„How to be Good“

Nick Hornbys sehr komischer, sehr ernster Roman zeigt, wie schwierig es ist, glücklich zu sein
Also, ich beobachte das immer häufiger: Menschen, denen es eigentlich gut geht, geht es oft unheimlich schlecht. Oder anders gesagt, Leute, die wahnsinnig viel Glück haben, sind nicht selten ganz schön unglücklich. Zugegeben, eine sensationelle Entdeckung ist das nicht. Eher ein alltäglicher Fall. Während ja in den kirchenmausarmen Ländern viele Menschen von sich sagen, ihnen fehle zwar selbst das Notwendigste, aber sie genössen jeden Tag, trifft man in unseren Breiten, in Europa und Nordamerika immer öfter Leute, die alles haben, Familie, Freunde, Arbeit, Gesundheit, Geld – und denen nichts mehr Spaß macht. Auf größere Entfernung merkt man es ihnen nicht gleich an, sie lachen, reden, gehen ins Kino, trinken ihren Wein oder fahren in Urlaub wie andere auch. Doch je näher man ihnen kommt, desto freudloser wird alles. Auch man selbst. Denn dieses Leiden scheint ansteckend zu sein. Beneidenswert, wer aufrichtig behaupten kann, er habe nie auch nur einen Anflug davon bei sich verspürt. Katie und David in Nick Hornbys neuem Roman können das nicht, sie sind infiziert. Sie leben im Londoner Norden, Katie ist Ärztin, David ist freier Journalist und Autor. Die beiden haben zwei gesunde Kinder, ein Haus, ein solides Auskommen, Verwandte, Freunde und manchmal sogar Zeit füreinander. Aber sie verspüren bei all dem nicht mehr das geringste Vergnügen. Woher kommt dieser Verdruss, woher dieses Unglück? Gern würde man die beiden herablassend mit mürrischen Kindern vergleichen, die unterm Weihnachtsbaum inmitten der prächtigen Geschenke sitzen und nichts mit sich anzufangen wissen. Nur zu gern würde man sie so abqualifizieren – bis man merkt, dass man schon ganz ähnliches gesagt, gefühlt, getan hat wie die beiden, und mit einem Mal wird ihre finstere Geschichte zu einer recht unangenehmen Selbstbegegnung. Dabei hat Nick Hornby keineswegs ein lahmes Trauerbuch geschrieben. Im Gegenteil, sein Roman ist flott, witzig, pointiert, es gibt viel darin, an dem man eine helle Freude haben kann, viel Kluges, viel Freches, viele amüsante Kommentare zu Mode-Quark der jüngsten Zeit. Eine schöne ironische Volte etwa verbirgt sich gleich im Titel: „How to be Good“ spielt natürlich an auf die angelsächsischen Ratgeber-Bücher, die ihren Lesern versprechen, jedes materielle oder immaterielle Lebensproblem mittels leicht erlernbarer kleiner Tricks aus der Welt zu schaffen. Doch Hornbys Roman mit Ratgeber-Titel ist zutiefst ratlos – was nicht gegen, sondern unbedingt für ihn spricht. In bester erzählerischer Tradition bietet Hornby seinen Lesern keine Lösungen, keine Patentrezepte an. Wer an die noch glaubt, sollte sie in echten „How to…“-Büchern suchen. Hornby beschränkt sich vielmehr auf das, was Sache der Schriftsteller ist: Er beschreibt psychologisch glaubwürdig die Situation seiner Figuren, er zeigt ihre Not inmitten ihres Überflusses, ihr heimliches Unglück inmitten des offenbaren Glücks – und macht zugleich spürbar, dass ein solches Wohlstands-Unglück nicht weniger schmerzt als anderes Unglück auch. Katie ist es, die den Stein ins Rollen bringt. Sie weiß nicht, was mit ihr und David nicht mehr stimmt, sie weiß nur, dass sie sich jenseits von Sticheleien und Vorwürfen kaum noch etwas zu sagen haben. Also hat sich Katie mit einem Bekannten verabredet, um mit ihm ins Bett zu gehen. Es ist ihr erster Seitensprung, und sie nimmt ihn keineswegs auf die leichte Schulter. Auf der Fahrt zum Hotel ruft sie ihren Mann an, um ihn an irgendeine häusliche Kleinigkeit zu erinnern. Doch das Gespräch entgleist, es entgleist in Richtung Wahrheit, und sie wirft David an den Kopf, dass sie nicht mehr länger mit ihm verheiratet sein möchte. Damit ist die Partie eröffnet. Was lange unter der Oberfläche schwelte, ist nun offenbar. Eine der großen Stärken von Hornby ist, wie er solche Gespräche inszeniert. Er schreibt nicht einfach Dialoge, er lässt sie zugleich von seiner Heldin kommentieren, mal sarkastisch, mal melancholisch, immer aber gescheit und empfindsam. So erreicht er dreierlei: er treibt die Handlung voran, er verschafft sich Gelegenheit, die Charakterstudie von Katie immer genauer herauszuarbeiten, und er führt vor, wie inständig, ja wie verzweifelt sich Katie darum bemüht, ihre Lebenssituation zu reflektieren, wie intensiv sie über sich und ihren Mann nachdenken, um einen Ausweg zu finden und Ehe und Glück zu retten. Denn sie und David sind vielleicht keine Genies, aber zweifelsohne intelligent genug, um die Leser nicht nur als Mitleidende, sondern auch als Mitdenkende zu fordern. Um so herber die Erkenntnis, dass Katie und David trotz Aufbietung all ihrer Sensibilität und Klugheit, letztlich keinen Ausweg finden. Die größte Schwäche des Romans, um das gleich anzuschließen, ist DJ GoodNews. Hornby kennt sich wie nur wenige andere Schriftsteller in der Pop- und Trash-Kultur der letzten Jahrzehnte aus. Er setzt diesen Wissensschatz in seinen Büchern geschickt ein, um die Alltags- und Fantasiewelt seiner Figuren mit einer Fülle von äußerst zeitgenössischen Vorlieben und Leidenschaften auszustatten, durch die sie präzise und oft fabelhaft witzig charakterisieren werden. Manchmal aber trägt Hornby seine Begeisterung über die Kuriositäten des Pop und des Trash spürbar aus der Kurve. Mit DJ GoodNews stellt er Katie und David nicht nur einen der Esoterik-Szene entstammenden Vorstadt-Guru an die Seite, der David innerhalb weniger Tage vom rabiaten Zyniker zum überzeugten Spiritualisten bekehrt. Nein, Hornby macht aus GoodNews gleich einen Wunderheiler, der gläubige Mitmenschen durch Handauflegen wahlweise von Rückenschmerzen, Neurodermitis, Rheuma oder beliebigen anderen Leiden befreien kann. Damit aber sprengt Hornby den Rahmen seiner Romanwelt, die ansonsten ganz auf Diesseitigkeit und Durchschnittserfahrungen angelegt ist. Bezeichnenderweise weiß er mit seinem modernen Schamanen, der zwischen all den gewöhnlichen Menschen seines Buchs herumstolpert, auch herzlich wenig anzufangen. Selbst Katie, die sich als Ärztin für dessen Heilerfolge interessieren müsste, nimmt die Fähigkeiten von GoodNews zu Anfang zwar verblüfft, letztlich aber schulterzuckend hin. So aber wird Hornby dem Einbruch des Wunderbaren in die mausgraue Realität – ein ehrwürdiger Topos der Literaturgeschichte – weder literarisch noch psychologisch gerecht. Doch von diesem einen unbeholfen benutzten Motiv abgesehen, erzählt Hornby seine Geschichte mit großer Präzision und Einfühlungskraft. Seine beiden Helden machen sich in ihrer Dauerkrise immer wieder Gedanken darüber, ob sie denn moralisch richtig handeln, ob sie denn – ernsthaft! – zur Verbesserung der Welt beitragen. Katie bemüht sich mit noch mehr Einsatz als zuvor um das Wohlergehen ihrer Patienten, und David versucht, Obdachlosen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen. Fast so als glaubten die zwei, durch vorbildliches Verhalten vom Schicksal das Anrecht auf eine Portion Glück einhandeln zu können. Eine letztlich wohl sehr englische Vorstellung. Aber die beiden meinen das ernst. Sie beschließen trotz der Verletzungen, die sie sich bereits zugefügt haben und trotz der bleiernen Depression, die auf ihnen lastet, zusammen zu bleiben, weil ihre Kinder, Tom und Molly, sie zusammen brauchen. Doch im Grunde ist mit diesem Entschluss das Rätsel um ihr so wohlsituiertes Unglück nicht geklärt, sondern nur fürs erste beiseite geschoben. Katie erkennt das genau: Als David sich am Ende des Romans während eines nächtlichen Wolkenbruchs aus dem Fenster lehnen muss, um die Dachrinne zu säubern, zieht sie Resümee: David „trägt Jeans, und Tom und ich greifen jeweils in eine seiner Gesäßtaschen, um ihn festzuhalten, während Molly nutzlos aber niedlich versucht, uns zu stützen. Meine Familie, denke ich, nur das. Und dann: Ich schaffe das. Ich kann dieses Leben leben. Ich kann, ich kann. Es ist ein Funken, den ich hegen und pflegen will, das stotternde Lebenszeichen einer leeren Batterie; aber genau im falschen Moment fällt mein Blick auf den Nachthimmel hinter Dave, und ich kann sehen, dass dort draußen alles leer ist.“ Ja, okay, ich weiß, literarische Avantgarde ist das nicht. Die Mittel und Metaphern, die Nick Hornby einsetzt, sind geläufig. Aber er versteht mit ihnen umzugehen, verdammt effektvoll umzugehen. Sein Roman ist komisch und sehr, sehr ernst zugleich. Und er ist es wert, dass man ihn liest, weil er einen dazu bringt, mal wieder den Blick ins Dunkel zu richten und sich einzugestehen, dass dort draußen alles leer ist.

Nick Hornby: „How to be Good“. Roman Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001 341 S., 39,88 Mark.

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„Blitzlichter auf ein Leben“

Gespräch mit Ilse Aichinger über ihr Buch „Film und Verhängnis“, ihre Begegnung mit Dr. Mengele, ihre Leidenschaft für das Kino sowie die Möglichkeit, darin zu verschwinden

Ilse Aichinger, die Grande Dame der österreichischen Literatur veröffentlichte nach 15-jährigem Schweigen 2001 ihr Buch „Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben“. Es handelt zu einem großen Teil vom Kino und von der Pop-Kultur – und erschien zu ihrem 80.Geburtstag. Mit Ilse Aichinger sprachen Richard Reichensperger und Uwe Wittstock.

