph Hein
- Christoph Ransmayr
- Christopher Buckley
- Claire Vaye Watkins
- Clemens Berger
- Daniel Kehlmann
- David Lodge
- David Sedaris
- Dea Loher
- Dieter E. Zimmer
- Dieter Forte
- Dirk Kurbjuweit
- Dirk von Petersdorff
- Don DeLillo
- Doris Dörrie
- Doris Knecht
- Eberhard Straub
- Eckhard Henscheid
- Elke Heidenreich
- Eric Ambler
- Ernst Augustin
- Ernst Rowohlt
- Erwin Strittmatter
- Eugen Ruge
- Evi Simeoni
- F.K. Waechter
- F.W. Bernstein
- Felicitas Hoppe
- Ferdinand von Schirach
- Frank Goosen
- Franz Fühmann
- Franziska Gerstenberg
- Friedrich Schiller
- Georg Büchner
- Gerald Zschorsch
- Gerhard Polt
- Gerhard Roth
- Gertrud Kolmar
- Greser & Lennz
- Greser & Lenz
- Gruppe 47
- Günter de Bruyn
- Günter Grass
- Hans Christoph Buch
- Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen
- Hans Magnus Enzensberger
- Hans Traxler
- Hans-Georg Gadamer
- Hans-Ulrich Treichel
- Hape Kerkeling
- Harald Martenstein
- Heiner Müller
- Heinrich Böll
- Helene Hegemann
- Helge Malchow
- Hellmuth Opitz
- Herta Müller
- Ilija Trojanow
- Ilse Aichinger
- Imran Ayata
- Ingo Schulze
- Jakob Arjouni
- Jennifer Egan
- John Barth
- John le Carré
- John Updike
- Jon Savage
- Josef Haslinger
- Joseph von Westphalen
- Judith Hermann
- Juli Zeh
- Julian Barnes
- Jürgen Manthey
- Karl Anders
- Karl Heinz Bittel
- Kenzaburo Oe
- Kim Chi Ha
- Kingsley Amis
- Kirstin Fuchs
- Klaus Eck
- Klaus Schlesinger
- Kurt Flasch
- Kurt Wolff
- Leander Scholz
- Leon de Winter
- Leslie A. Fiedler
- Lisl Urban
- Literatur Jahrgang 1929
- Literatur Jahrgang 1959
- Literatur und Atom
- Literatur und Doping
- Literatur und Krieg
- Literatur und Medizin
- Literatur und Politik
- Ludwig Greve
- Luise Rinser
- Lukas Bärfuss
- Maja Haderlap
- Marcel Reich-Ranicki
- Margriet de Moor
- Marius von Mayenburg
- Martin Heckmann
- Martin Mosebach
- Martin Mosebach über Charles Dickens
- Martin Walser
- Matthias Politycki
- Max Goldt
- Maxim Biller
- Michael Kumpfmüller
- Michael Lentz
- Michael Roes
- Milan Kundera
- Moritz Rinke
- Nelly Arcan
- Nick Hornby
- Nicolas Jones-Gorlin
- Oliver Maria Schmitt
- Otto Waalkes
- Paul Auster
- Paul Michael Lützeler
- Peter Frisch über Max Frisch
- Peter Hamm
- Peter Handke
- Peter Rühmkorf
- Peter Schneider
- Philip Larkin
- Philip Roth
- Philipp Tingler
- Raymond Carver
- Raymond Chandler
- Robert Gernhardt
- Rüdiger Safranski
- Ruth Klüger
- Sàndor Màrai
- Sascha Anderson
- Siegfried Lenz
- Siegfried Unseld
- Silke Scheuermann
- Simon Borowiak
- Stefan George
- Sten Nadolny
- Stinnes Clärenore
- Sudabeh Mohafez
- Susan Sontag
- Susanne Schleyer
- Svealena Kutschke
- Tanja Dückers
- Teofila Reich-Ranicki
- Thomas Brasch
- Thomas Glavinic
- Thomas Gsella
- Thomas Hettche
- Thomas Lehr
- Thomas Steinfeld
- Thomas von Steinaecker
- Thomas Weber
- Thommie Bayer
- Tim Parks
- Titanic
- Tony Earley
- Ulrich Plenzdorf
- Ulrich Pletzer
- Ulrike Kolb
- Umberto Eco
- Uzodinma Iweala
- V. S. Naipaul
- Verlag 2001
- Verlag Herder
- Verlag Nest
- Verlag Rowohlt
- Verlag Suhrkamp
- Verlagsranking
- Volker Braun
- Volker Kriegel
- Volker Reiche
- Volker Reinhardt
- Volker Weidermann
- W.G. Sebald
- Wilhelm Genazino
- William Hastings Burke
- Wolf Haas
- Wolf Wondratschek
- Wolfgang Bächler
- Wolfgang Herrndorf
- Wolfgang Hilbig
- Wolfgang Koeppen
- Wolfgang Ullrich
- Woody Allen
Archive
- Oktober 2012
- September 2012
- August 2012
- Juli 2012
- Mai 2012
- April 2012
- März 2012
- Januar 2012
- November 2011
- Oktober 2011
- September 2011
- August 2011
- Mai 2011
- April 2011
- März 2011
- Februar 2011
- Januar 2011
- November 2010
- September 2010
- August 2010
- Juli 2010
- Juni 2010
- Mai 2010
- März 2010
- Februar 2010
- Januar 2010
- Dezember 2009
- November 2009
- Oktober 2009
- September 2009
- August 2009
- Juli 2009
- Juni 2009
- Mai 2009
- April 2009
- März 2009
- Februar 2009
- Januar 2009
- Dezember 2008
- November 2008
- Oktober 2008
- September 2008
- August 2008
- Juli 2008
- Juni 2008
- Mai 2008
- April 2008
- März 2008
- Februar 2008
- Januar 2008
- Dezember 2007
- November 2007
- Oktober 2007
- September 2007
- August 2007
- Juni 2007
- Mai 2007
- April 2007
- März 2007
- Februar 2007
- Januar 2007
- November 2006
- September 2006
- August 2006
- Juli 2006
- Juni 2006
- Mai 2006
- April 2006
- März 2006
- Februar 2006
- Januar 2006
- Dezember 2005
- November 2005
- Oktober 2005
- September 2005
- Juli 2005
- Juni 2005
- Mai 2005
- April 2005
- März 2005
- Februar 2005
- Januar 2005
- Dezember 2004
- Oktober 2004
- September 2004
- Juli 2004
- Juni 2004
- Mai 2004
- April 2004
- März 2004
- Januar 2004
- Dezember 2003
- Oktober 2003
- September 2003
- August 2003
- Juli 2003
- Juni 2003
- Mai 2003
- März 2003
- Februar 2003
- Dezember 2002
- November 2002
- Oktober 2002
- September 2002
- Juni 2002
- Mai 2002
- März 2002
- Februar 2002
- Dezember 2001
- November 2001
- Oktober 2001
- September 2001
- August 2001
- Juli 2001
- Juni 2001
- Mai 2001
- April 2001
- Februar 2001
- Januar 2001
- Dezember 2000
- November 2000
- Oktober 2000
- Juni 2000
- April 2000
- März 2000
- Februar 2000
- Oktober 1999
- September 1999
- April 1999
- Juli 1998
- Mai 1998
- April 1998
- Mai 1994
- Januar 1994
- Dezember 1993
- März 1992
- Januar 1991
Meta