„Der menschliche Makel“

Philip Roth erzählt von einem Schwarzen, der das Leben eines Weißen lebt

Was für ein Roman! Was für ein ungeheurer, großartiger, menschenkluger Roman! Philip Roth, diese hoch empfindsame Kämpfernatur unter den amerikanischen Erzählern, hat für vier seiner jüngsten Bücher vier der wichtigsten Literaturpreise seines Landes bekommen. Für ihn scheint es kein Halten mehr zu geben beim Aufstieg auf der nach oben offenen Skala schriftstellerischer Meisterschaft. Roth, der mit „Goodbye, Columbus“ und „Portnoys Beschwerden“ als junger Mann bereits zum Weltstar wurde, der sich zwischendurch immer wieder mal in Spiegellabyrinthe literarischer Selbstreflexion zurückzog, legt seit einem knappen Jahrzehnt ein Spätwerk hin, das seine Kollegen vor Neid erblassen und seine Leser vor Glück erröten lässt. Wer ist Coleman Silk? Im Grunde versucht Roths neuer Roman „Der menschliche Makel“ nichts anderes, als eine Antwort auf diese Frage zu finden. Silk ist ein gut 70-jähriger jüdischer Professor, der sein halbes Leben lang an einem Ostküsten-College Altphilologie lehrte. Als Dekan hat er für das College eine Menge Kastanien aus dem Feuer geholt, sich aber auch eine Menge Feinde gemacht. Einige dieser Feinde blasen eine harmlose Bemerkung Silks, von der sich zwei farbige Studenten diskriminiert fühlen, zum Skandal auf. Silk verteidigt sich aggressiv und bissig. Doch als seine Frau überraschend stirbt, zieht er sich verbittert von dem College zurück. Ist Coleman Silk also ein Rassist? Oder ein Opfer engstirniger Anschuldigungen? Dieser Auftakt von Roths neuem Roman klingt noch nicht sehr originell: Ein weiteres Campusdrama, ein weiteres Trauerspiel um die absurden Folgen der political correctness, des Lieblingsfetischs öffentlicher amerikanischer Debatten. Doch dieser leicht konventionelle Beginn ist letztlich nur das formale Pendant zu dem konventionellen Eindruck, den Coleman Silk und sein Leben auf den ersten Blick machen. Auf den zweiten Blick ist alles ganz anders. Denn Coleman Silk ist weder ein Jude noch ein Weißer. Er ist ein Schwarzer mit ungewöhnlich heller Haut. Als Sohn schwarzer Eltern wuchs er in den Zeiten der Rassentrennung unter Schwarzen auf. Doch sobald er die Demütigungen und beruflichen Nachteile, denen ein Schwarzer seines Jahrgangs ausgesetzt war, zu spüren bekommt, trifft er eine rabiate Entscheidung: Beim Eintritt in die U.S. Navy gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verleugnet er seine Herkunft, bricht mit seiner schwarzen Familie und lebt fortan das Leben eines Weißen. Da er in seiner Jugend im Boxclub viel Zeit mit jüdischen Altersgenossen verbrachte und er sich in eine Jüdin verliebt, gibt er sich zudem als Jude aus, studiert Altphilologie – das denkbar „weißeste“ Fach – und macht eine von Rassenressentiments nicht weiter beeinträchtigte Karriere. Wer also ist Coleman Silk? Ein Mensch, der darauf besteht, nicht nach seiner Hautfarbe beurteilt zu werden, sondern nach seiner Persönlichkeit? Zu seiner Zeit hätte er schwerlich eine Chance gehabt, Professor zu werden, ja kaum Gelegenheit, das Fach zu studieren, an dem sein Herz hing. Oder ist