Uwe Wittstock: Sie schreiben zurzeit an einem „Journal des Verschwindens“. Was ist am Verschwinden für Sie so wichtig? Ilse Aichinger: Verschwinden war mein erster Wunsch. Schon als ich kaum sprechen konnte. Ich habe immer wieder versucht, nicht zu atmen. Oder ich dachte, wenn ich die Augen schließe, bin ich weg. Das hat, wie man sieht, nicht funktioniert.
Wittstock: Aber andere, vor allem Schriftsteller versuchen, möglichst intensiv präsent zu sein, auch in der Öffentlichkeit.
Aichinger: Bei mir ist das anders. Meine Schwester und ich sind identische Zwillinge. Wir sind gewissermaßen Klone, Doppelexistenzen. Da wünscht man sich, gar keine Existenz zu sein, jedenfalls nicht auch noch doppelt. Wir sahen vorerst ganz gleich aus, haben noch immer die gleichen Stimmen. Immer wieder kam die Frage: Die eine oder die andere. Ich wollte dann schon lieber die andere sein, die eine keinesfalls. Und dann auch mein Vater, den wir mochten, der aber doch so eine Figur war wie der herumstreifende Vater bei Danilo Kis. Er kaufte zum Beispiel, ohne das Geld zu haben, immer Bücher, und zwar oft identische Ausgaben. Als ob identische Zwillinge noch nicht ausreichten. In jedem Buchladen, in den meine Mutter kam, wurden ihr die Schulden meines Vaters präsentiert. Meine Mutter musste sich in dieser Lage, sie war eine der frühesten Ärztinnen in Wien, scheiden lassen, um wenigstens ihr damals kleines, eigenes Gehalt für uns zu retten. Als Kind kommt man in dieser Lage schon auf die Idee, es sei besser, nicht da zu sein. Und dann, auf anderer Ebene, was die literarische Öffentlichkeit betrifft: Ich verstehe sie nicht. Ich fand Schreiben nie so wertvoll: schlechte Wörter, wie in einem späten Text, waren immer mein Ziel, das Zweitbeste, der Rand, die Peripherie, nicht schöne Sätze in schönen Journalen.
Richard Reichensperger: „Ich ist ein anderer“, meinte Rimbaud, und verschwand ziemlich schnell – zumindest aus der Welt der Literatur.
Aichinger: Aber mich haben immer nur andere „Ichs“ interessiert, nicht das eigene. Die vergessenen Gestalten am Rand, die armseligen Frauen, die in die Küche meiner Großmutter zu Besuch kamen. Und: Die Brutalität der Geschichte ist auch stärker als das „Ich“, metzelt es nieder. Aleksandar Tisma hat das sehr gut benannt, als „Der Gebrauch des Menschen“. Einem solchen Gebrauch waren wir früh ausgesetzt. Einer der autobiografischen Texte im Buch wird ein frühes und prägendes Erlebnis erzählen: Eines Tages, meine Schwester und ich waren neun Jahre alt, kam ein Arzt, um uns zu besuchen. Er bat meine Mutter, mit uns sprechen zu dürfen, da er Zwillingsforschung betreibe. Er stellte dann viele Fragen, aber meine Schwester und ich hatten Angst und haben ihm nicht viel gesagt. Er ging dann bald wieder, und wir fragten unsere Mutter: Wer war dieser Herr? Und sie sagte nur: „Dr. Mengele.“ Wir waren ihm sozusagen entronnen, weil die Nationalsozialisten, unter denen er eine große Karriere machte, noch nicht an der Macht waren. So wie bei ihm verläuft der Gebrauch des Menschen. <strong>
Wittstock: Sie und Ihre Mutter haben die Kriegsjahre hier in Wien überlebt.
Aichinger: Ich habe in diesen Jahren viel gelernt. Auch über die Stadt und die Menschen. In Berlin wurden die Juden nachts verhaftet und abtransportiert. In Wien wurde man am Tag geholt. Die meisten Wiener sahen ganz gern zu. Meine Schwester war mit einem der letzten Kindertransporte nach London gekommen. Diese Fügung war auch insofern glücklich, als dass meine Schwester und ich so zum ersten mal getrennt waren, sie in England, ich in Wien. So waren wir zum ersten Mal zwei verschiedene Personen. Aber das hat meinen Wunsch zu verschwinden, auch nicht zum Verschwinden gebracht. <strong>
Wittstock:  Was tun Sie, um zu verschwinden?
Aichinger: Ich gehe ins Kino. Oft komme ich zu spät. So bin ich gleich nicht da. Endlich ein Privileg. Der Ehrgeiz, wenigstens kurz nicht zu existieren, hat ein Ziel gefunden. Ich halte es noch immer für ein Privileg, nicht zu existieren. Ich gehe ins Kino, der Vorhang öffnet sich, der Film beginnt, und ich bin für zwei Stunden nicht mehr da. Ich bin verschwunden. Ich bin im Film.
Wittstock: Sie wollen Ihrem Journal des Verschwindens den Titel „Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben“ geben. Was ist das Verhängnisvolle am Film?
Aichinger:  Nicht am Film. Film ist für mich Glück. Film ist die Glücksmöglichkeit, die ich habe. Aber im Glück liegt immer auch das Verhängnis. Dem kann man nicht ausweichen, es ist die Verbindung mit der Biografie, in der ich auch Film erlebe. Es gibt kein Glück ohne Verhängnis: So liebte schon die jüngste Schwester meiner Mutter das Kino. Sie war Pianistin, aber immer, wenn sie nicht üben musste, ging sie ins Kino, in der Gegend Wiens, wo der Wind schon aus dem Osten herüberbläst. Sie hatte über die Musik schwedische Freunde und hätte 1939 noch nach Schweden fliehen können. Aber sie fürchtete Verkühlungen und noch mehr die schwedischen Kinos. Sie wollte Klavier spielen und ins Kino gehen, beides um jeden Preis. Der Preis war dann ihr Leben. Verhängnis kommt leicht ohne Glück aus, Glück kaum ohne Verhängnis. <strong>
Reichensperger: Schon in Ihrem Roman „Die größere Hoffnung“ (1947) schreiben Sie über die Kinoleidenschaft ihrer „Tante Sonja“ und auch in „Kleist Moos Fasane“ werden in der Küche der Großmutter immer die Kinoprogramme besprochen. Warum spielt Film in Ihrer Literatur eine so große Rolle?
Aichinger:  Weil der Film in meinem Leben eine so große Rolle spielt. Vielleicht braucht es solche tief in die Vergangenheit hinabreichende Wurzeln, damit eine Leidenschaft wirklich blühen kann. Ich bin sicher angesteckt worden durch die Kino-Verrücktheit meiner Tante. <strong>
Reichensperger: Schon in Ihrem Buch „Schlechte Wörter“ wollten Sie die Literatur verlassen. Und vor einigen Jahren sagten Sie: „Ich glaube schon, dass Kino ein stärkeres Medium als Literatur ist. Ich weiß nicht, ob die Jugend in der Literatur die Leitfiguren findet, die sie braucht. Eddie Constantine zum Beispiel hatte eine solche Komik und Gelassenheit, dass man von ihm, wenn man ihn öfter gesehen hat, Gelassenheit lernen konnte.“ Sie gehen hier auf die Jugend zu und empfehlen ihr Gelassenheit. Diese könne sie aber nur in anderen Medien lernen. Finden Sie Kino wirklich wichtiger als Literatur?
Aichinger:  Als die meinige sicherlich. Das Kino liefert mir Geschichte und andere Identitäten, wie sonst nur Literatur in der Qualität von Faulkner oder Claude Simon. Es geht mir bis heute so: Wenn man aus dem Kino kommt, braucht man erst einmal eine Weile um zu begreifen, dass man seine Identität gewechselt hat, dass man in einem Gangsterfilm war und nicht zum FBI gehört. Die Identifikationen, die das Kino zu schaffen vermag, sind ein großes Glück – auch wenn sie eine Fiktion sind. Deshalb ist mein Verhältnis zum Film so viel emotionaler als zur Literatur: Die Identifikation im Kino sind unbedingt oder gar nicht. Sie sind rasch und absurd, können zu Glück oder Unglück führen. Täglich kann ich über einen schlechten Film in Verzweiflung geraten. Solch schlechte Filme überzeugen mich dann weder von der Existenz noch der Nichtexistenz. Während, als die Beatles in „A Hard Day’s Night“ im letzten Herbst wieder in Wien auftauchten – da erinnerte ich mich an meine erste Reise nach England 1948, an den Staub dort, an das andere, befreite Licht nach dem Krieg.
Wittstock: Kaum jemand kann so genau Licht, Farben, Gerüche in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick beschreiben wie Sie in diesen Texten. Verdanken Sie das auch dem Sehen von Bildern im Kino? Und wie erfassen diese Bilder den geschichtlichen „Augenblick der Gefahr“, wie das Walter Benjamin nennt?
Aichinger: Ich war zum Beispiel im Kino, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Und am Ende des Krieges kam ich in ein Kino, da sprach mich die Kinokassiererin an: „Wenn sie wissen wollen, was mit ihren Verwandten geschehen ist, kommen sie dann und dann zu mir an die Kasse“. Meine Großmutter und die Geschwister meiner Mutter waren 1942 verhaftet und deportiert worden, und ich hoffte, erstmals hier an der Kinokasse eine Nachricht zu bekommen. Aber die Nachricht blieb aus: Als ich zum verabredeten Zeitpunkt zu ihr an die Kasse ging, sagte sie: „Ich glaube, es ist besser, Sie erfahren es nicht“. Aber vielleicht will ich es immer noch genauer erfahren. Ich will diesen Moment, diesen Riss in der Geschichte, den Augenblick der Gefahr, wo Vergangenheit in der Gegenwart aufspringt, sichtbar machen. Immer wieder.

