Gespräch mit Ilse Aichinger über ihr Buch „Film und Verhängnis“, ihre Begegnung mit Dr. Mengele, ihre Leidenschaft für das Kino sowie die Möglichkeit, darin zu verschwinden
Ilse Aichinger, die Grande Dame der österreichischen Literatur veröffentlichte nach 15-jährigem Schweigen 2001 ihr Buch „Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben“. Es handelt zu einem großen Teil vom Kino und von der Pop-Kultur – und erschien zu ihrem 80.Geburtstag. Mit Ilse Aichinger sprachen Richard Reichensperger und Uwe Wittstock.
Uwe Wittstock: Sie schreiben zurzeit an einem „Journal des Verschwindens“. Was ist am Verschwinden für Sie so wichtig? Ilse Aichinger: Verschwinden war mein erster Wunsch. Schon als ich kaum sprechen konnte. Ich habe immer wieder versucht, nicht zu atmen. Oder ich dachte, wenn ich die Augen schließe, bin ich weg. Das hat, wie man sieht, nicht funktioniert.
Wittstock: Aber andere, vor allem Schriftsteller versuchen, möglichst intensiv präsent zu sein, auch in der Öffentlichkeit.
Aichinger: Bei mir ist das anders. Meine Schwester und ich sind identische Zwillinge. Wir sind gewissermaßen Klone, Doppelexistenzen. Da wünscht man sich, gar keine Existenz zu sein, jedenfalls nicht auch noch doppelt. Wir sahen vorerst ganz gleich aus, haben noch immer die gleichen Stimmen. Immer wieder kam die Frage: Die eine oder die andere. Ich wollte dann schon lieber die andere sein, die eine keinesfalls. Und dann auch mein Vater, den wir mochten, der aber doch so eine Figur war wie der herumstreifende Vater bei Danilo Kis. Er kaufte zum Beispiel, ohne das Geld zu haben, immer Bücher, und zwar oft identische Ausgaben. Als ob identische Zwillinge noch nicht ausreichten. In jedem Buchladen, in den meine Mutter kam, wurden ihr die Schulden meines Vaters präsentiert. Meine Mutter musste sich in dieser Lage, sie war eine der frühesten Ärztinnen in Wien, scheiden lassen, um wenigstens ihr damals kleines, eigenes Gehalt für uns zu retten. Als Kind kommt man in dieser Lage schon auf die Idee, es sei besser, nicht da zu sein. Und dann, auf anderer Ebene, was die literarische Öffentlichkeit betrifft: Ich verstehe sie nicht. Ich fand Schreiben nie so wertvoll: schlechte Wörter, wie in einem späten Text, waren immer mein Ziel, das Zweitbeste, der Rand, die Peripherie, nicht schöne Sätze in schönen Journalen.
Richard Reichensperger: „Ich ist ein anderer“, meinte Rimbaud, und verschwand ziemlich schnell – zumindest aus der Welt der Literatur.
Aichinger: Aber mich haben immer nur andere „Ichs“ interessiert, nicht das eigene. Die vergessenen Gestalten am Rand, die armseligen Frauen, die in die Küche meiner Großmutter zu Besuch kamen. Und: Die Brutalität der Geschichte ist auch stärker als das „Ich“, metzelt es nieder. Aleksandar Tisma hat das sehr gut benannt, als „Der Gebrauch des Menschen“. Einem solchen Gebrauch waren wir früh ausgesetzt. Einer der autobiografischen Texte im Buch wird ein frühes und prägendes Erlebnis erzählen: Eines Tages, meine Schwester und ich waren neun Jahre alt, kam ein Arzt, um uns zu besuchen. Er bat meine Mutter, mit uns sprechen zu dürfen, da er Zwillingsforschung betreibe. Er stellte dann viele Fragen, aber meine Schwester und ich hatten Angst und haben ihm nicht viel gesagt. Er ging dann bald wieder, und wir fragten unsere Mutter: Wer war dieser Herr? Und sie sagte nur: „Dr. Mengele.“ Wir waren ihm sozusagen entronnen, weil die Nationalsozialisten, unter denen er eine große Karriere machte, noch nicht an der Macht waren. So wie bei ihm verläuft der Gebrauch des Menschen. <strong>
Wittstock: Sie und Ihre Mutter haben die Kriegsjahre hier in Wien überlebt.
Aichinger: Ich habe in diesen Jahren viel gelernt. Auch über die Stadt und die Menschen. In Berlin wurden die Juden nachts verhaftet und abtransportiert. In Wien wurde man am Tag geholt. Die meisten Wiener sahen ganz gern zu. Meine Schwester war mit einem der letzten Kindertransporte nach London gekommen. Diese Fügung war auch insofern glücklich, als dass meine Schwester und ich so zum ersten mal getrennt waren, sie in England, ich in Wien. So waren wir zum ersten Mal zwei verschiedene Personen. Aber das hat meinen Wunsch zu verschwinden, auch nicht zum Verschwinden gebracht. <strong>
Wittstock: Was tun Sie, um zu verschwinden?
Aichinger: Ich gehe ins Kino. Oft komme ich zu spät. So bin ich gleich nicht da. Endlich ein Privileg. Der Ehrgeiz, wenigstens kurz nicht zu existieren, hat ein Ziel gefunden. Ich halte es noch immer für ein Privileg, nicht zu existieren. Ich gehe ins Kino, der Vorhang öffnet sich, der Film beginnt, und ich bin für zwei Stunden nicht mehr da. Ich bin verschwunden. Ich bin im Film.
