Ein Gespräch mit Christoph Ransmayr über sein erstes Stück, das Lob des Kinos als theatralischen Akt, zwei Postkarten an Kirsten Dene und die Nähe von Komik und Tragik sowie eine antike Königin
Christoph Ransmayr hat sich mit drei Romanen internationales Renommee erschieben: mit „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ (1984), „Die letzte Welt“ (1988) und „Morbus Kitahara“ (1995). Im Rahmen der Salzburger Festspiele wurde 2001 sein erstes Theaterstück „Die Unsichtbare“ uraufgeführt. Die Hauptrolle spielte Kirsten Dene, Regie führte Claus Peymann. Mit Christoph Ransmayr sprach Uwe Wittstock
Uwe Wittstock: Sie sind ein in über 20 Sprachen übersetzter Romancier. War es ein Wagnis, das erste Theaterstück zu schreiben?
Christoph Ransmayr: Für einen Erzähler ist jeder Versuch riskant, etwas zur Sprache zu bringen und zur Geschichte zu machen. Aber Roman und Stück sind nicht so verschieden, wie es zunächst scheint. Erzählen ist für mich auch in dieser Hinsicht unteilbar. Auch in diesem Stück erzählt ja Frau Stern, die Unsichtbare, eine Souffleuse, ihre Geschichte, und erst indem sie von Figuren ihrer Erinnerung, ihrer Zuneigung oder ihres Hasses spricht, werden diese Gestalten lebendig und erscheinen sogar auf der Bühne. Sie erzählt ihre Gestalten sozusagen ins Leben. Und diese Verwandlung geschieht eher im Tonfall der Prosa als in dramatischen Dialogen. Die Grundfrage bleibt doch, ob einer erfundenen, erzählten Figur zu einer Art von Wirklichkeit verholfen werden kann und ob Gestalten innerhalb einer Geschichte für Zuhörer, Zuschauer oder Leser plausibel werden, glaubwürdig. Denn gleichgültig wie irreal, anachronistisch oder phantastisch die Dinge sind, die ein Erzähler seinen Figuren zumutet – wenn sie innerhalb eines Erzählraumes, den er allein bestimmt, plausibel erscheinen, dann ist nicht nur jeder Lebenslauf und jedes Schicksal, dann ist alles möglich… Wittstock: Gab es für Sie wirklich keine Unterschiede zwischen dem Schreiben an einem Roman oder an einem Theaterstück? Ransmayr: Eigentlich nicht, zunächst einmal. Aber dann habe ich mit Erleichterung doch Unterschiede festgestellt. Als Verfasser eines Romans ist man bei der Arbeit mit seinen Figuren vom ersten bis zum letzten Satz, bis zum letzten Wort, allein. Bei einer Theaterarbeit dagegen steht man als Autor in einer langen Reihe mit jenen, die der Figur auf der Bühne zum Leben verhelfen. Natürlich schafft der Autor ein möglichst geschlossenes Erzählsystem, aber bis seine Gestalten dann wirklich auf der Bühne erscheinen, hat sich die Geschichte von ihm schon wieder entfernt, wurde sie von Schauspielern, Dramaturgen, Regisseur sozusagen weiter überliefert, verwandelt. Der Autor, der am Anfang stand, ist bei diesem Stand der Dinge schon wieder etwas geschrumpft, fast unsichtbar geworden, kann sich längst anderen Geschichten zuwenden, während für die Premiere seines Stücks noch geprobt wird.
Wittstock: War von Anfang an klar, dass Claus Peymann Ihr Stück inszenieren würde mit Kirsten Dene in der Titelrolle?