Das Gespräch erschien in der „Welt“ vom 25. August 2001

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Die erste Geige will nicht mehr

Im Dezember lädt Marcel Reich-Ranicki zum letzten Literarischen Quartett 

Die Anekdote ist schon hundert mal erzählt worden: 1987 kam Johannes Willms, damals noch Leiter der Kulturredaktion Aspekte des ZDF, zu Marcel Reich-Ranicki und bat ihn um ein Konzept für eine regelmäßige Fernsehsendung, die der Literatur gewidmet sein sollte. Es brauchte nur Augenblicke, bis Reich-Ranicki entschlossen und – wie es seine Art ist – von seinem Entschluss auch nicht mehr abzubringen war. Seine Vorstellungen klangen einfach, ja allzu simpel: Vier Kritiker sollten vor den Kameras eine gute Stunde lang über literarische Neuerscheinungen diskutieren; einer dieser Kritiker solle er, Reich-Ranicki selbst, sein. Die Fernsehprofis des ZDF hätten sich, berichtete Willms später, köstlich über dieses karge Konzept amüsiert. Allenfalls eine mitternächtliche Radiodebatte könne man noch mit solch dürftigen Mitteln bestreiten – und im Grunde auch die nicht mehr, wenn man mindestens zwei Dutzend Hörer an den Geräten halten wolle. Reich-Ranickis Vorschlag sei so offensichtlich und vollständig fernsehuntauglich, eine „Totgeburt“, die wieder einmal beweise, wie wenig Verständnis Literaturliebhaber für moderne audiovisuelle Medien besäßen. Bekanntlich wurde aus dem damals wie im Vorübergehen entworfenen „Literarischen Quartett“ nach ihrem Start im März 1988 eine der erfolgreichsten, wenn nicht sogar die erfolgreichste Kultursendereihe in der deutschen Fernsehgeschichte. Jene Fernsehprofis, die so genau zu wissen glaubten, was die Zuschauer wollen und was nicht, hatten ihre Rechnung ohne Reich-Ranicki gemacht. Denn der verstand und versteht nicht nur etwas von Literatur und davon, wie man klar und lebendig über sie debattiert, sondern auch vom Entertainment und der Lust des Publikums an Temperamentsausbrüchen. Natürlich hat man Reich-Ranicki gerade deshalb für seine Sendung in den über 13 Jahren, in denen sie ausgestrahlt wurde, überaus heftig angegriffen. Denn hier zu Lande ist es zumal im Kulturbetrieb üblich, große Erfolge eher zu attackieren als zu analysieren. Was dieses Quartett betreibe, habe, behaupteten dessen Gegner, nichts mehr mit seriöser Literaturkritik zu tun – und zu ihrer Überraschung gab ihnen Reich-Ranicki recht: Der Platz der ernsten Kritik sei und bleibe die Rezension oder der Essay. Was er mit dem Literarischen Quartett auf dem Bildschirm wiederbeleben wolle, sei der literarische Salon, also das unbefangene Gespräch über Bücher und Schriftsteller, das mehr zur geistreichen Pointe neige als zur strengen Beweisführung, eher die effektvolle rhetorische Volte bevorzuge als die langatmige Interpretation. Vielleicht war das Quartett mit diesem Versuch sogar so etwas wie ein avantgardistisches Unternehmen. In einer Zeit wie der unseren, in der allgemeingültige ästhetische Kriterien immer schwerer zu formulieren sind und viele Kritiker, wenn sie ehrlich sind, zugeben müssen, dass sie sich ihrer Maßstäbe immer unsicherer werden, bot das Quartett dem Publikum zu jedem Buch immer gleich vier sich oft wiedersprechende Meinungen auf einmal an, aus denen jeder Zuschauer die ihn überzeugende auswählen konnte. In der klassischen Rezension dagegen wird dem Leser üblicherweise nur eine Ansicht dargelegt, die dann oft genug unterschwellig den Anspruch allein selig machender Weisheit erhebt. Trotz allem bleibt verblüffend, wie es dem Quartett 77 Sendungen lang gelingen konnte mit oft spröden literarischen Gesprächsthemen immer wieder eine halbe bis 1,5 Millionen Zuschauer vor den Bildschirm zu bannen. Mehr als alles andere dürfte dazu der Sinn Reich-Ranickis für die Show beigetragen haben, seine Lust an der vereinfachenden, aber witzigen Formulierung, seine ständige freudige Eruptionsbereitschaft, aber auch seine Neigung, die Spannungen unter den Mitgliedern zu schüren, um die Sendung für das Publikum zu emotionalisieren. Eine Strategie, der Sigrid Löffler schließlich zum Opfer fiel. Für den Buchmarkt haben die jährlichen sechs Termine des Quartetts eine ganz unvergleichliche Rolle gespielt. Schon vor den Sendungen türmten sich in vielen Buchhandlungen die Stapel der Romane, die zur Besprechung ausgewählt worden waren. Erfahrene Verleger versicherten glaubhaft, dass ein enthusiastisches Lob Reich-Ranickis allein die Auflage um 25 000 Exemplare anhob, das einhellige Lob aller vier Diskutanten um 40 000 bis 50 000 Exemplare. Das Quartett hat so in einem Literaturbetrieb, der oft genug in einem heillosen Stimmen- und Meinungsgewirr zu zerfasern droht, eine wichtige und für die Verlage ökonomisch mitunter entscheidende Rolle übernommen. Es wäre naiv zu glauben, Reich-Ranicki hätte die Macht, die ihm auf diese Weise zuwuchs, nicht in vollen Zügen genossen. Ob dem Philosophischen Quartett mit Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk, das ab Anfang 2002 am späten Sonntagabend an die Stelle des Literarischen Quartetts treten soll, ein vergleichbarer Einfluss gewinnen wird, steht dahin. Der Einfluss auf den Buchmarkt wird, das liegt beim höchst anspruchsvollen Thema Philosophie nahe, vermutlich geringer sein. Doch in unserer Gegenwart, in der immer mehr und mehr Menschen vergeblich um intellektuelle Orientierung ringen und sich in politischen, moralischen oder religiösen Fragen wie verloren vorkommen, könnte auch diese neue Sendereihe zu einer Institution werden. Gebraucht würde sie allemal.

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„Adler und Engel“

Juli Zeh hat den coolsten Roman der Saison über den heißesten Sommer Europas geschrieben

Um mit einem Superlativ zu beginnen: Es gibt wohl keinen anderen Roman der deutschen Literaturgeschichte, in dem die Hauptfigur so viel Kokain in so kurzer Zeit durch die Nase jagt wie in diesem. Der Großkokser heißt Max, wird von seinem amerikanischen Chef Mäx genannt und ist Jurist, spezialisiert auf Völkerrecht. Als Osteuropaexperte arbeitet er in Wien an den politischen Verträgen mit, die nach dem Willen der UNO die Völker des zerfallenden Jugoslawiens zu einem friedlichen Umgang miteinander zwingen sollen. Eine verantwortungsvolle Aufgabe, der Max trotz des vielen Nasenpuders verantwortungsvoll nachkommt. Aber dann sucht ihn ein Gespenst aus seiner Vergangenheit heim: eine schmächtige junge Frau namens Jessie, mit der er seinerzeit zur Schule ging. Sie war seither höchst erfolgreich im Kokainschmuggelbusiness tätig, weshalb bei Max nach ihrem Auftauchen kein Mangel mehr herrscht an Geld und Drogen. Dafür bringt Jessie einen Haufen anderer Probleme mit: Offenbar hat sie, als sie den Schmuggeldienst quittierte, ein paar ihrer fabelhaften Geschäftspartnern schmerzhaft auf die Füße getreten und ist nun mitunter recht beunruhigt, wenn dunkle Gestalten die Straße entlang auf ihr Haus zulaufen. Während Max sich noch fragt, ob nicht zumindest einige dieser Befürchtungen hysterischer Natur sein könnten, ruft ihn Jessie im Büro an und erschießt sich während des Gesprächs vor seinen Ohren. Wer will, kann „Adler und Engel“ als Kriminalroman lesen. Den größten Teil der Geschichte nehmen die freiwilligen und manchmal auch unfreiwilligen Versuche von Max ein, Licht in die illegale Vergangenheit der Toten zu bringen. Tatsächlich wirkt Max, der nach Jessies Selbstmord ziemlich gründlich von der Rolle ist und nur noch von Koks und schlechter Laune zu leben scheint, wie eine jugendliche deutsche Antwort auf der psychopathischen Schnüffler aus den Romanen Joseph Wambaughs. Und tatsächlich stößt Max am Ende des Buches auch auf einen überraschenden Zusammenhang zwischen seiner juristischen und Jessies krimineller Karriere. Doch etwas genauer betrachtet hat „Ader und Engel“ keinen ausgefeilten detektivischen Plot, in dem ein Handlungszahnrädchen bis hin zur finalen Aufklärung präzise in das andere greift. Vielmehr lebt der Roman der 27-jährigen Juli Zeh – Autorin und Juristin, spezialisiert auf Völkerrecht – von einer ungeheuer intensiven, dichten Stimmung. Um mit einem zweiten Superlativ fortzufahren: „Adler und Engel“ dürfte der mit Abstand coolste Roman der Saison sein. Wobei „cool“ eben nicht einen Mangel an Gefühl bezeichnet, sondern die kühle Oberfläche, die sich einstellt, wenn verletzte Gefühle ängstlich vor anderen verborgen werden. Juli Zeh hat ein enormes Talent für die Darstellung unterdrückter Emotionen, für Bilder aus einer zutiefst heillosen Welt, in der die Menschen mit eisigem Grimm den seltsamsten Bedrohungen und Aggressionen trotzen müssen. Da ist zum Beispiel Clara, die Radiomoderatorin, die Max während der Wochen nach Jessies Tod begleitet. Aber nicht um ihm tröstend das Händchen zu halten, sondern um für eine wissenschaftliche Arbeit Details über die Kokainbranche und seine Drogenlaufbahn aus ihm herauszufragen. Max ist unwillig und störrisch, behandelt Clara schlecht, schlägt sie, quält sie und päppelt sie dann mit einer Messerspitze Koks wieder auf. Doch eine wirkliche Annäherung zwischen den beiden, gar ein Happy End ist nie in Sicht. Gefühle sind für die zwei viel zu wertvoll, gefährdet und schützenswert, als dass man sie in andere Menschen investieren sollte. Sie wahren lieber Abstand, egal wie nahe sie sich kommen. Um mit einem Superlativ zu schließen: In „Adler und Engel“ liegt über Europa ein Sommer, der heißer ist als jeder Sommer, der diesen Kontinent je heimgesucht hat. Alles glüht, alles kocht, das Licht lodert, die Menschen schwitzen und verdorren, und jeder körperliche Kontakt wird schon aus Gründen der Temperatur zu einer Marter. Also bleiben alle Leute erst recht auf Distanz und sehnen sich nach immer größerer Kälte. Wie Juli Zeh es versteht, allein schon durch diesen klimatischen Kunstgriff ihre Geschichte atmosphärisch aufzulanden, ist bestechend. Sie ist eine literarische Stimmungsmacherin von Graden.

Juli Zeh: „Adler und Engel“. Roman Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2001 445 S., 46,00 Mark.