Wittstock: Sie wollen Ihrem Journal des Verschwindens den Titel „Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben“ geben. Was ist das Verhängnisvolle am Film?
Aichinger: Nicht am Film. Film ist für mich Glück. Film ist die Glücksmöglichkeit, die ich habe. Aber im Glück liegt immer auch das Verhängnis. Dem kann man nicht ausweichen, es ist die Verbindung mit der Biografie, in der ich auch Film erlebe. Es gibt kein Glück ohne Verhängnis: So liebte schon die jüngste Schwester meiner Mutter das Kino. Sie war Pianistin, aber immer, wenn sie nicht üben musste, ging sie ins Kino, in der Gegend Wiens, wo der Wind schon aus dem Osten herüberbläst. Sie hatte über die Musik schwedische Freunde und hätte 1939 noch nach Schweden fliehen können. Aber sie fürchtete Verkühlungen und noch mehr die schwedischen Kinos. Sie wollte Klavier spielen und ins Kino gehen, beides um jeden Preis. Der Preis war dann ihr Leben. Verhängnis kommt leicht ohne Glück aus, Glück kaum ohne Verhängnis. <strong>
Reichensperger: Schon in Ihrem Roman „Die größere Hoffnung“ (1947) schreiben Sie über die Kinoleidenschaft ihrer „Tante Sonja“ und auch in „Kleist Moos Fasane“ werden in der Küche der Großmutter immer die Kinoprogramme besprochen. Warum spielt Film in Ihrer Literatur eine so große Rolle?
Aichinger: Weil der Film in meinem Leben eine so große Rolle spielt. Vielleicht braucht es solche tief in die Vergangenheit hinabreichende Wurzeln, damit eine Leidenschaft wirklich blühen kann. Ich bin sicher angesteckt worden durch die Kino-Verrücktheit meiner Tante. <strong>
Reichensperger: Schon in Ihrem Buch „Schlechte Wörter“ wollten Sie die Literatur verlassen. Und vor einigen Jahren sagten Sie: „Ich glaube schon, dass Kino ein stärkeres Medium als Literatur ist. Ich weiß nicht, ob die Jugend in der Literatur die Leitfiguren findet, die sie braucht. Eddie Constantine zum Beispiel hatte eine solche Komik und Gelassenheit, dass man von ihm, wenn man ihn öfter gesehen hat, Gelassenheit lernen konnte.“ Sie gehen hier auf die Jugend zu und empfehlen ihr Gelassenheit. Diese könne sie aber nur in anderen Medien lernen. Finden Sie Kino wirklich wichtiger als Literatur?
Aichinger: Als die meinige sicherlich. Das Kino liefert mir Geschichte und andere Identitäten, wie sonst nur Literatur in der Qualität von Faulkner oder Claude Simon. Es geht mir bis heute so: Wenn man aus dem Kino kommt, braucht man erst einmal eine Weile um zu begreifen, dass man seine Identität gewechselt hat, dass man in einem Gangsterfilm war und nicht zum FBI gehört. Die Identifikationen, die das Kino zu schaffen vermag, sind ein großes Glück – auch wenn sie eine Fiktion sind. Deshalb ist mein Verhältnis zum Film so viel emotionaler als zur Literatur: Die Identifikation im Kino sind unbedingt oder gar nicht. Sie sind rasch und absurd, können zu Glück oder Unglück führen. Täglich kann ich über einen schlechten Film in Verzweiflung geraten. Solch schlechte Filme überzeugen mich dann weder von der Existenz noch der Nichtexistenz. Während, als die Beatles in „A Hard Day’s Night“ im letzten Herbst wieder in Wien auftauchten – da erinnerte ich mich an meine erste Reise nach England 1948, an den Staub dort, an das andere, befreite Licht nach dem Krieg.
Wittstock: Kaum jemand kann so genau Licht, Farben, Gerüche in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick beschreiben wie Sie in diesen Texten. Verdanken Sie das auch dem Sehen von Bildern im Kino? Und wie erfassen diese Bilder den geschichtlichen „Augenblick der Gefahr“, wie das Walter Benjamin nennt?
Aichinger: Ich war zum Beispiel im Kino, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Und am Ende des Krieges kam ich in ein Kino, da sprach mich die Kinokassiererin an: „Wenn sie wissen wollen, was mit ihren Verwandten geschehen ist, kommen sie dann und dann zu mir an die Kasse“. Meine Großmutter und die Geschwister meiner Mutter waren 1942 verhaftet und deportiert worden, und ich hoffte, erstmals hier an der Kinokasse eine Nachricht zu bekommen. Aber die Nachricht blieb aus: Als ich zum verabredeten Zeitpunkt zu ihr an die Kasse ging, sagte sie: „Ich glaube, es ist besser, Sie erfahren es nicht“. Aber vielleicht will ich es immer noch genauer erfahren. Ich will diesen Moment, diesen Riss in der Geschichte, den Augenblick der Gefahr, wo Vergangenheit in der Gegenwart aufspringt, sichtbar machen. Immer wieder.
Das Gespräch erschien in der „Welt“ vom 25. August 2001