er ein Mensch, der – als sich in den USA die großen Konflikte zwischen Schwarzen und Weißen anbahnten – schlicht den bequemeren, persönlich vorteilhafteren Weg eingeschlagen hat? Was ist das für ein Mensch, der seine Vergangenheit hinter sich lässt wie einen ausgelutschten Kaugummi, der seiner Mutter ins Gesicht sagt, dass er sie nie wieder sehen will, weil er durch sie als Schwarzer erkennbar wird? Was ist das für ein Leben, in dem Silk – einem alten amerikanischen Traum folgend – sich vollkommen neu und ganz aus eigener Kraft selbst zu erfinden versucht? Gründlicher und ernster lässt sich die Frage, was Identität ist und wie sie konstruiert wird, wohl kaum stellen. Dennoch wirkt Roths Romanhandlung nie künstlich oder an den Haaren herbeigezogen. Schicksale wie die Silks hat es in Amerika tatsächlich gegeben, nicht zuletzt im Literaturbetrieb. 1990 starb der Kritiker Anatole Broyard – als Rezensent der „New York Times“ einer der bekannten Literaturjournalisten des Landes -, der zeitlebens als Weißer auftrat, aber schwarze Eltern hatte. Selbst in seiner Autobiografie („Verrückt nach Kafka“. Berlin Verlag, Berlin 2001, 189 Seiten 18 Euro) und selbst den eigenen Kindern gegenüber versuchte er, sein Geheimnis zu wahren. Es gibt einen Haufen Hinweise, dass sich Roth für seinen Roman durch Anatole Broyards Leben hat anregen lassen. Der deutlichste ist, dass Coleman (im Namen schwingt „coal“ mit, „Kohle“, das schwärzeste Schwarz) Silk ebenso wie Broyard seine kulturellen Prägungen im New Yorker Greenwich Village der späten vierziger, frühen fünfziger Jahre erlebt. Die Zeit der Beat-Poeten, des Jazz, der frühen, noch zaghaften Jugendrebellionen und des forcierten Individualismus bestärken Silk in der Idee, sich zum alleinigen Herren seines Geschicks zu machen und keinerlei Einschränkungen durch seine Geburt zu akzeptieren. Doch trotz seiner perfekten Mimikry ans weiße akademische Milieu kann Silk die Spuren seiner Herkunft nicht abschütteln. Seine Aggressivität, seine Kompromisslosigkeit, seine Rothsche Kämpfernatur lässt noch immer spüren, dass er einst einer diskriminierten Minderheit angehörte, der nichts geschenkt wurde. Als Dekan verleiht ihm dies das nötige Durchsetzungsvermögen, um das College in Schwung zu bringen. Doch als man ihm, einem heimlichen Schwarzen, vorwirft, Schwarze abfällig zu behandeln, ist es gerade seine Boxermentalität, die es ihm unmöglich macht, die Vorwürfe still zu entkräften. Stattdessen steigt er in den Ring, verteidigt sich lautstark und herausfordernd und schürt so den Skandal immer mehr. Wer also ist Coleman Silk? Was macht einen Menschen aus? Das Bild, das der Menschenkenner Philip Roth entwirft, hält sich fern von allen modischen Einseitigkeiten, die unsere Persönlichkeit allein als Ergebnis sozialer Konstruktion ausgeben oder allein als Produkt der Gene betrachten – mit deren Entschlüsselung das Buch des Lebens ohnehin enträtselt sei. Doch damit gibt sich Roth nicht zufrieden, sein Roman versucht, noch tiefer „in das Leben in all seiner schamlosen Schlüpfrigkeit“ einzudringen: So, als wolle er den Skandal selbst nach seinem Ausscheiden aus dem College