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Der Hundekrieg im Augarten

Wolf Haas schreibt die komischsten und geistreichsten Kriminalromane. Und sein Held heißt Brenner

Wolf Haas ist ein Poet. Wolf Haas schreibt Kriminalromane. Entgegen landläufiger literarischer Vorurteile stehen diese beiden Behauptungen in keinerlei Widerspruch zueinander. Wolf Haas schreibt zurzeit die eigenwilligsten und zugleich komischsten Krimis des deutschen Sprachraums. Seine Bücher haben aber keinen reißerischen Plot und prunken auch nicht mit haarsträubenden Recherchen über Polit-, Wissenschafts- oder Wirtschafts-Mafiosi. Sie sind weder kühl abgezirkelte Gedankenspiele der Tätersuche noch als Kriminalstory verbrämte Sozialreportagen über finstere Seiten unserer Gesellschaft. Haas‘ Romane verführen ihre Leser vielmehr durch die lustvolle Wortakrobatik ihres Autors. Nicht nur prächtige Verbrechen hat er für seine Geschichten erfunden, nicht nur eine originelle Detektivfigur, sondern vor allem – wie sich das für einen veritablen Poeten gehört – eine noch nie gehörte, ausdrucksvolle, lebendige Sprache. Sein Held, der jetzt im fünften Jahr seiner literarischen Existenz seinen fünften Fall löst, heißt Simon Brenner. Nichts an ihm entspricht dem Idealbild des gewitzten, lässigen Schnüfflers. Brenner ist ein 50-jähriger österreichischer Dickschädel, maulfaul, begriffsstutzig, von Migräne geplagt, und sein größter Traum ist es, möglichst bald in Frührente zu gehen. Für fein gesponnene Wirtschaftsverbrechen oder diskrete Nachforschungen wäre Brenner unzweifelhaft der falsche Mann. Aber für die oft so bizarren Untaten seiner Landsleute, denen gern eine Neigung zum gemütvoll Makabren nachgesagt wird, ist er mit seiner ebenso bizarren Fantasie und Sturheit genau der Richtige. Ob zwei amerikanische Touristen auf einem abgestellten Skilift erfrieren („Auferstehung der Toten“); ob in einer gigantischen steirischen Grillstation unter Bergen von abgenagten Hühnerknochen auch Teile eines menschlichen Skeletts auftauchen („Der Knochenmann“); ob sich Wiener Krankenhausfahrer, statt Patienten zu fahren, vor allem untereinander bekriegen („Komm, süßer Tod“); oder ob in einem Salzburger Knabeninternat die fein zerstückelte und in Plastiktüten verpackte Leiche eines Schülers auftaucht („Silentium“) – für alle Fälle, an denen die gewöhnliche menschliche Vernunft zu verzweifeln droht, ist Brenner die letzte Hoffnung. Doch nicht der schweigsame Brenner selbst erstattet den Lesern Bericht von seinen windschiefen Abenteuern. Wolf Haas hat vielmehr einen namenlosen Schwätzer erfunden, der, als würde er in einem Beisl neben einem sitzen, mit nie versiegendem Wortschwall von Brenners Fällen erzählt – und mit scheinbar lebensweisen Kommentaren versieht, die an Bösartigkeit und Engstirnigkeit absolut nichts mehr zu wünschen übrig lassen. Haas vermengt so die angebliche Mentalität seiner Landsleute und den österreichischen Tonfall zu einer kunstvollen satirischen Prosa, die ebenso amüsant wie geistreich ist. In seinem neuen Roman ist es ein Park, der Wiener Augarten, um den so etwas wie ein Bürgerkrieg zwischen Hundebesitzern und Eltern mit Kindern tobt. Ein rabiater Tierhasser verstreut tödliche Hundekuchen, ein Argentino („Zweikommafünfmal so starke Gebissmuskeln wie ein Rottweiler“) zerfleischt am hellerlichten Tag eine Spenden sammelnde Tierschützerin, der in Wirtschaftswissenschaften dilettierende Chef eines Swingerklubs engagiert einen Detektiv, der sich von Wiener Amtsärzten ein größeres Verständnis für seine Pensionierungswünsche erhofft – das sind die Zutaten des aktuellen Brenner-Falles. Eine zentrale Rolle spielt zudem der „Flakturm, den sie da im Krieg mitten in den Augarten hineingestellt haben. Ein fast fünfzig Meter hoher Betonbunker mitten in der grünen Seele der Stadt, das sieht schon ein bisschen aus, als wäre ein schwarzes, fensterloses Hochhaus direkt aus der Hölle in den Augarten hineingefahren, quasi seelisches Problem.“ Da sage noch einer, man könne in Krimis keine zeithistorischen oder sozialpsychologische Metaphern unterbringen. P. S. Für alle, die zu ihrem eigenen Nachteil die Romane von Wolf Haas noch nicht gelesen haben: Es ist ratsam, die Brenner-Fälle der Reihe nach kennen zu lernen. Also mit „Auferstehung der Toten“ und „Knochenmann“ zu beginnen, um dann das Vergnügen über „Komm, lieber Tod“ bis hin zu „Silentium!“ genussvoll zu steigern. Die ersten, etwas schrilleren und schnelleren Bände machen auf den leicht elegischen, nachdenklichen Ton des jüngsten Bandes „Wie die Tiere“ erst recht neugierig: „Vielleicht haben die Leute deshalb so gern Hunde um sich, damit sie ihnen in die Leere und Stille und in die schlechten Vorahnungen ein bisschen hineinbellen.“

Wolf Haas: „Wie die Tiere“. Roman Rowohlt Verlag, Reinbek 2001 217 S., 34,90 Mark.

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„Die Unsichtbare“

Ein Gespräch mit Christoph Ransmayr über sein erstes Stück, das Lob des Kinos als theatralischen Akt, zwei Postkarten an Kirsten Dene und die Nähe von Komik und Tragik sowie eine antike Königin
Christoph Ransmayr hat sich mit drei Romanen internationales Renommee erschieben: mit „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ (1984), „Die letzte Welt“ (1988) und „Morbus Kitahara“ (1995). Im Rahmen der Salzburger Festspiele wurde 2001 sein erstes Theaterstück „Die Unsichtbare“ uraufgeführt. Die Hauptrolle spielte Kirsten Dene, Regie führte Claus Peymann. Mit Christoph Ransmayr sprach Uwe Wittstock