Ransmayr: Bevor es den ersten Satz des Stückes gab, standen Hauptdarstellerin und Regisseur insofern fest, als ich Peymann in verschiedenen Gesprächen im Verlauf von Jahren versprochen habe, ihm und Dene das Stück anzubieten, falls ich je eines schreiben würde. Allerdings habe ich dazugesagt, dass ich – wenn überhaupt – stets lieber als Zuschauer ins Theater wollte, nicht als Autor. Ich habe auch jetzt keinerlei Ambitionen, zum Dramatiker zu werden; wir sprechen über Die Unsichtbare ja als dem Ergebnis einer Exkursion, eines mehr oder weniger exotischen Ausflugs. Was meinen Theaterbesuch als Autor anbelangt, wäre es wohl für immer bei der bloßen, manchmal durchaus verlockenden Möglichkeit geblieben, wenn es nicht die glückliche Erfahrung im vergangenen Jahr gegeben hätte, als ich nach Elfriede Jelinek und Hans Magnus Enzensberger die Einladung angenommen hatte, bei den Salzburger Festspielen „Dichter zu Gast“ zu sein und dort unter dem Titel Unterwegs nach Babylon an sieben Tagen sieben Spielformen des Erzählens vorführen konnte – vom Schweigen, Lesen und bloßen Zuhören über die mündliche Überlieferung, zum Bericht, zur Prosa, von der Prosa zur Lyrik, von dort zum Film, dramatischen Monolog, Fernschreiben und Dokument bis zur Musik und zurück in die Stille. In Salzburg habe ich die Zusammenarbeit mit den vielen leidenschaftlichen Theaterleuten und auch den Technikern, die geholfen haben, eine fast größenwahnsinnige Unternehmung innerhalb einer Woche aufzuführen, als etwas Bewegendes und Beglückendes erlebt. Wittstock: Sie haben „Die Unsichtbare“ also in einem knappen halben Jahr geschrieben? Ransmayr: Ich habe im Herbst 2000 damit begonnen. Die Arbeit ging für meine Verhältnisse geradezu fliegend voran, ich kenne beim Schreiben ansonsten ja leider nur das Tempo der äußersten Langsamkeit. Hauptfigur und Grundverlauf des Stückes waren mir allerdings schon lange vertraut – wenn auch nur als spielerische Idee, windige Sache in den Gesprächen mit Peymann, nicht als Projekt, das tatsächlich irgendwann einmal auf eine Bühne kommen sollte. Fest stand aber, dass die Dynamik des Stückes über die Verfluchung des Theaters zunächst von der Bühne weg und hin zu scheinbar zeitgemäßeren Formen der Darstellung des Menschenmöglichen führen sollte, zum Kino beispielsweise. Fest stand aber auch, dass die Verfluchung des Theaters und das Lob des Kinos ein theatralischer Akt sein sollte, an dessen Ende das Theater lebendiger und überzeugender als zuvor erscheinen musste. Nach meinen Erfahrungen als „Dichter zu Gast“ wurde jedenfalls die Vorstellung immer verführerischer, Die Unsichtbare tatsächlich zu schreiben. Ich kann nicht mehr genau sagen, aus welcher Richtung der besondere Rückenwind kam, der für mich bei dieser Arbeit spürbar war, aber ich glaube, es hat damit zu tun, dass ich zumindest für einen kurzen Arbeitsabschnitt im Rahmen einer Geschichte nicht mehr ganz allein mit mir selber war.
Wittstock: War Peymann und Dene vorher klar, dass Sie eine solch vehemente Verfluchung des Theaters schreiben würden?
Ransmayr: Das weiß ich nicht. Ich habe mit Kirsten Dene nicht mehr gesprochen, seit ich das Stück in Salzburg und Berlin abgeliefert habe. Ich bin damit nicht nur einem Wunsch Peymanns gefolgt, der meinte, ich sollte mich um Himmels willen von Proben und Schauspielern fernhalten. Meine Arbeit ist getan. Was damit geschieht, in jenem babylonischen Prozess, in dem Menschen eine Geschichte zu ihrer eigenen oder zum Gegen stand der Darstellung oder Überlieferung machen, das will und kann ich nicht kontrollieren. Ich habe Kirsten Dene zwei Ansichtskarten geschrieben, eine aus Brasilien, eine aus Irland, beide voller Mitgefühl, weil ich mir vorstellen konnte, welche ungeheuerliche Arbeit es sein musste, einen so umfangreichen, monologischen Text zu lernen, eine Wahnsinnsarbeit. Aber wie ich aus der Ferne gehört habe, ging und geht es ihr gut bei dieser Arbeit, und darüber bin ich froh. Wittstock: Klingt nach romantischer Ironie: ein Theaterstück, in dem das Theater verflucht wird. Ransmayr: Aber je glaubwürdiger die Verfluchung des Theaters auf der Bühne wird, umso glaubwürdiger wird ja das Theater selber und umso plausibler auch die Behauptung, Theater sei etwas Notwendiges, etwas, das mit unserem Bedürfnis zu tun hat, uns selber oder das, wozu wir imstande sind, darzustellen, zu begreifen – und vielleicht sogar erträglich zu machen.