weiter anheizen, lässt sich der gut 70-jährige Altphilologe Silk auf eine Affäre mit einer gerade 34-jährigen Putzfrau ein, die angeblich weder lesen noch schreiben kann. Eine Konstellation, die Roth Gelegenheit gibt, seinem ganzen jugendfrischen Hass auf die Prüderie und Selbstgerechtigkeit großer Teile der amerikanischen Bevölkerung freien Lauf zu lassen. In seinen Augen hat sich seit Hawthornes Zeiten an der amerikanischen Neigung zur Bigotterie und Hexenjagd kaum etwas geändert. Nicht zufällig siedelt er die Romanhandlung im Sommer 1998 an, als Bill Clinton wegen seines gänzlich unpolitischen Fehltrittes mit Monica Lewinsky um ein Haar sein Präsidentenamt verloren hätte. Die ganze Wahrheit über Coleman Silk kennt nämlich nicht einmal Coleman Silk. Ein Teil davon wird ihm erst von der unstandesgemäßen Putzfrau Faunia (in ihrem Namen schwingt „Fauna“, die Welt der Tiere, mit) ins Bewusstsein gerückt. Nicht zarte Liebe ist es, die diese beiden aneinander kettet. Auch nicht der Trost, den sich zwei soziale Außenseiter – der stigmatisierte Professor und die Analphabetin – gegenseitig spenden. Es ist der Sex, der sie wider jede Klugheit aneinander festhalten lässt, es ist die bloße, nackte Kraft animalischer Triebe. Und dieser Grund ist, so macht Roth unmissverständlich klar, nicht schlechter als andere Gründe, denn Sex ist ein vitaler, unersetzbarer Teil des Menschen. Der Roman „Der menschliche Makel“ erweist sich damit auch als eine groß angelegte Verteidigungsrede des Körpers gegen die angeblich guten Sitten, eine Apologie der Lust gegen die Vernunft, des anarchischen Eros gegen jede soziale Ordnung. Zur Größe und Schönheit dieses Romans gehört nicht zuletzt, dass es Roth gelingt, nicht nur den beiden Helden Coleman und Faunia, sondern auch deren Feinden gerecht zu werden. Er vermag dem Leser die Seele einer gehemmten akademischen Karrieristin ebenso plausibel aufzuschließen wie die eines paranoiden, gewalttätigen Vietnam-Veteranen. Aber er verurteilt seine Figuren nicht und raubt ihnen nicht jedes Geheimnis. Gegen Ende des Buches erfährt der Erzähler beispielsweise, dass Faunia, die Analphabetin, ein Tagebuch geschrieben hat, das er nur zu gern lesen würde, das er aber nicht in seinen Besitz bringen kann. Mit diesem Kunstgriff erreicht Roth zwei gegensätzliche Ziele zugleich: Er lässt seine Geschichte noch realistischer wirken und sät beim Leser zugleich gezielt Zweifel an ihrer Authentizität: „Ich kann nur tun“, schreibt Roth, „was jeder tut, der zu wissen glaubt. Ich stelle mir etwas vor. Ich bin gezwungen, mir etwas vorzustellen. Das ist zufällig das, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Es ist mein Beruf.“ „Der menschliche Makel“ zeigt mithin nicht nur, welches unerforschliche Rätsel jeder einzelne Mensch für immer bleibt. Das Buch zeigt auch, mit welch einfachen Mitteln ein wahrer Meister seines Faches wie Philip Roth das traditionelle Erzählen samt Figurenpsychologie und spannender Handlung mit der strengen Forderung der literarischen Moderne nach perspektivischer Wahrheit vereinen kann. Was für ein Roman! Was für ein ungeheurer, großartiger, menschenkluger Roman!