Uwe Wittstock: Sie sind ein in über 20 Sprachen übersetzter Romancier. War es ein Wagnis, das erste Theaterstück zu schreiben?
Christoph Ransmayr: Für einen Erzähler ist jeder Versuch riskant, etwas zur Sprache zu bringen und zur Geschichte zu machen. Aber Roman und Stück sind nicht so verschieden, wie es zunächst scheint. Erzählen ist für mich auch in dieser Hinsicht unteilbar. Auch in diesem Stück erzählt ja Frau Stern, die Unsichtbare, eine Souffleuse, ihre Geschichte, und erst indem sie von Figuren ihrer Erinnerung, ihrer Zuneigung oder ihres Hasses spricht, werden diese Gestalten lebendig und erscheinen sogar auf der Bühne. Sie erzählt ihre Gestalten sozusagen ins Leben. Und diese Verwandlung geschieht eher im Tonfall der Prosa als in dramatischen Dialogen. Die Grundfrage bleibt doch, ob einer erfundenen, erzählten Figur zu einer Art von Wirklichkeit verholfen werden kann und ob Gestalten innerhalb einer Geschichte für Zuhörer, Zuschauer oder Leser plausibel werden, glaubwürdig. Denn gleichgültig wie irreal, anachronistisch oder phantastisch die Dinge sind, die ein Erzähler seinen Figuren zumutet – wenn sie innerhalb eines Erzählraumes, den er allein bestimmt, plausibel erscheinen, dann ist nicht nur jeder Lebenslauf und jedes Schicksal, dann ist alles möglich… Wittstock: Gab es für Sie wirklich keine Unterschiede zwischen dem Schreiben an einem Roman oder an einem Theaterstück? Ransmayr: Eigentlich nicht, zunächst einmal. Aber dann habe ich mit Erleichterung doch Unterschiede festgestellt. Als Verfasser eines Romans ist man bei der Arbeit mit seinen Figuren vom ersten bis zum letzten Satz, bis zum letzten Wort, allein. Bei einer Theaterarbeit dagegen steht man als Autor in einer langen Reihe mit jenen, die der Figur auf der Bühne zum Leben verhelfen. Natürlich schafft der Autor ein möglichst geschlossenes Erzählsystem, aber bis seine Gestalten dann wirklich auf der Bühne erscheinen, hat sich die Geschichte von ihm schon wieder entfernt, wurde sie von Schauspielern, Dramaturgen, Regisseur sozusagen weiter überliefert, verwandelt. Der Autor, der am Anfang stand, ist bei diesem Stand der Dinge schon wieder etwas geschrumpft, fast unsichtbar geworden, kann sich längst anderen Geschichten zuwenden, während für die Premiere seines Stücks noch geprobt wird.
Wittstock: War von Anfang an klar, dass Claus Peymann Ihr Stück inszenieren würde mit Kirsten Dene in der Titelrolle?
Ransmayr: Bevor es den ersten Satz des Stückes gab, standen Hauptdarstellerin und Regisseur insofern fest, als ich Peymann in verschiedenen Gesprächen im Verlauf von Jahren versprochen habe, ihm und Dene das Stück anzubieten, falls ich je eines schreiben würde. Allerdings habe ich dazugesagt, dass ich – wenn überhaupt – stets lieber als Zuschauer ins Theater wollte, nicht als Autor. Ich habe auch jetzt keinerlei Ambitionen, zum Dramatiker zu werden; wir sprechen über Die Unsichtbare ja als dem Ergebnis einer Exkursion, eines mehr oder weniger exotischen Ausflugs. Was meinen Theaterbesuch als Autor anbelangt, wäre es wohl für immer bei der bloßen, manchmal durchaus verlockenden Möglichkeit geblieben, wenn es nicht die glückliche Erfahrung im vergangenen Jahr gegeben hätte, als ich nach Elfriede Jelinek und Hans Magnus Enzensberger die Einladung angenommen hatte, bei den Salzburger Festspielen „Dichter zu Gast“ zu sein und dort unter dem Titel Unterwegs nach Babylon an sieben Tagen sieben Spielformen des Erzählens vorführen konnte – vom Schweigen, Lesen und bloßen Zuhören über die mündliche Überlieferung, zum Bericht, zur Prosa, von der Prosa zur Lyrik, von dort zum Film, dramatischen Monolog, Fernschreiben und Dokument bis zur Musik und zurück in die Stille. In Salzburg habe ich die Zusammenarbeit mit den vielen leidenschaftlichen Theaterleuten und auch den Technikern, die geholfen haben, eine fast größenwahnsinnige Unternehmung innerhalb einer Woche aufzuführen, als etwas Bewegendes und Beglückendes erlebt. Wittstock: Sie haben „Die Unsichtbare“ also in einem knappen halben Jahr geschrieben? Ransmayr: Ich habe im Herbst 2000 damit begonnen. Die Arbeit ging für meine Verhältnisse geradezu fliegend voran, ich kenne beim Schreiben ansonsten ja leider nur das Tempo der äußersten Langsamkeit. Hauptfigur und Grundverlauf des Stückes waren mir allerdings schon lange vertraut – wenn auch nur als spielerische Idee, windige Sache in den Gesprächen mit Peymann, nicht als Projekt, das tatsächlich irgendwann einmal auf eine Bühne kommen sollte. Fest stand aber, dass die Dynamik des Stückes über die Verfluchung des Theaters zunächst von der Bühne weg und hin zu scheinbar zeitgemäßeren Formen der Darstellung des Menschenmöglichen führen sollte, zum Kino beispielsweise. Fest stand aber auch, dass die Verfluchung des Theaters und das Lob des Kinos ein theatralischer Akt sein sollte, an dessen Ende das Theater lebendiger und überzeugender als zuvor erscheinen musste. Nach meinen Erfahrungen als „Dichter zu Gast“ wurde jedenfalls die Vorstellung immer verführerischer, Die Unsichtbare tatsächlich zu schreiben. Ich kann nicht mehr genau sagen, aus welcher Richtung der besondere Rückenwind kam, der für mich bei dieser Arbeit spürbar war, aber ich glaube, es hat damit zu tun, dass ich zumindest für einen kurzen Arbeitsabschnitt im Rahmen einer Geschichte nicht mehr ganz allein mit mir selber war.
Wittstock: War Peymann und Dene vorher klar, dass Sie eine solch vehemente Verfluchung des Theaters schreiben würden?
Ransmayr: Das weiß ich nicht. Ich habe mit Kirsten Dene nicht mehr gesprochen, seit ich das Stück in Salzburg und Berlin abgeliefert habe. Ich bin damit nicht nur einem Wunsch Peymanns gefolgt, der meinte, ich sollte mich um Himmels willen von Proben und Schauspielern fernhalten. Meine Arbeit ist getan. Was damit geschieht, in jenem babylonischen Prozess, in dem Menschen eine Geschichte zu ihrer eigenen oder zum Gegen stand der Darstellung oder Überlieferung machen, das will und kann ich nicht kontrollieren. Ich habe Kirsten Dene zwei Ansichtskarten geschrieben, eine aus Brasilien, eine aus Irland, beide voller Mitgefühl, weil ich mir vorstellen konnte, welche ungeheuerliche Arbeit es sein musste, einen so umfangreichen, monologischen Text zu lernen, eine Wahnsinnsarbeit. Aber wie ich aus der Ferne gehört habe, ging und geht es ihr gut bei dieser Arbeit, und darüber bin ich froh. Wittstock: Klingt nach romantischer Ironie: ein Theaterstück, in dem das Theater verflucht wird. Ransmayr: Aber je glaubwürdiger die Verfluchung des Theaters auf der Bühne wird, umso glaubwürdiger wird ja das Theater selber und umso plausibler auch die Behauptung, Theater sei etwas Notwendiges, etwas, das mit unserem Bedürfnis zu tun hat, uns selber oder das, wozu wir imstande sind, darzustellen, zu begreifen – und vielleicht sogar erträglich zu machen.
Wittstock: „Die Unsichtbare“ ist ein sehr komisches Stück geworden, ein komisches Stück vor düsterem Hintergrund.
Ransmayr: Das Stück ist keine reine Komödie. Aber da wo es komisch wird, ergibt sich das nicht – oder hoffentlich nicht – als unfreiwilliger Nebeneffekt, sondern aus dem Text. Wenn man Gesprächen wirklich zuhört, irgendwo, in irgendeiner Bar, auf einem Bahnhof oder Flughafen, an einem beliebigen öffentlichen Ort, merkt man schnell, wie nahe sich Komik und Tragik kommen, in welcher unglaublich dichten Aufeinanderfolge das Komische, das Tragische, das Verzweifelte in einer einzigen Stunde, in einem einzigen Gespräch erscheinen können. Wittstock: Die Begeisterung der Unsichtbaren für das Kino, geht so weit, dass sie eine Filmszene auf der Bühne spielt – was nichts anderes ist als Theater. Ransmayr: Und sie spielt in dieser Szene eine geradezu archaische Theaterrolle, eine antike Königin. Das könnte das Ergebnis einer längeren Konstruktionsarbeit sein; war es aber nicht. Wenn als Paradigma der erzählerischen Arbeit gilt, mute deinen Figuren niemals Dinge zu, zu denen sie vor ihrem Horizont, innerhalb ihrer Geschichte, nicht imstande sind, dann braucht es solche Konstruktionsarbeit überhaupt nicht. Die Dinge ergeben sich so zwar noch immer nicht von alleine, aber notwendigerweise. Einer Hauptfigur, die früher einmal Bibliothekarin war, darf man ruhig glauben, dass sie von den großen Bibliotheken der Antike schwärmt. Auch die Verwandtschaft zwischen einer Bibliothekarin und einer Souffleuse, die beide im verborgenen Bücher, Texte lesen und gelegentlich flüstern, ist für mich offenkundig. Wenn man die Struktur eines Charakters festgelegt hat, beginnen Figuren verblüffend schnell selbst zu sprechen – und auch vom weiteren Verlauf der Handlung etwas zu fordern.
Wittstock: Mussten Sie sich stilistisch umstellen, weil „Die Unsichtbare“ kein Roman, sondern ein Stück werden sollte?
Ransmayr: Das war keine stilistische Frage. Mir war immer klar, dass man die Menschen, die dieses Stück auf die Bühne bringen sollen, nur unterstützen kann, indem man sich nicht auf ihre Virtuosität verlässt, sondern indem man ein funktionierendes erzählerisches System schafft. Auch die wunderbarste Schauspielerin wird ihre Möglichkeiten am ehesten dort entfalten, wo die Geschichte, die sie darstellen soll, auch in sich funktioniert und sie den Zusammenhang nicht erst selber stiften muss. Mein Anspruch war, bis hin zu einzelnen Bildern, zu Anweisungen für Regie, Bühnenbild und Schauspieler eine lesbare, anschauliche Geschichte zu schreiben. Was ein Regisseur dann daraus macht, was er streicht oder unterstreicht, liegt in seiner Verantwortung. Das kann und will ich ebenso wenig kontrollieren, wie das Schicksal, das einem Roman im Verständnis und Kopf eines Lesers beschieden ist. Wittstock: Ihr Stück endet mit einer Anspielung auf einen großen Kinofilm. Die Heldin gibt das Textbuch, das sie suchte, verloren und nimmt selbst dessen Platz ein, denn sie hat das Buch bei ihrer Arbeit als Souffleuse auswendig gelernt und ist nun selbst zum Buch geworden – wie all die Figuren in Truffauts Fahrenheit 451. Ransmayr: Wenn man von Büchern spricht oder schreibt, von all dem, was in der Erinnerung und Sprache der Menschen zu Geschichten geworden ist, dann streift man zumindest inhaltlich und manchmal vielleicht auch formal unwillkürlich alle Arbeiten, die sich je mit diesem Thema beschäftigt haben. Natürlich steht jede neue Geschichte über Bücher und über das Drama der Überlieferung auf unterschiedlichsten Ebenen in Beziehung zu allen vorangegangen. Aber solche Beziehungen konstruiert man nicht, die ergeben sich so selbstverständlich wie alle anderen Verwandtschaften zwischen dem, was war und dem, was ist oder uns noch blühen kann.

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Der Dichter als Frauenheld

Leon de Winters Roman „Leo Kaplan“ ist schrill, komisch, ein wenig chaotisch und rätselhaft – wie das Leben