Wittstock: „Die Unsichtbare“ ist ein sehr komisches Stück geworden, ein komisches Stück vor düsterem Hintergrund.
Ransmayr: Das Stück ist keine reine Komödie. Aber da wo es komisch wird, ergibt sich das nicht – oder hoffentlich nicht – als unfreiwilliger Nebeneffekt, sondern aus dem Text. Wenn man Gesprächen wirklich zuhört, irgendwo, in irgendeiner Bar, auf einem Bahnhof oder Flughafen, an einem beliebigen öffentlichen Ort, merkt man schnell, wie nahe sich Komik und Tragik kommen, in welcher unglaublich dichten Aufeinanderfolge das Komische, das Tragische, das Verzweifelte in einer einzigen Stunde, in einem einzigen Gespräch erscheinen können. Wittstock: Die Begeisterung der Unsichtbaren für das Kino, geht so weit, dass sie eine Filmszene auf der Bühne spielt – was nichts anderes ist als Theater. Ransmayr: Und sie spielt in dieser Szene eine geradezu archaische Theaterrolle, eine antike Königin. Das könnte das Ergebnis einer längeren Konstruktionsarbeit sein; war es aber nicht. Wenn als Paradigma der erzählerischen Arbeit gilt, mute deinen Figuren niemals Dinge zu, zu denen sie vor ihrem Horizont, innerhalb ihrer Geschichte, nicht imstande sind, dann braucht es solche Konstruktionsarbeit überhaupt nicht. Die Dinge ergeben sich so zwar noch immer nicht von alleine, aber notwendigerweise. Einer Hauptfigur, die früher einmal Bibliothekarin war, darf man ruhig glauben, dass sie von den großen Bibliotheken der Antike schwärmt. Auch die Verwandtschaft zwischen einer Bibliothekarin und einer Souffleuse, die beide im verborgenen Bücher, Texte lesen und gelegentlich flüstern, ist für mich offenkundig. Wenn man die Struktur eines Charakters festgelegt hat, beginnen Figuren verblüffend schnell selbst zu sprechen – und auch vom weiteren Verlauf der Handlung etwas zu fordern.
Wittstock: Mussten Sie sich stilistisch umstellen, weil „Die Unsichtbare“ kein Roman, sondern ein Stück werden sollte?
Ransmayr: Das war keine stilistische Frage. Mir war immer klar, dass man die Menschen, die dieses Stück auf die Bühne bringen sollen, nur unterstützen kann, indem man sich nicht auf ihre Virtuosität verlässt, sondern indem man ein funktionierendes erzählerisches System schafft. Auch die wunderbarste Schauspielerin wird ihre Möglichkeiten am ehesten dort entfalten, wo die Geschichte, die sie darstellen soll, auch in sich funktioniert und sie den Zusammenhang nicht erst selber stiften muss. Mein Anspruch war, bis hin zu einzelnen Bildern, zu Anweisungen für Regie, Bühnenbild und Schauspieler eine lesbare, anschauliche Geschichte zu schreiben. Was ein Regisseur dann daraus macht, was er streicht oder unterstreicht, liegt in seiner Verantwortung. Das kann und will ich ebenso wenig kontrollieren, wie das Schicksal, das einem Roman im Verständnis und Kopf eines Lesers beschieden ist. Wittstock: Ihr Stück endet mit einer Anspielung auf einen großen Kinofilm. Die Heldin gibt das Textbuch, das sie suchte, verloren und nimmt selbst dessen Platz ein, denn sie hat das Buch bei ihrer Arbeit als Souffleuse auswendig gelernt und ist nun selbst zum Buch geworden – wie all die Figuren in Truffauts Fahrenheit 451. Ransmayr: Wenn man von Büchern spricht oder schreibt, von all dem, was in der Erinnerung und Sprache der Menschen zu Geschichten geworden ist, dann streift man zumindest inhaltlich und manchmal vielleicht auch formal unwillkürlich alle Arbeiten, die sich je mit diesem Thema beschäftigt haben. Natürlich steht jede neue Geschichte über Bücher und über das Drama der Überlieferung auf unterschiedlichsten Ebenen in Beziehung zu allen vorangegangen. Aber solche Beziehungen konstruiert man nicht, die ergeben sich so selbstverständlich wie alle anderen Verwandtschaften zwischen dem, was war und dem, was ist oder uns noch blühen kann.