Philip Roth: „Der menschliche Makel“. Roman Hanser Verlag, München 2002. 399 S., 24,90 Euro.

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„Gertrude und Claudius“

John Updikes Hamlet-Roman – fast ohne Hamlet
Erstickt die Ehe alle Lust zwischen zwei Liebenden? Darf man wirklich hoffen, jahrzehntelang mit einem Menschen zusammenzuleben, in enger Vertrautheit, Treue und Intimität, und bei ihm trotzdem noch so etwas wie sexuelle Spannung, wie erotisches Fieber zu empfinden? Oder werden wir durch solche romantischen Erwartungen nur schmerzlich überfordert? Mündet also jede Liebe letztlich in den Verrat: entweder in den Verrat an der Lust durch die eheliche Treue, oder in den Verrat an der Treue durch Ehebruch? Werden wir folglich durch die Liebe, diese Himmelsmacht, und durch den Sex, diese sehr irdische Macht, unausweichlich zu Sündern gegen uns selbst oder gegen unsere Liebsten – und also, wenn man denn an ihn glaubt, auch zu Sündern vor Gott? Seit 40 Jahren hat John Updike Fragen wie diesen nachgespürt. Er ist darüber zu dem Chronisten der amerikanischen Gesellschaft geworden. Wer sich ein Bild davon machen möchte, wie der Mittelstand zwischen New York und Arizona, zwischen Florida und Kansas lebt und liebt, wie man in den Kennedy-Jahren, der Vietnamzeit oder der Reagan-Ära, in der Epoche des New Age, der Yuppies oder Baby-Boomer begehrte, betrog und büßte, der kommt um die Lektüre von Updikes Büchern nicht herum. Ihn den Balzac unserer Jahre zu nennen, ist nicht übertrieben. Er hat die feinen Valeurs und oft unfeinen Fantasien, die nur eingebildeten oder lang verleugneten Krisen im Seelenleben eines Durchschnitts-Wohlstandsbürgers nicht einfach nur nachgezeichnet – er hat sie durch seine Kunst oft überhaupt erst sichtbar gemacht und ins allgemeine Bewusstsein gehoben. So darf man ihn, John Updike, getrost zu jenen Autoren zählen, die das 20. Jahrhundert literarisch erfunden haben. Was sucht ein solcher Schriftsteller im Dänemark des finsteren Frühfeudalismus? Was geschieht, wenn es sich ein solcher Autor in den Kopf setzt, nicht die Bungalows einer amerikanischen Suburb zum Schauplatz zu wählen, sondern den Königspalast von Helsingør, wenn er nicht von Autohändlern oder Werbefachleuten erzählt, sondern von brutalen Herrschern und alerten Thronräubern, von hinterhältigen Hofschranzen und lieblichen Prinzessinnen? An einen solchen Ausflug zu fernen literarischen Ufern wagt sich Updike in „Gertrude und Claudius“. Thema sind die Vorgeschichten von Shakespeares „Hamlet“, jene Geschehnisse und Intrigen also, die der ersten Szene des Stückes vorausgehen. Updike reiht sich damit ein unter jene namhaften Autoren, die – von Stendhal über Dumas und Turgenjew bis Gerhard Hauptmann und Döblin, Tom Stoppard und Heiner Müller -, gebannt durch das vielleicht größte Drama der Weltliteratur, den Hamlet-Stoff auf ihre je individuelle Weise bearbeiteten. Schon die Exposition der Geschichte zeigt, worauf sich Updike eingelassen hat. Nichts von dem, was zu diesem Auftakt gehört, wäre denkbar unter den bürgerlich geordneten Suburb-Verhältnissen, in