Sie lieben Wundertüten? Dann ist Leon de Winters Roman „Leo Kaplan“ genau das richtige für Sie. Ein Buch, angefüllt bis zum Rand mit Überraschungen und Scherzartikeln, ein wenig chaotisch und gelegentlich ein bisschen trivial. Andererseits aber auch ein Buch voller verlockender Einblicke, voller Vexierbilder, Weisheitszettelchen und geheimnisvoller kleiner Gaben. Eine Wundertüte eben, schrill, verblüffend und rätselhaft. Ganz oben auf in dieser Tüte liegt eine Liebesgeschichte. Der gutaussehende, knapp vierzigjährige Schriftsteller Leo Kaplan hat Erfolg bei den Frauen. Genauer: Er hat sehr viel Erfolg bei sehr vielen Frauen. Doch das unentwegte Hin und Her zwischen seinen diversen Bettgefährtinnen (junge und reifere, abgebrühte und bis über beide Ohren verliebte, gerade frisch eroberte und seit Jahren mit ihm verheiratete) macht ihn nicht glücklich. Denn Kaplan ist mit einem nicht ganz unbekannten Leiden geschlagen: Egal mit welcher Frau er zusammen ist, er sehnt sich immer nach einer anderen. Seine zweite Scheidung und den näherrückenden vierzigsten Geburtstag vor Augen geht er mit sich ins Gericht. Er will endlich ergründen, was es ist, das ihn so unstet und ruhelos macht. Da trifft es sich vorzüglich, dass er in Kairo zufällig seiner ersten großen Liebe wiederbegegnet: Ellen, die er vor fast zwanzig Jahren abrupt verließ, nachdem sie ihm sagte, sie habe das gemeinsame Kind abtreiben lassen. Was liegt für Kaplan näher, als sich einzureden, er habe nach jener traumatischen Trennung bei all den anderen Frauen immer etwas gesucht, das ihm nur diese erste geben konnte. Hier, in dieser ebenso verzweifelten wie komischen und abenteuerlichen Suche Kaplans nach seinem wahren Liebes-Ich, hat der Roman seine Höhepunkte, aber auch seine Tiefpunkte. Hinreißend, wie Leon de Winter seinen Helden alle Höllen der Selbstvorwürfe über die eigene sexuelle Unbeständigkeit durchleiden und ihn zugleich in immer neue Affären hineintaumeln lässt. Geradezu altmeisterlich gekonnt, wie er es versteht, in etliche Liebesepisoden immer wieder dunkel drohend das Todesmotiv einzuweben, wie er also das größte denkbare Glück mit der größten denkbaren Katastrophe kontrastiert. Daneben aber leistet sich de Winter geradezu mutwillige Ausflüge in den Kitsch und ins Klischee: Die große Aussprache zwischen den Liebenden im malerischen Restaurant am Ufer eines südlichen Bergsees komplett mit aufziehendem Gewitter ist allzu melodramatisch geraten. Auch die Gründe für die lang zurückliegende Trennung der beiden werden nie wirklich plausibel. Denn Ellen hat das gemeinsame Kind gar nicht abtreiben lassen, sondern Kaplan mit dieser Nachricht nur schockieren wollen. Als der sie daraufhin Hals über Kopf verließ, heiratete sie einen anderen und begrub ihre Lebenslüge für immer in ihrem Herzen. Derartige Plots findet man sonst in Romanen, die im Zeitungskiosk in Heftchenformat angeboten werden. Aber so ist das eben mit Wundertüten, Brauchbares und Schnulziges, echte Überraschungen und magenbedrohliches Zuckerzeug liegen darin wie selbstverständlich beieinander. „Leo Kaplan“ erschien in den Niederlanden schon 1986. De Winter war damals 32 Jahre alt und bezeichnet das Buch heute als Frühwerk. Offenbar legte er seinerzeit nicht immer auf Glaubwürdigkeit den größten Wert, sondern eher auf hohe emotionale Intensität. Das muss man dem Roman denn auch lassen: Selbst wenn ein paar Szenen ziemlich leichtgewichtig geraten sind, ist es schwer, sich von diesem Roman loszureißen. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil der Roman, neben der Liebesgeschichte Kaplans noch etliche andere Handlungsstränge, Intermezzi und Abschweifungen enthält, die sich kaum ins traditionelle Erzählschema fügen. Sie sind die Knallbonbons und das Tischfeuerwerk in dieser Wundertüte. Da werden nicht nur die journalistische Gelegenheitsarbeiten von Leo Kaplan erwähnt, sondern auch ein Leitartikel von ihm samt mehrerer Leserbriefe abgedruckt. Da wird den Lebensstationen einer Tischdecke nachgezeichnet und die Schicksale der Händler aufgeblättert, durch deren Hände sie ging. Da wird von der Ermordung eines Gorillas durch die Frau eines Zoodirektors berichtet und von einem erfolgreichen Unternehmer und Serienmörder in Florenz. Ja, da kommen selbst ein Literaturkritiker mit einem Essay über Harry Mulisch und ein Hund mit seinen Ansichten über die Menschenseele zu Wort. Das alles zu einem lesbaren Bündel zusammenzubinden ist ein schriftstellerisches Kunststück. Souverän jongliert de Winter mit parodistischen, burlesken, phantastischen, elegischen oder auch drastisch realistischen Elementen. Hier macht er einen Abstecher zum Kriminalroman, da einen zur Sozialreportage, hier baut er eine Erzählung Kaplans ein, die alle Marotten postmodernen Erzählens zeigt, da ein allegorisches Liebesdrama zwischen drei Hochseilartisten. Bewundernswert, dass de Winter trotz all dieser wüsten Sprüngen seine Leser nicht verliert, sondern, im Gegenteil, meist bestens zu unterhalten versteht. Im Grunde ist „Leo Kaplan“ ein anschauliches Beispiel dafür, wie unangemessen und grobschlächtig viele literaturwissenschaftliche Termini oder Einteilungen sind. Wer will, kann den Roman als eine nahezu klassische Love-Story, als ein weiteres literarisches Exempel für den üblichen psychologischen Realismus beschreiben. Doch mit gleichem Recht könnte man das Buch auch als einen Versuch bezeichnen, aus eben dieser gewohnten Darstellungstechnik auszubrechen und eine aufgesplitterte Erzählweise zu erproben, die den Lesern zugleich die Konstruiertheit allen Erzählens bewusst machen soll. Ein Glückskind, wer zu solch enthemmtem Begriffsgefuchtel nicht verpflichtet fühlt und sich zu aller erst an de Winters manchmal graziösen, manchmal derben Verrücktheiten einfach freuen kann. Wie viele Möglichkeiten es gibt, auch mit ganz traditionellen Erzählmethoden die Bedürfnisse der Leser zugleich zu erfüllen und zu unterlaufen, demonstriert Leon de Winter wie nebenher an Kaplans Problem mit den Frauen: Die Frage nämlich weshalb er sich immer nach einer anderen sehnt, egal mit welcher er gerade Tisch oder Bett teilt, wird den Lesern zwar beantwortet – allerdings in jedem Kapitel ein wenig anders. Mal braucht Kaplan seine Seitensprünge, um sich nach jedem nicht nur aus Gewohnheit, sondern aus freien Stücken wieder für seine Frau entscheiden zu können. Mal sucht er bei all den anderen Frauen, was ihm nur die endgültig verlorene Ellen geben könnte. Mal ist er schlicht ein haltloser Charakter, eine „Krokodilsseele“, mal ein glaubensloser Jude, der mit seiner Religion jeden Halt in der Welt verloren hat. Welche von den zahlreichen Antworten die richtige ist und ob es überhaupt eine richtige gibt, das muss jeder selbst entscheiden. Wie im Leben.

Leon de Winter: „Leo Kaplan“. Roman Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers Diogenes Verlag, Zürich 2001 542 S., 46,90 Mark.

