Milan Kundera und das besondere Glück, das vielleicht nur die Literatur bereit hält
Ein Zauberer, Milan Kundera ist tatsächlich ein Zauberer. Wie der sagenhafte König Midas alles, was er berührte, zu Gold verwandelte, so kann Kundera, dieser König der Prosa, offenbar aus jedem beliebigen Stoff funkelnde literarische Kostbarkeiten machen. In seinem neuen, wunderbaren Roman “Die Unwissenheit” etwa verblüfft er seine Leser mit kleinen Exkursen zum Streit zwischen Arnold Schönberg und Igor Strawinsky, zur Geschichte Böhmens im 20. Jahrhundert, zu den Grenzen der Gedächtniskapazität oder zu Jonas Hallgrímsson, dem Romantiker, Säufer und Kämpfer für die Unabhängigkeit Islands – über nicht eben geläufige oder gefällige Gegenstände also. Doch seltsam, sobald Kundera seine genaue und doch immer graziöse Schreibhand an diese Themen legt, verwandeln sie sich und geben dem Leser hinreißende erzählerische Goldnuggets preis. Wenn Kundera heute beschlösse, eine zweihundertseitige Bedienungsanleitung für einen Toaster zu schreiben, ich bin mir sicher, er würde ein gutes Buch daraus machen, klug, amüsant und hochpoetisch. Ja, poetisch, ich bin überzeugt, Kundera würde für uns die Poesie der Toaster entdecken, und wir würden, nachdem wir sein Buch gelesen hätten, bis zum Ende unserer Tage alle Toaster mit anderen Augen betrachten. Das nämlich können große Schriftsteller: Sie können die flüchtigen, halb empfundenen, halb beiseite gedrängten Gefühle, die uns von Zeit zu Zeit beschleichen, in einem Buch so deutlich hervortreten zu lassen, dass sie für uns endlich klar wahrnehmbar und unvergesslich werden. Literatur verändert wohl kaum je die Welt, aber sie hilft, die Empfindungen zu formen, mit denen Leser der Welt gegenübertreten. Es brauchte große Künstler, merkte einmal Oscar Wilde an, um die Poesie des Nebels zu entdecken, der im Herbst durch Großstadtstraßen zieht, die Laternen umhüllt und die Häuser zu ungeheuerlichen Schatten wachsen lässt. Doch nachdem die Künstler die Zartheit dieser Schleier in Bildern und Büchern eingefangen hatten, waren immer mehr Menschen fähig, ihre Poesie zu empfinden. In der “Unwissenheit” misst sich Kundera kühn mit einem der größten gefühlsprägenden Schriftsteller aller Zeiten – mit Homer. Denn Homer hat, so sieht es Kundera, mit der “Odyssee”, der zehnjährigen Heimfahrt des Odysseus nach Ithaka, “das Gründungsepos der Nostalgie” geschrieben. Er hat damit unserer Sehnsucht nach Rückkehr eine so suggestive literarische Gestalt gegeben, dass wir dieser Empfindung bis heute höchste, oft ultimative Bedeutung einräumen. Sieben Jahre verbrachte Odysseus auf seiner Heimreise in Liebe und Luxus mit der schönen Calypso, weit mehr Zeit als er mit Penelope, seiner Frau in Ithaka verbrachte. Aber dennoch entschied er sich heimzufahren. “Da kann man nichts machen”, schreibt Kundera, “Homer verherrlichte die Nostalgie mit einem Lorbeerkranz und legte so eine moralische Hierarchie der Gefühle fest. An deren Spitze steht Penelope, hoch über Calypso.” Der Odysseus in Kuderas Roman ist eine Frau und heißt Irena. Sie ist Tschechin und hat (wie Kundera) ihre Heimat verlassen, nachdem sowjetische Truppen das Land 1968 besetzten. Sie ließ sich (wie Kundera) in Paris nieder, hat dort ihre Kinder großgezogen, gearbeitet, einen Geliebten gefunden, kurz: ihr Leben gelebt, und sieht sich dennoch (wie Kundera) nach 1989 mit der ziemlich unverblümten Erwartung ihrer französischen Freunde konfrontiert, sie möge in ihr Ithaka, in das Land