Irgendetwas muss man eben opfern

Über den Dichter Wolf Wondratschek, seinen Mantel, unseren Literaturbetrieb und die Freude, im 15. Stock ein Zelt zur Hand zu haben
Der Mantel hat bessere Zeiten gesehen. Der Mann auch. Die zwei sind unzertrennlich. Erst trägt der Mann ihn über dem Arm, gelassen und vornehm wie ein Stierkämpfer sein Tuch. Dann legt er ihn sich über die Schultern. Setzt sich und legt die Schöße im Schoß zusammen. Dann zieht er ihn an. Stellt den Kragen hoch. Greift an die Knopfleisten und wickelt sich in den dunkelblauen, weichgewetzten Stoff, als müsse er einem Sturm trotzen. Dabei er sitzt in einem wohlgeheizten Konferenzraum an einem gediegenen Konferenztisch. „Nein“, brummt der Mann auf die Frage, ob er nicht doch ablegen möchte, „nein, nein“, meint er versunken zwischen den blauen Kragenspitzen, „das ist mein Zelt“. Wozu er ein Zelt braucht in der 15. Etage eines Bürohauses, sagt er nicht. Wohl kaum, um sich zu verstecken. Wolf Wondratschek ist kein Mann, der sich klein macht, der ausweicht. Er geht die Dinge gern direkt an. Das merkt man schnell, wenn man ihm begegnet. Er schaut länger hin, genauer als üblich, nicht zuletzt in das Gesicht seines Gegenübers. Man kann das als Prüfung auffassen, als Herausforderung. Dann ist es leicht, eine solide Abneigung zu ihm zu entwickeln. Wondratschek wird einem in diesem Fall nichts schuldig bleiben. Er ist ein Gegner von wilder Entschlossenheit. Man kann seinen Blick aber auch als Zeichen von Interesse verstehen, von Neugier auf ein ihm noch unbekanntes Exemplar jener wandlungsreichen Spezies namens Mensch. In diesem Fall wird einem Wondratschek, erweist man sich als genauso neugierig, ebenfalls nichts schuldig bleiben. Denn soviel ist sicher, Wondratschek gehört zu den eigenwilligen Exemplaren der genannten Art. Er war erst vierundzwanzig, also tatsächlich – und nicht nur nach den Maßstäben unseres Literaturbetriebs – jung als er sich entschloss, Schriftsteller zu werden. Mit einem seiner ersten Gedichte „Als Alfred Jarry merkte, dass seine Mutter eine Jungfrau war, bestieg er sein Fahrrad“ gewann er den Leonce-und-Lena-Preis. Mit einem seiner ersten Hörspiele den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Das war 1968 und 1969. Seither hat er sieben Gedicht- und einige Prosabände veröffentlicht, einen Haufen Reportagen, einen Roman und jetzt den Erzählungsband „Die große Beleidigung“. Doch einen Preis hat er nie wieder bekommen. Was ein veritables Kunststück ist, wenn man bedenkt, dass in Deutschland pro Jahr rund 700 Literaturauszeichnungen vergeben werden. Zumal hinter dem Ausbleiben der allgemeinen Anerkennung keineswegs schreiberisches Unvermögen des Autors Wondratschek steckt. Er ist ein exzellenter, von vielen Redaktionen begehrter Reporter, seiner Prosa wird hohe Präzision und Sensibilität nachgerühmt und seine Lyrikbände erreichten – um hier einmal die Größe seine Leserschaft anzudeuten – eine Gesamtauflage von weit (?) über 100000 Exemplaren. Womit er selbst die unumstrittenen Stars und Nobelpreisträger der Versschmiedebranche vor Neid erblassen lässt. Nein, die mangelnde Anerkennung für ihn hat andere Gründe. Gründe, die manches über unseren Literaturbetrieb verraten, viel über Wondratschek selbst und auch etwas darüber, weshalb manche Leute selbst im 15. Stock gern ein Zelt zur Hand haben. Wondratschek ist, was man einen Einzelgänger nennt. Lieber lebt er allein, spartanisch, in verwitternder Eleganz, als dass er bereit wäre, sich auf die Monotonie und die Konventionen eines geordneten Berufslebens einzulassen. „So ist das eben“, heißt es in einer Geschichten über Nelson Algren, einen seiner literarischen Hausheiligen, „Einsamkeit ist für einen Schriftsteller das wichtigste. Wenn er das nicht aushält, soll er eben heiraten, ´ne Lebensversicherung abschließen und ein Haus im Grünen mieten, okay, von mir aus. Aber irgendwas muß man eben opfern.