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„Die Unwissenheit“

Milan Kundera und das besondere Glück, das vielleicht nur die Literatur bereit hält
Ein Zauberer, Milan Kundera ist tatsächlich ein Zauberer. Wie der sagenhafte König Midas alles, was er berührte, zu Gold verwandelte, so kann Kundera, dieser König der Prosa, offenbar aus jedem beliebigen Stoff funkelnde literarische Kostbarkeiten machen. In seinem neuen, wunderbaren Roman “Die Unwissenheit” etwa verblüfft er seine Leser mit kleinen Exkursen zum Streit zwischen Arnold Schönberg und Igor Strawinsky, zur Geschichte Böhmens im 20. Jahrhundert, zu den Grenzen der Gedächtniskapazität oder zu Jonas Hallgrímsson, dem Romantiker, Säufer und Kämpfer für die Unabhängigkeit Islands – über nicht eben geläufige oder gefällige Gegenstände also. Doch seltsam, sobald Kundera seine genaue und doch immer graziöse Schreibhand an diese Themen legt, verwandeln sie sich und geben dem Leser hinreißende erzählerische Goldnuggets preis. Wenn Kundera heute beschlösse, eine zweihundertseitige Bedienungsanleitung für einen Toaster zu schreiben, ich bin mir sicher, er würde ein gutes Buch daraus machen, klug, amüsant und hochpoetisch. Ja, poetisch, ich bin überzeugt, Kundera würde für uns die Poesie der Toaster entdecken, und wir würden, nachdem wir sein Buch gelesen hätten, bis zum Ende unserer Tage alle Toaster mit anderen Augen betrachten. Das nämlich können große Schriftsteller: Sie können die flüchtigen, halb empfundenen, halb beiseite gedrängten Gefühle, die uns von Zeit zu Zeit beschleichen, in einem Buch so deutlich hervortreten zu lassen, dass sie für uns endlich klar wahrnehmbar und unvergesslich werden. Literatur verändert wohl kaum je die Welt, aber sie hilft, die Empfindungen zu formen, mit denen Leser der Welt gegenübertreten. Es brauchte große Künstler, merkte einmal Oscar Wilde an, um die Poesie des Nebels zu entdecken, der im Herbst durch Großstadtstraßen zieht, die Laternen umhüllt und die Häuser zu ungeheuerlichen Schatten wachsen lässt. Doch nachdem die Künstler die Zartheit dieser Schleier in Bildern und Büchern eingefangen hatten, waren immer mehr Menschen fähig, ihre Poesie zu empfinden. In der “Unwissenheit” misst sich Kundera kühn mit einem der größten gefühlsprägenden Schriftsteller aller Zeiten – mit Homer. Denn Homer hat, so sieht es Kundera, mit der “Odyssee”, der zehnjährigen Heimfahrt des Odysseus nach Ithaka, “das Gründungsepos der Nostalgie” geschrieben. Er hat damit unserer Sehnsucht nach Rückkehr eine so suggestive literarische Gestalt gegeben, dass wir dieser Empfindung bis heute höchste, oft ultimative Bedeutung einräumen. Sieben Jahre verbrachte Odysseus auf seiner Heimreise in Liebe und Luxus mit der schönen Calypso, weit mehr Zeit als er mit Penelope, seiner Frau in Ithaka verbrachte. Aber dennoch entschied er sich heimzufahren. “Da kann man nichts machen”, schreibt Kundera, “Homer verherrlichte die Nostalgie mit einem Lorbeerkranz und legte so eine moralische Hierarchie der Gefühle fest. An deren Spitze steht Penelope, hoch über Calypso.” Der Odysseus in Kuderas Roman ist eine Frau und heißt Irena. Sie ist Tschechin und hat (wie Kundera) ihre Heimat verlassen, nachdem sowjetische Truppen das Land 1968 besetzten. Sie ließ sich (wie Kundera) in Paris nieder, hat dort ihre Kinder großgezogen, gearbeitet, einen Geliebten gefunden, kurz: ihr Leben gelebt, und sieht sich dennoch (wie Kundera) nach 1989 mit der ziemlich unverblümten Erwartung ihrer französischen Freunde konfrontiert, sie möge in ihr Ithaka, in das Land ihrer Herkunft zurückkehren. Irenas Schicksal ist keine Seltenheit. Seit der Französischen Revolution, erinnert uns Kundera, zogen endlose Ströme politischer Emigranten durch Europa, die in ihrer Heimat wie Deserteure geächtet und gezwungen waren, sich in der Fremde neue Existenzen aufzubauen. Kein Wunder, dass die Nostalgie, dass das Leiden an dem unerfüllbaren Wunsch nach Rückkehr, seither im kollektiven Bewusstsein eine immer größere Bedeutung gewann. Aber: Beruht diese Empfindung, so fragt der Roman “Die Unwissenheit”, nicht letztlich nur auf der Unwissenheit der Emigranten darüber, wie sehr sich ihre unerreichbare Heimat in ihrer Abwesenheit verändert? Auf der Unwissenheit der Emigranten darüber, wie sehr sie sich selbst durch die Emigration verändern? Kundera, der große Skeptiker und Psychologe, führt uns in seinem Roman vor, dass es eine tatsächlich versöhnende Rückkehr, wie sie Homer seinem Odysseus noch gönnte, nicht mehr gibt. Dass es sie vielleicht nie gegeben hat, dass sie vielleicht nichts anderes ist als die Erfindung eines genialen antiken Dichters. Irena, Kunderas Odysseus, wird auf ihrer ersten Rückreise nach Prag mit lauter alten Freundinnen und Bekannten konfrontiert, die sie zwar willkommen heißen – aber eben als jene Irena, die sie kannten, bevor sie emigrierte, und die sich für den Menschen, zu dem Irena in Frankreich wurde, nicht im Geringsten interessieren. Irena empfindet ähnlich: Sie sucht in den Gesichtern nach den Gefährtinnen von einst, ist enttäuscht über die Zeichen der Alterung und fühlt sich gelangweilt, sobald man ihr von den Jahren in der Tschecheslowakei erzählt, die sie selbst nicht miterlebte. Josef geht es ebenso. Er ist, wie Irena, ein tschechischer Emigrant. Die beiden begegnen sich zufällig auf einem Pariser Flughafen, und Irena glaubt, in ihm einen alten Flirt aus Jugendtagen wiederzuerkennen. Auch Josef trifft bei seinen tschechischen Angehörigen, die er zum ersten Mal nach zwanzig Jahren wiedersieht, nur auf Unverständnis und unbeglichene Rechnungen. Auch er ist im Grunde nicht bereit oder fähig, sich in das Schicksal der Daheimgebliebenen, in ihre krummen, von bizarren politischen Verhältnissen verbogenen Lebensläufe einzufühlen. So macht, zeigt Kunderas “Unwissenheit”, eine längere Trennung Fremde aus uns allen. Das wenige, was die Menschen tatsächlich verbinden kann, ist in Kunderas Augen derart fragil und pflegebedürftig, dass es einen so radikalen Bruch wie das jahrzehntelange Exil nie und nimmer übersteht. Mehr noch: Josef muss erfahren, dass nicht nur die Rückkehr zu den ehemals nahen Menschen unmöglich ist, sondern auch die Rückkehr in die ehemals vertraute Umwelt. “Vor der Abreise hatte er sich die Konfrontation mit den bekannten Orten, mit seinem vergangenen Leben vorgestellt und hatte sich gefragt: würde er gerührt sein? Kalt? Erfreut? Deprimiert? Nichts von alledem. Während seiner Abwesenheit war ein unsichtbarer Besen über die Landschaft seiner Jugend hinweggegangen und hatte alles beseitigt, was ihm vertraut war; die Konfrontation, auf die er gefasst war, fand nicht statt…Der unsichtbare Riesenbesen, der Landschaften verändert, entstellt, hinwegfegt, ist seit Jahrhunderten an der Arbeit, aber seine einst langsamen, kaum wahrnehmbaren Bewegungen haben sich derart beschleunigt, daß ich mich frage: wäre die Odyssee heute denkbar? Gehört das Epos der Rückkehr noch zu unserer Zeit?” Seltsam, “Die Unwissenheit” ist ein so betörend schönes, ein so gelassen und melodiös geschriebenes Buch, aber nüchtern betrachtet entwirft es ein Panorama des Verlustes, der Verlorenheit und des Verrats. Die Liebe, die doch eine Kraft sein sollte, die die Menschen zueinander führt, ist in diesem Roman immer von Lügen begleitet, von Täuschung und Betrug. Irena schläft mit Josef, in dem sie einen Schicksalsgefährten gefunden zu haben glaubt, der von der Rückkehr aus dem Exil ebenso ernüchtert ist wie sie. Josef lässt sich zwar gern auf diese Eskapade ein, kann sich aber insgeheim gar nicht an den Jugendflirt mit Irena erinnern und kennt bis zum überstützten Abschied aus dem gemeinsamen Bett nicht einmal den Namen seiner Liebhaberin. Irena betrügt mit diesem ekstatisch genossenen Seitensprung ihren Pariser Geliebten, der sich wiederum von Irenas Mutter verführen lässt und dabei zum ersten Mal sexuellen Frieden ohne Schuldgefühle erlebt. Zu den Gesetzen in Kunderas literarischem Kosmos gehört, dass alle Menschen letztlich einsam sind, dass sich kaum jemand ernsthaft für andere interessiert, und dass die wenigen engen Bindungen in unserem Leben selten ohne Betrug oder Selbstbetrug auskommen. Kein heiter stimmendes Weltbild, das Kundera hier, in seinem Roman über das Emigrantenschicksal noch einmal konsequent exemplifiziert. Doch seltsam, “Die Unwissenheit” wirkt trotz alledem nie düster oder niederdrückend. Im Gegenteil, wer diesen Roman liest, kann jenes besondere Glück erfahren, das vielleicht nur die Literatur bereithält. Das Glück, sich entgegen der Überzeugungen Kunderas eben nicht als einsam zu erleben, sondern während der Lektüre die Nähe eines einsichtsvollen Autors zu spüren, der einen für andere Menschen zu interessieren vermag und, nicht zuletzt weil Kundera nie versucht, die Welt schön zu schminken, in seiner Beziehung zu den Lesern ohne allzu großen Betrug und Selbstbetrug auskommt. Wer will, kann in Kundera einen typischen postmodernen Erzähler sehen. In der “Unwissenheit” findet sich manches aus dem inzwischen geläufig gewordenen einschlägigen Formen- und Motivrepertoire. So verknüpft Kundera seinen Roman eng mit literarischen Vorlagen, vor allem mit der “Odyssee”, und erfüllt damit das von Literaturwissenschaftlern heiß geliebte intertextuelle Plansoll. So diskutiert er die Handlung des Buches regelrecht vor den Augen seiner Leser, anstatt die Geschichte einfach nur naiv zu erzählen. So taucht auch in diesem Roman ein verschwund geglaubtes Buch wieder auf, ein Tagebuch Josefs, das ungeliebte Erinnerungen wachruft, von ihm vernichtet wird und folglich endgültig verloren geht. Trotz allem ist in der “Unwissenheit” nichts von jenem Zwang zur Ironie zu spüren, der die Postmoderne angeblich prägt. Es ist vielmehr ein entschieden melancholisches Buch, das spielerisch und zugleich mit allem Ernst versucht, etwas über die Grundbedingung der condition humaine literarisch richtig zu stellen. Nostalgie ist, zeigt uns Kundera, ein schlechter Ratgeber fürs Leben, auch wenn Homer sie verherrlichte. Nicht im Festhalten an der Herkunft oder in der Rückkehr zu ihr lässt sich Kunderas Ansicht nach das Glück finden. Sondern im hartnäckigen Pochen auf dem eigenen biografischen Weg mit allen Brüchen und Metamorphosen. Ein Fingerzeig für eine Welt, deren Tempo uns mehr und mehr zu Nomaden macht, selbst wenn wir den Ort der Herkunft nie verlassen. Milan Kundera: “Die Unwissenheit”. Roman. Aus dem Französischen von Uli Aumüller Carl Hanser Verlag, München 2001 180 Seiten

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Irgendetwas muss man eben opfern