denen sich seine Helden sonst bewegen: Die 16-jährige Gertrude wird von ihrem Vater, dem dänischen König, aus Staatsräson in die Ehe mit einem fast doppelt so alten Horwendil gezwungen, der sich durch diese Verbindung Hoffnungen machen darf, zum Thronfolger zu avancieren. Horwendils jüngerer Bruder Claudius, der aus ganz unpolitischen, romantischen Gründen ein Auge auf Gertrude geworden hat, verlässt das Land, um als Abenteurer durch Europa zu streunen. Erstaunlich ist, wie wenig Updike das fremde literarische Terrain ausmacht, auf dem er sich erzählerisch bewegen muss. Gelassen nimmt er die historischen Prämissen seines Stoffes in Kauf, die es gebieten, das Leben einer Prinzessin nur unter heiratspolitischen Gesichtspunkten zu betrachten, um dann mit seiner ganzen Erfahrung und psychologischen Kennerschaft die Strukturen einer kühlen, mitunter lieblosen, immer aber von gegenseitigen Respekt geprägten – bürgerlichen – Ehe nachzuzeichnen. Gertrudes Blick auf Claudius ist nie der einer Feudalherrin auf den König an ihrer Seite, sondern immer der einer Frau des 20. Jahrhunderts, die mit Verblüffung und ein wenig Mitleid registriert, wie sehr sich ihr Mann in seiner Arbeit verliert und emotional erschöpft. Natürlich könnte man Updike aus all dem einen Vorwurf machen, könnte ihm vorhalten, dass er seine Figuren letztlich ahistorisch zeichnet. Unter den altertümlichen Kostümen stecken Mittelstandsamerikaner, die auf die Zumutungen, die das Leben am Hof von Helsingør für sie bereit hält, reagieren, wie man heutzutage auf die Widrigkeiten des Lebens reagiert. Nie ist bei Gertrude etwas von den Denkformen ihres Jahrhunderts, nie aristokratischer Stolz oder auch Dünkel zu spüren, immer dagegen das aufgeklärte, zwar verständnisvolle, aber tief melancholische Verhältnis einer liebesbedürftigen Frau zu ihrem gefühlsarmen Mann. Doch wenn man sich darauf einlässt, in diesem Roman mehr über unsere Gegenwart zu erfahren als über die Menschen zur Zeit Hamlets, entdeckt man seine Qualitäten. Vor allem das ebenso behutsame wie besonnene Liebeswerben von Claudius, der nach Jahrzehnten an den dänischen Hof zurückkehrt, ohne seine Leidenschaft für Gertrude überwunden zu haben, sein gefühlssicherer Wechsel zwischen Bedrängen und Zögern, Schenken und Fordern, ist mit großem psychologischen Raffinement inszeniert. Updikes Roman ist ein eigenwilliges Kabinettstück, eine gekonnte Spielerei eines unbestreitbaren Meisters. Aber er ist kein unbestreitbares Meisterstück. Er zeigt, mit welch sparsamen Mitteln dieser Autor Atmosphäre schaffen, psychologisch spannende Geschichten erzählen und glaubwürdige Charaktere entwerfen kann – allerdings Charaktere unserer Gegenwart. Vielleicht war es deshalb auch klug von ihm, seine Geschichte vor dem großen, letztlich todbringenden Auftritt Hamlets zu beenden. Denn diese Figur und ihre Konflikte – noch dazu in literarischer Konkurrenz zum übermächtigen Shakespeare – ließen sich vermutlich kaum ohne schmerzlich spürbare Defizite einem seiner liebevoll gezeichneten Duchschnitts-Wohlstandsbürgern anverwandeln.

