Die erste Geige will nicht mehr

Im Dezember lädt Marcel Reich-Ranicki zum letzten Literarischen Quartett 

Die Anekdote ist schon hundert mal erzählt worden: 1987 kam Johannes Willms, damals noch Leiter der Kulturredaktion Aspekte des ZDF, zu Marcel Reich-Ranicki und bat ihn um ein Konzept für eine regelmäßige Fernsehsendung, die der Literatur gewidmet sein sollte. Es brauchte nur Augenblicke, bis Reich-Ranicki entschlossen und – wie es seine Art ist – von seinem Entschluss auch nicht mehr abzubringen war. Seine Vorstellungen klangen einfach, ja allzu simpel: Vier Kritiker sollten vor den Kameras eine gute Stunde lang über literarische Neuerscheinungen diskutieren; einer dieser Kritiker solle er, Reich-Ranicki selbst, sein. Die Fernsehprofis des ZDF hätten sich, berichtete Willms später, köstlich über dieses karge Konzept amüsiert. Allenfalls eine mitternächtliche Radiodebatte könne man noch mit solch dürftigen Mitteln bestreiten – und im Grunde auch die nicht mehr, wenn man mindestens zwei Dutzend Hörer an den Geräten halten wolle. Reich-Ranickis Vorschlag sei so offensichtlich und vollständig fernsehuntauglich, eine „Totgeburt“, die wieder einmal beweise, wie wenig Verständnis Literaturliebhaber für moderne audiovisuelle Medien besäßen. Bekanntlich wurde aus dem damals wie im Vorübergehen entworfenen „Literarischen Quartett“ nach ihrem Start im März 1988 eine der erfolgreichsten, wenn nicht sogar die erfolgreichste Kultursendereihe in der deutschen Fernsehgeschichte. Jene Fernsehprofis, die so genau zu wissen glaubten, was die Zuschauer wollen und was nicht, hatten ihre Rechnung ohne Reich-Ranicki gemacht. Denn der verstand und versteht nicht nur etwas von Literatur und davon, wie man klar und lebendig über sie debattiert, sondern auch vom Entertainment und der Lust des Publikums an Temperamentsausbrüchen. Natürlich hat man Reich-Ranicki gerade deshalb für seine Sendung in den über 13 Jahren, in denen sie ausgestrahlt wurde, überaus heftig angegriffen. Denn hier zu Lande ist es zumal im Kulturbetrieb üblich, große Erfolge eher zu attackieren als zu analysieren. Was dieses Quartett betreibe, habe, behaupteten dessen Gegner, nichts mehr mit seriöser Literaturkritik zu tun – und zu ihrer Überraschung gab ihnen Reich-Ranicki recht: Der Platz der ernsten Kritik sei und bleibe die Rezension oder der Essay. Was er mit dem Literarischen Quartett auf dem Bildschirm wiederbeleben wolle, sei der literarische Salon, also das unbefangene Gespräch über Bücher und Schriftsteller, das mehr zur geistreichen Pointe neige als zur strengen Beweisführung, eher die effektvolle rhetorische Volte bevorzuge als die langatmige Interpretation. Vielleicht war das Quartett mit diesem Versuch sogar so etwas wie ein avantgardistisches Unternehmen. In einer Zeit wie der unseren, in der allgemeingültige ästhetische Kriterien immer schwerer zu formulieren sind und viele Kritiker, wenn sie ehrlich sind, zugeben müssen, dass sie sich ihrer Maßstäbe immer unsicherer werden, bot das Quartett dem Publikum zu jedem Buch immer gleich vier sich oft wiedersprechende Meinungen auf einmal an, aus denen jeder Zuschauer die ihn überzeugende auswählen konnte. In der klassischen Rezension dagegen wird dem Leser üblicherweise nur eine Ansicht dargelegt, die dann oft genug unterschwellig den Anspruch allein selig machender Weisheit erhebt. Trotz allem bleibt verblüffend, wie es dem Quartett 77 Sendungen lang gelingen konnte mit oft spröden literarischen Gesprächsthemen immer wieder eine halbe bis 1,5 Millionen Zuschauer vor den Bildschirm zu bannen. Mehr als alles andere dürfte dazu der Sinn Reich-Ranickis für die Show beigetragen haben, seine Lust an der vereinfachenden, aber witzigen Formulierung, seine ständige freudige Eruptionsbereitschaft, aber auch seine Neigung, die Spannungen unter den Mitgliedern zu schüren, um die Sendung für das Publikum zu emotionalisieren. Eine Strategie, der Sigrid Löffler schließlich zum Opfer fiel. Für den Buchmarkt haben die jährlichen sechs Termine des Quartetts eine ganz unvergleichliche Rolle gespielt. Schon vor den Sendungen türmten sich in vielen Buchhandlungen die Stapel der Romane, die zur Besprechung ausgewählt worden waren. Erfahrene Verleger versicherten glaubhaft, dass ein enthusiastisches Lob Reich-Ranickis allein die Auflage um 25 000 Exemplare anhob, das einhellige Lob aller vier Diskutanten um 40 000 bis 50 000 Exemplare. Das Quartett hat so in einem Literaturbetrieb, der oft genug in einem heillosen Stimmen- und Meinungsgewirr zu zerfasern droht, eine wichtige und für die Verlage ökonomisch mitunter entscheidende Rolle übernommen. Es wäre naiv zu glauben, Reich-Ranicki hätte die Macht, die ihm auf diese Weise zuwuchs, nicht in vollen Zügen genossen. Ob dem Philosophischen Quartett mit Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk, das ab Anfang 2002 am späten Sonntagabend an die Stelle des Literarischen Quartetts treten soll, ein vergleichbarer Einfluss gewinnen wird, steht dahin. Der Einfluss auf den Buchmarkt wird, das liegt beim höchst anspruchsvollen Thema Philosophie nahe, vermutlich geringer sein. Doch in unserer Gegenwart, in der immer mehr und mehr Menschen vergeblich um intellektuelle Orientierung ringen und sich in politischen, moralischen oder religiösen Fragen wie verloren vorkommen, könnte auch diese neue Sendereihe zu einer Institution werden. Gebraucht würde sie allemal.

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