“ Allerdings hält sich Wondratschek nicht nur fern vom geordneten Bürgerleben. Die Konventionen des Kulturbetriebs, dessen Hierarchien, Eitelkeiten, Sprachregelungen gehen ihm genauso auf die Nerven – und er ist nicht der Mensch, der hinterm Berg hält, wenn ihn etwas reizt. Dann überkommt ihn der Stolz des Einsamen, der Stolz des vogelfreien Autors, der lieber geradewegs auf vieles verzichtet, als auf leicht gebogenem Weg manches zu bekommen. In solcher Verfassung ist er für Skandale gut, für Beleidigungen, Ausbrüche, theatralische Gesten. Was ihm selten Spitzenplätze auf den Beliebtheitsskalen unseres Literaturbetriebs eintrug. Sympathien en gros verscherzt sich Wondratschek auch durch seine spezifische Zuneigung zu Randfiguren der Gesellschaft. Eine Neigung, die bei ihm oft unterkühlt wirkt, weil sie keinerlei sozialarbeiterischen Züge kennt. Dabei liebt er sie wirklich, die Ganoven, Boxer, Prostituierten, Trinker, all die wüsten Verlierer unserer täglichen Rangeleien ums Weiterkommen. Aber er liebt sie so, wie sie sind. Er entwirft keine Strategien, ihr Los zu verbessern, schon gar nicht dadurch, sie vom Rand der Gesellschaft in deren Mitte zu ziehen. Man hat ihn deshalb gern als Macho abgestempelt, obwohl doch in seiner hoffnungslosen Hingabe an die Halbwelt viel eher Melancholie und Untergangssehnsucht zu finden ist. Seinen Roman hat er über das Leben eines Spielsalonbesitzers geschrieben (?), ein paar seiner besten Reportagen über die Schlachten seiner verlorenen Helden im Ring, und die Hure Domenica, „linkes Fenster, Haus zehn, Herbertstraße“, hat er in einem Prosahymnus verherrlicht, sie als „das Fresko einer Liebesgöttin“ besungen, die an eine „tropische Schlingpflanze“ erinnere, „fett und saftig“, deren „Hüften breit genug“ sind „für viele Männer, für die, die vor mir da waren und die, die nach mir auftauchen werden“. Wondratschek macht ernst, wo andere Autoren weise Worte machen. Literatur ist für ihn zu aller erst dazu da, Erfahrungen, Erlebnisse, Emotion auf Papier zu konservieren – und also ist er auf Erfahrungen, Erlebnisse und Emotionen aus. Das unter deutschen Schriftstellern so beliebte Ziel, klüger zu wirken als die Konkurrenten, abgeklärter, überlegener, kümmert ihn wenig. Wondratschek lässt sich hinreißen, wieder und wieder. Er genießt es, sich hinreißen zu lassen. Sicher, er hat seine literaturhistorischen Hausaufgaben gemacht, er zitiert Baudelaire, Antonin Artaud oder Heine, Wedekind Whitman oder Flaubert kunstgerecht, wann immer er sie brauchen kann. Doch das alles ist er bereit, für eine Sekunde erlebter Poesie hinzugeben, für das plötzliche Erröten einer Nutte, für das Zittern eines Geigenvirtuosen, der das Publikum hasst, weil er vor dessen Augen aus Lampenfieber nie sein ganzes Können entfaltet, für ein paar Westernszenen im Kino, für das Vergnügen, Menschen zu beleidigen, die glauben, über Erfolg oder Misserfolg seiner Bücher entscheiden zu können. Für das Vergnügen, all jene zu verachten, die das nicht verstehen. Wer will, kann ihn unreif nennen. Wondratschek wird ihm da nicht widersprechen. „Ich bin ein Bub“, sagt er, während er an den Mantelknöpfen spielt, „ich experimentiere gern, auch mit der Realität“. Allenfalls wird er fragen, von welcher Form der Reife denn in jenem Vorwurf indirekt die Rede ist, von welcher Form traumloser Nüchternheit. Stunden, Wochen, Jahre habe er, erinnert er sich in einer seiner Geschichten, mit Freunden im Münchner Café Capri vertrödelt, um Mädchenbeine zu bestaunen: „Hin und wieder kam auf der Leopoldstraße der Schriftsteller Reinhard Baumgart vorbei. Er schaute mir in die Augen, wandte sich ab. Ging weiter. Später, als ich in André Gides Tagebuch las, stieß ich auf einen Satz und dabei fiel mir auch der Baumgart wieder ein und sein Blick. Gide schreibt: ‚Sie meinen, man komme nicht mehr vorwärts, sobald man nicht mehr in ihre Richtung geht.‘“ Das allgegenwärtige, ewige Gestrampel, um vorwärts zu kommen, war Wondratschek schon immer wurscht. Wohl auch, weil er sich dazu ebenso wenig eignet wie die Helden seiner Geschichten. Statt dessen wartet er und hält Ausschau. Nach magischen Momenten, nach poetischen Augenblicken, in denen das Leben doch mal über sich hinauswächst – und die es lohnt, in Sprache einzufangen. Glaube niemand, das sei ein bequemer Job. Vermutlich fühlt man sich ziemlich schnell allein dabei, und freut sich, ein Zelt zu haben, in das man sich verkriechen kann, getrieben von unerfüllter Leidenschaft. „Es ist der Fanatismus einer unsicheren, verletzten Frau, die sich betäuben muß mit dem Absoluten,“ hat er einmal über Martina Navratilova geschrieben. „Nur das, nur dieses Absolute verschafft ihr eine vorübergehende Erleichterung.“ In seiner Geschichte jubelt Wondratschek schließlich, weil die alternde Navratilova noch einmal siegt. Siegt, gegen die junge Steffi Graf. Steffi Graf! Wer so was schreibt, darf sich einfach nicht wundern.

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