Über den Dichter Wolf Wondratschek, seinen Mantel, unseren Literaturbetrieb und die Freude, im 15. Stock ein Zelt zur Hand zu haben
Der Mantel hat bessere Zeiten gesehen. Der Mann auch. Die zwei sind unzertrennlich. Erst trägt der Mann ihn über dem Arm, gelassen und vornehm wie ein Stierkämpfer sein Tuch. Dann legt er ihn sich über die Schultern. Setzt sich und legt die Schöße im Schoß zusammen. Dann zieht er ihn an. Stellt den Kragen hoch. Greift an die Knopfleisten und wickelt sich in den dunkelblauen, weichgewetzten Stoff, als müsse er einem Sturm trotzen. Dabei er sitzt in einem wohlgeheizten Konferenzraum an einem gediegenen Konferenztisch. „Nein“, brummt der Mann auf die Frage, ob er nicht doch ablegen möchte, „nein, nein“, meint er versunken zwischen den blauen Kragenspitzen, „das ist mein Zelt“. Wozu er ein Zelt braucht in der 15. Etage eines Bürohauses, sagt er nicht. Wohl kaum, um sich zu verstecken. Wolf Wondratschek ist kein Mann, der sich klein macht, der ausweicht. Er geht die Dinge gern direkt an. Das merkt man schnell, wenn man ihm begegnet. Er schaut länger hin, genauer als üblich, nicht zuletzt in das Gesicht seines Gegenübers. Man kann das als Prüfung auffassen, als Herausforderung. Dann ist es leicht, eine solide Abneigung zu ihm zu entwickeln. Wondratschek wird einem in diesem Fall nichts schuldig bleiben. Er ist ein Gegner von wilder Entschlossenheit. Man kann seinen Blick aber auch als Zeichen von Interesse verstehen, von Neugier auf ein ihm noch unbekanntes Exemplar jener wandlungsreichen Spezies namens Mensch. In diesem Fall wird einem Wondratschek, erweist man sich als genauso neugierig, ebenfalls nichts schuldig bleiben. Denn soviel ist sicher, Wondratschek gehört zu den eigenwilligen Exemplaren der genannten Art. Er war erst vierundzwanzig, also tatsächlich – und nicht nur nach den Maßstäben unseres Literaturbetriebs – jung als er sich entschloss, Schriftsteller zu werden. Mit einem seiner ersten Gedichte „Als Alfred Jarry merkte, dass seine Mutter eine Jungfrau war, bestieg er sein Fahrrad“ gewann er den Leonce-und-Lena-Preis. Mit einem seiner ersten Hörspiele den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Das war 1968 und 1969. Seither hat er sieben Gedicht- und einige Prosabände veröffentlicht, einen Haufen Reportagen, einen Roman und jetzt den Erzählungsband „Die große Beleidigung“. Doch einen Preis hat er nie wieder bekommen. Was ein veritables Kunststück ist, wenn man bedenkt, dass in Deutschland pro Jahr rund 700 Literaturauszeichnungen vergeben werden. Zumal hinter dem Ausbleiben der allgemeinen Anerkennung keineswegs schreiberisches Unvermögen des Autors Wondratschek steckt. Er ist ein exzellenter, von vielen Redaktionen begehrter Reporter, seiner Prosa wird hohe Präzision und Sensibilität nachgerühmt und seine Lyrikbände erreichten – um hier einmal die Größe seine Leserschaft anzudeuten – eine Gesamtauflage von weit (?) über 100000 Exemplaren. Womit er selbst die unumstrittenen Stars und Nobelpreisträger der Versschmiedebranche vor Neid erblassen lässt. Nein, die mangelnde Anerkennung für ihn hat andere Gründe. Gründe, die manches über unseren Literaturbetrieb verraten, viel über Wondratschek selbst und auch etwas darüber, weshalb manche Leute selbst im 15. Stock gern ein Zelt zur Hand haben. Wondratschek ist, was man einen Einzelgänger nennt. Lieber lebt er allein, spartanisch, in verwitternder Eleganz, als dass er bereit wäre, sich auf die Monotonie und die Konventionen eines geordneten Berufslebens einzulassen. „So ist das eben“, heißt es in einer Geschichten über Nelson Algren, einen seiner literarischen Hausheiligen, „Einsamkeit ist für einen Schriftsteller das wichtigste. Wenn er das nicht aushält, soll er eben heiraten, ´ne Lebensversicherung abschließen und ein Haus im Grünen mieten, okay, von mir aus. Aber irgendwas muß man eben opfern.“ Allerdings hält sich Wondratschek nicht nur fern vom geordneten Bürgerleben. Die Konventionen des Kulturbetriebs, dessen Hierarchien, Eitelkeiten, Sprachregelungen gehen ihm genauso auf die Nerven – und er ist nicht der Mensch, der hinterm Berg hält, wenn ihn etwas reizt. Dann überkommt ihn der Stolz des Einsamen, der Stolz des vogelfreien Autors, der lieber geradewegs auf vieles verzichtet, als auf leicht gebogenem Weg manches zu bekommen. In solcher Verfassung ist er für Skandale gut, für Beleidigungen, Ausbrüche, theatralische Gesten. Was ihm selten Spitzenplätze auf den Beliebtheitsskalen unseres Literaturbetriebs eintrug. Sympathien en gros verscherzt sich Wondratschek auch durch seine spezifische Zuneigung zu Randfiguren der Gesellschaft. Eine Neigung, die bei ihm oft unterkühlt wirkt, weil sie keinerlei sozialarbeiterischen Züge kennt. Dabei liebt er sie wirklich, die Ganoven, Boxer, Prostituierten, Trinker, all die wüsten Verlierer unserer täglichen Rangeleien ums Weiterkommen. Aber er liebt sie so, wie sie sind. Er entwirft keine Strategien, ihr Los zu verbessern, schon gar nicht dadurch, sie vom Rand der Gesellschaft in deren Mitte zu ziehen. Man hat ihn deshalb gern als Macho abgestempelt, obwohl doch in seiner hoffnungslosen Hingabe an die Halbwelt viel eher Melancholie und Untergangssehnsucht zu finden ist. Seinen Roman hat er über das Leben eines Spielsalonbesitzers geschrieben (?), ein paar seiner besten Reportagen über die Schlachten seiner verlorenen Helden im Ring, und die Hure Domenica, „linkes Fenster, Haus zehn, Herbertstraße“, hat er in einem Prosahymnus verherrlicht, sie als „das Fresko einer Liebesgöttin“ besungen, die an eine „tropische Schlingpflanze“ erinnere, „fett und saftig“, deren „Hüften breit genug“ sind „für viele Männer, für die, die vor mir da waren und die, die nach mir auftauchen werden“. Wondratschek macht ernst, wo andere Autoren weise Worte machen. Literatur ist für ihn zu aller erst dazu da, Erfahrungen, Erlebnisse, Emotion auf Papier zu konservieren – und also ist er auf Erfahrungen, Erlebnisse und Emotionen aus. Das unter deutschen Schriftstellern so beliebte Ziel, klüger zu wirken als die Konkurrenten, abgeklärter, überlegener, kümmert ihn wenig. Wondratschek lässt sich hinreißen, wieder und wieder. Er genießt es, sich hinreißen zu lassen. Sicher, er hat seine literaturhistorischen Hausaufgaben gemacht, er zitiert Baudelaire, Antonin Artaud oder Heine, Wedekind Whitman oder Flaubert kunstgerecht, wann immer er sie brauchen kann. Doch das alles ist er bereit, für eine Sekunde erlebter Poesie hinzugeben, für das plötzliche Erröten einer Nutte, für das Zittern eines Geigenvirtuosen, der das Publikum hasst, weil er vor dessen Augen aus Lampenfieber nie sein ganzes Können entfaltet, für ein paar Westernszenen im Kino, für das Vergnügen, Menschen zu beleidigen, die glauben, über Erfolg oder Misserfolg seiner Bücher entscheiden zu können. Für das Vergnügen, all jene zu verachten, die das nicht verstehen. Wer will, kann ihn unreif nennen. Wondratschek wird ihm da nicht widersprechen. „Ich bin ein Bub“, sagt er, während er an den Mantelknöpfen spielt, „ich experimentiere gern, auch mit der Realität“. Allenfalls wird er fragen, von welcher Form der Reife denn in jenem Vorwurf indirekt die Rede ist, von welcher Form traumloser Nüchternheit. Stunden, Wochen, Jahre habe er, erinnert er sich in einer seiner Geschichten, mit Freunden im Münchner Café Capri vertrödelt, um Mädchenbeine zu bestaunen: „Hin und wieder kam auf der Leopoldstraße der Schriftsteller Reinhard Baumgart vorbei. Er schaute mir in die Augen, wandte sich ab. Ging weiter. Später, als ich in André Gides Tagebuch las, stieß ich auf einen Satz und dabei fiel mir auch der Baumgart wieder ein und sein Blick. Gide schreibt: ‚Sie meinen, man komme nicht mehr vorwärts, sobald man nicht mehr in ihre Richtung geht.‘“ Das allgegenwärtige, ewige Gestrampel, um vorwärts zu kommen, war Wondratschek schon immer wurscht. Wohl auch, weil er sich dazu ebenso wenig eignet wie die Helden seiner Geschichten. Statt dessen wartet er und hält Ausschau. Nach magischen Momenten, nach poetischen Augenblicken, in denen das Leben doch mal über sich hinauswächst – und die es lohnt, in Sprache einzufangen. Glaube niemand, das sei ein bequemer Job. Vermutlich fühlt man sich ziemlich schnell allein dabei, und freut sich, ein Zelt zu haben, in das man sich verkriechen kann, getrieben von unerfüllter Leidenschaft. „Es ist der Fanatismus einer unsicheren, verletzten Frau, die sich betäuben muß mit dem Absoluten,“ hat er einmal über Martina Navratilova geschrieben. „Nur das, nur dieses Absolute verschafft ihr eine vorübergehende Erleichterung.“ In seiner Geschichte jubelt Wondratschek schließlich, weil die alternde Navratilova noch einmal siegt. Siegt, gegen die junge Steffi Graf. Steffi Graf! Wer so was schreibt, darf sich einfach nicht wundern.

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Vom schweren Leben im Winter

 Klaus Schlesinger ist tot

Eigentlich hätten Sie ihn feiern müssen, die Kulturfunktionäre der DDR. Klaus Schlesinger war all das, von dem sie in ihren Parteitagsbeschlüssen schwärmten. Als gelernten Chemielaboranten und Sohn eines Expeditionsgehilfen hätten sie ihn gut als Schriftsteller aus dem Proletariat ausgeben können. Als Erzähler, der sich mit Vorliebe den Hoffnungen und Lebenskatastrophen der so genannten kleinen Leute annahm, hätte man aus ihm vielleicht sogar so etwas wie einen Volksschriftsteller machen können. Und als idealistischer junger Mann, der sehr unter dem Tod seines Vaters im Zweiten Weltkrieg litt und für den Aufbau einer humaneren Welt arbeiten wollte, hätte man ihn auch politisch wunderbar vor den Karren des realen Sozialismus spannen können. Doch es ist etwas Seltsames um die Literatur und um die, die es ernst mit ihr meinen. Und Schlesinger meinte es ernst. Sicher, er konnte sich für die DDR begeistern, in die er nach Kriegsende hineinwuchs. Aber als Autor vermochte er stets nur zu schreiben, was er zuvor genau beobachtet, erforscht und durchdacht hatte. Schon als Reporter hatte er zwischen 1963 und 1969 so manches über seine Heimat erfahren, was sich mit dem Parteiprogramm nicht deckte. Als Erzähler gelang es ihm nun umso weniger, über die Schattenseiten des Alltags hinwegzusehen. So gerieten seine Geschichten, die einfach nur ehrlich sein wollten, den Zensoren der DDR nicht positiv genug. Auf deren Kritik, die andauerte, bis er 1980 nach West-Berlin übersiedelte, hatte er im Grunde immer nur eine, immer nur die gleiche Antwort: den lakonischen Verweis auf die Tatsachen. Sein erster Roman „Michael“ (1972) hatte den Schönheitsfehler vieler Erstlingswerke: Das Thema war größer als die schreiberische Erfahrung des Autors. Ein Sohn glaubt auf einem Foto deutscher Soldaten, die polnische Bauern erschießen, seinen Vater zu erkennen. Schlesinger versuchte einen Generationskonflikt, der nicht nur die 68er im Westen aufwühlte, mit der ganzen Energie der nachgetragenen Liebe zum verlorenen Vater zu durchleuchten. Doch unter der Last der Emotionen wurde sein Roman eher spröde als klärend, und er nannte ihn später selbst „ein hoch moralisches Buch mit stark neurotischen Zügen“. Zu seinem eigentlichen Thema fand er nicht zuletzt durch die Hilfe des Lektors Kurt Batt, der den Rostocker Hinstorff Verlag leitete und dort neben Schlesinger und Franz Fühmann noch viele andere kritische DDR-Schriftsteller versammelte. In den folgenden Büchern, dem Roman „Alte Filme“ (1975), dem Prosaband „Berliner Traum“ (1977) und der Erzählung „Leben im Winter“ (1980), entwickelte Schlesinger einen ungeheuer präzisen Blick auf die Alltagsrealität der DDR, auf die kleinen Sehnsüchte und Enttäuschungen sozialistischer Durchschnittsbürger, wie sie sonst wohl nur Erich Loest zu beschreiben verstand. 1976 schloss sich Schlesinger mit seiner damaligen Frau, der Sängerin Bettina Wegner, der Protestnote vieler Schriftsteller und Künstler gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns an. Seine Konflikte mit dem Regime verschärften sich daraufhin rasant. 1979 wurde er zusammen mit acht anderen Autoren aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen, ein Jahr später war er im Westen. Mit der Übersiedlung geriet er in eine tiefe Krise, die er in der Chronik „Fliegender Wechsel“ (1990) dokumentierte. Schlesinger hatte mit seiner alten Heimat auch das Milieu hinter sich gelassen, über das er literarisch souverän verfügte. Er brauchte lange, um einen neuen schriftstellerischen Ansatz zu finden. 1996 endlich konnte er den ersten Roman veröffentlichen, den er im Westen konzipiert und geschrieben hatte: „Die Sache mit Randow“ – Erinnerungen an die Umtriebe der Gladow-Bande im Berlin der Nachkriegsjahre aus der Perspektive eines Jugendlichen. Als er im vergangenen Jahr den Erich-Fried-Preis erhielt, war dies mehr für ihn als eine Auszeichnung: Es war die Bestätigung, nach oft hoffnungslosem Ringen in den Kreis der produktiven, anerkannten Autoren zurückgefunden zu haben. Jetzt ist Klaus Schlesinger im Alter von 64 Jahren in seiner Heimatstadt Berlin gestorben.

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