ihrer Herkunft zurückkehren. Irenas Schicksal ist keine Seltenheit. Seit der Französischen Revolution, erinnert uns Kundera, zogen endlose Ströme politischer Emigranten durch Europa, die in ihrer Heimat wie Deserteure geächtet und gezwungen waren, sich in der Fremde neue Existenzen aufzubauen. Kein Wunder, dass die Nostalgie, dass das Leiden an dem unerfüllbaren Wunsch nach Rückkehr, seither im kollektiven Bewusstsein eine immer größere Bedeutung gewann. Aber: Beruht diese Empfindung, so fragt der Roman “Die Unwissenheit”, nicht letztlich nur auf der Unwissenheit der Emigranten darüber, wie sehr sich ihre unerreichbare Heimat in ihrer Abwesenheit verändert? Auf der Unwissenheit der Emigranten darüber, wie sehr sie sich selbst durch die Emigration verändern? Kundera, der große Skeptiker und Psychologe, führt uns in seinem Roman vor, dass es eine tatsächlich versöhnende Rückkehr, wie sie Homer seinem Odysseus noch gönnte, nicht mehr gibt. Dass es sie vielleicht nie gegeben hat, dass sie vielleicht nichts anderes ist als die Erfindung eines genialen antiken Dichters. Irena, Kunderas Odysseus, wird auf ihrer ersten Rückreise nach Prag mit lauter alten Freundinnen und Bekannten konfrontiert, die sie zwar willkommen heißen – aber eben als jene Irena, die sie kannten, bevor sie emigrierte, und die sich für den Menschen, zu dem Irena in Frankreich wurde, nicht im Geringsten interessieren. Irena empfindet ähnlich: Sie sucht in den Gesichtern nach den Gefährtinnen von einst, ist enttäuscht über die Zeichen der Alterung und fühlt sich gelangweilt, sobald man ihr von den Jahren in der Tschecheslowakei erzählt, die sie selbst nicht miterlebte. Josef geht es ebenso. Er ist, wie Irena, ein tschechischer Emigrant. Die beiden begegnen sich zufällig auf einem Pariser Flughafen, und Irena glaubt, in ihm einen alten Flirt aus Jugendtagen wiederzuerkennen. Auch Josef trifft bei seinen tschechischen Angehörigen, die er zum ersten Mal nach zwanzig Jahren wiedersieht, nur auf Unverständnis und unbeglichene Rechnungen. Auch er ist im Grunde nicht bereit oder fähig, sich in das Schicksal der Daheimgebliebenen, in ihre krummen, von bizarren politischen Verhältnissen verbogenen Lebensläufe einzufühlen. So macht, zeigt Kunderas “Unwissenheit”, eine längere Trennung Fremde aus uns allen. Das wenige, was die Menschen tatsächlich verbinden kann, ist in Kunderas Augen derart fragil und pflegebedürftig, dass es einen so radikalen Bruch wie das jahrzehntelange Exil nie und nimmer übersteht. Mehr noch: Josef muss erfahren, dass nicht nur die Rückkehr zu den ehemals nahen Menschen unmöglich ist, sondern auch die Rückkehr in die ehemals vertraute Umwelt. “Vor der Abreise hatte er sich die Konfrontation mit den bekannten Orten, mit seinem vergangenen Leben vorgestellt und hatte sich gefragt: würde er gerührt sein? Kalt? Erfreut? Deprimiert? Nichts von alledem. Während seiner Abwesenheit war ein unsichtbarer Besen über die Landschaft seiner Jugend hinweggegangen und hatte alles beseitigt, was ihm vertraut war; die Konfrontation, auf die er gefasst war, fand nicht statt…Der unsichtbare Riesenbesen, der Landschaften verändert, entstellt, hinwegfegt, ist seit Jahrhunderten an der Arbeit, aber seine einst langsamen, kaum wahrnehmbaren Bewegungen haben sich derart beschleunigt, daß ich mich frage: wäre die Odyssee heute denkbar? Gehört das Epos der Rückkehr noch zu unserer Zeit?” Seltsam, “Die Unwissenheit” ist ein so betörend schönes, ein so gelassen und melodiös geschriebenes Buch, aber nüchtern betrachtet entwirft es ein Panorama des Verlustes, der Verlorenheit und des Verrats. Die Liebe, die doch eine Kraft sein sollte, die die Menschen zueinander führt, ist in diesem Roman immer von Lügen begleitet, von Täuschung und Betrug. Irena schläft mit Josef, in dem sie einen Schicksalsgefährten gefunden zu haben glaubt, der von der Rückkehr aus dem Exil ebenso ernüchtert ist wie sie. Josef lässt sich zwar gern auf diese Eskapade ein, kann sich aber insgeheim gar nicht an den Jugendflirt mit Irena erinnern und kennt bis zum überstützten Abschied aus dem gemeinsamen Bett nicht einmal den Namen seiner Liebhaberin. Irena betrügt mit diesem ekstatisch genossenen Seitensprung ihren Pariser Geliebten, der sich wiederum von Irenas Mutter verführen lässt und dabei zum ersten Mal sexuellen Frieden ohne Schuldgefühle erlebt. Zu den Gesetzen in Kunderas literarischem Kosmos gehört, dass alle Menschen letztlich einsam sind, dass sich kaum jemand ernsthaft für andere interessiert, und dass die wenigen engen Bindungen in unserem Leben selten ohne Betrug oder Selbstbetrug auskommen. Kein heiter stimmendes Weltbild, das Kundera hier, in seinem Roman über das Emigrantenschicksal noch einmal konsequent exemplifiziert. Doch seltsam, “Die Unwissenheit” wirkt trotz alledem nie düster oder niederdrückend. Im Gegenteil, wer diesen Roman liest, kann jenes besondere Glück erfahren, das vielleicht nur die Literatur bereithält. Das Glück, sich entgegen der Überzeugungen Kunderas eben nicht als einsam zu erleben, sondern während der Lektüre die Nähe eines einsichtsvollen Autors zu spüren, der einen für andere Menschen zu interessieren vermag und, nicht zuletzt weil Kundera nie versucht, die Welt schön zu schminken, in seiner Beziehung zu den Lesern ohne allzu großen Betrug und Selbstbetrug auskommt. Wer will, kann in Kundera einen typischen postmodernen Erzähler sehen. In der “Unwissenheit” findet sich manches aus dem inzwischen geläufig gewordenen einschlägigen Formen- und Motivrepertoire. So verknüpft Kundera seinen Roman eng mit literarischen Vorlagen, vor allem mit der “Odyssee”, und erfüllt damit das von Literaturwissenschaftlern heiß geliebte intertextuelle Plansoll. So diskutiert er die Handlung des Buches regelrecht vor den Augen seiner Leser, anstatt die Geschichte einfach nur naiv zu erzählen. So taucht auch in diesem Roman ein verschwund geglaubtes Buch wieder auf, ein Tagebuch Josefs, das ungeliebte Erinnerungen wachruft, von ihm vernichtet wird und folglich endgültig verloren geht. Trotz allem ist in der “Unwissenheit” nichts von jenem Zwang zur Ironie zu spüren, der die Postmoderne angeblich prägt. Es ist vielmehr ein entschieden melancholisches Buch, das spielerisch und zugleich mit allem Ernst versucht, etwas über die Grundbedingung der condition humaine literarisch richtig zu stellen. Nostalgie ist, zeigt uns Kundera, ein schlechter Ratgeber fürs Leben, auch wenn Homer sie verherrlichte. Nicht im Festhalten an der Herkunft oder in der Rückkehr zu ihr lässt sich Kunderas Ansicht nach das Glück finden. Sondern im hartnäckigen Pochen auf dem eigenen biografischen Weg mit allen Brüchen und Metamorphosen. Ein Fingerzeig für eine Welt, deren Tempo uns mehr und mehr zu Nomaden macht, selbst wenn wir den Ort der Herkunft nie verlassen. Milan Kundera: “Die Unwissenheit”. Roman. Aus dem Französischen von Uli Aumüller Carl Hanser Verlag, München 2001 180 Seiten
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