John Updike: „Gertrude und Claudius“. Roman Aus dem Amerikanischen von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001 240 Seinten, 39,92 Mark.

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„Die schwimmende Oper“

Urvater der Postmoderne: John Barth und sein erster Roman

Todd Andrews ist ein geheimnisvoller Mann. Ein Rätsel nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst. Aus welchem Grund hat er an einem sonnigen Juni-Morgen des Jahres 1937 eine tiefgreifende Entscheidung getroffen – nämlich die, sich umzubringen – und die Entscheidung dann doch nicht ausgeführt? Von einem ziemlich handfesten Versuch abgesehen, der beträchtliche Kollateralschäden hätte nach sich ziehen können. Wie trifft man Entscheidungen, und wie oder warum ändert man dann wieder seine Meinung? 17 Jahre lang hat Todd Andrews solchenFragen nachgesonnen, bevor er als wohlbestallter Rechtsanwalt von 54 Jahren beginnt, jenen Juni-Tag erzählend als Roman zu rekonstruieren, um sich selbst und seinen Entscheidungen auf die Spur zu kommen. Ein solches Buch ist natürlich beides zugleich, todernst und nicht ganz ernst gemeint – zumindest, wenn es von John Barth stammt, einem der wenigen großen amerikanischen Romanciers, die sich trotz respektabler Erfolge in ihrer Heimat bei uns nie durchsetzen konnten. Die schräge, mit Philosophie eher spielende als philosophieschwere Geschichte über Todd Andrews war das erste Buch, das Barth publizierte, im Alter von 26 Jahren, und das ihm gleich eine Nominierung für den National Book Award eintrug. Seither zählt Barth neben Leslie A. Fiedler, Susan Sontag, Thomas Pynchon und William Gaddis zu den Autoren, die als erste jene Zweifel an den Grundüberzeugungen der literarischen Moderne formulierten, die wir heute unter dem ausgefransten Begriff Postmoderne zusammenfassen. So treiben den Anwalt Todd Andrews in seinem Buch die typischen Zweifel der Moderne am Geschichtenerzählen um, also am kunstvollen Verknüpfen von Ereignissen zu zielgerichteten, kohärenten Handlungen. Denn wenn sich für einen Romanhelden nicht einmal mehr ausmachen lässt, weshalb er seine wesentlichste Lebensentscheidung trifft, die Entscheidungen zwischen Sein oder Nicht-Sein, wie soll das Verhalten der Menschen in einem Roman überhaupt noch überzeugend motiviert werden? Doch anders als die Autoren der Moderne gibt Barth deshalb das Erzählen nicht einfach auf, sondern strickt aus eben jenen Zweifeln und dem Zweifler selbst eine funkelnde, hoch intelligente, schwungvolle und amüsante Geschichte. Für dieses Erzählen über die Zweifel am Erzählen haben Literaturwissenschaftler später das Etikett „Metafiction“ geprägt. Was bietet Andrews nicht alles auf, um sich über die Ursachen seines Todeswunsches klar zu werden: seine Herzkrankheit, seine Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg, den Selbstmord seines Vaters, das Verhältnis mit der Frau seines besten Freundes und Klienten. Keiner dieser Gründe ist zwingend, aber über jeden weiß Andrews so wunderbar zu erzählen, dass man sich als Leser an jenem großen unlösbaren Rätsel des Warum schlicht und herzerwärmend zu freuen beginnt.

John Barth: „Die schwimmende Oper“. Roman
Aus dem Amerikanischen von Matthias Müller
Verlag Liebeskind, München 2001 331 S., 39,02 Mark

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Das Gebot mit dem Freund der Freundin zu schlafen

Zur Debatte um die Kleistpreisträgerin Judith Hermann

Es ist immer schön, auf Leute zu treffen, die ganz genau Bescheid wissen. Dorothea Dieckmann zum Beispiel weiß genau Bescheid, was Literatur ist und was Trivialliteratur (siehe „Die Zeit“ vom 22. November). Und weil sie das so genau weiß, möchte sie, dass die Grenze zwischen beidem auch öffentlich wieder messerscharf gezogen wird, damit – was ihr große Sorgen bereitet – „nicht länger neben Reinhard Jirgl und Elfriede Jelinek eine Zoë Jenny, neben Wolfgang Hilbig oder Peter Handke eine Judith Hermann, neben W. G. Sebald die Plattitüden eines Dietrich Schwanitz oder ein Romänchen von Elke Schmitter und neben Brigitte Kronauer etwa der Berufspubertäre Christian Kracht oder die Altmännerbekenntnisse eines Hellmuth Karasek stehen.“ Schön, wie gesagt, dass es jemanden gibt, der so genau Bescheid weiß, schön, dass es sie immer noch gibt, diese Platzanweiser unseres Kulturbetriebs, die eifrig darüber wachen, wer neben wem stehen darf und wer nicht. Nun wurde aber just am vergangenen Wochenende Judith Hermann, also einer jener Autorinnen, die Dorothea Dieckmann vom Höhenkamm der Literatur ins Flachland der Trivialliteratur verdammt, durch Michael Naumann – den ehemaligen Kulturstaatsminister und jetzigen Herausgeber der „Zeit“ – mit dem Kleistpreis eine der wichtigsten Literaturauszeichnungen des Landes zugesprochen und verliehen. Offenbar gibt es also Menschen, die zu anderen ästhetischen Urteilen kommen als Dorothea Dieckmann, obwohl die doch so genau Bescheid weiß – und so wächst die Neugier (beim Autor dieser Zeilen vor allem mit Blick auf Judith Hermann), all die vielen sorgfältig erwogenen Kriterien kennen zu lernen, die sie in ihrem Urteil so sicher, so unerschütterlich machen. Allein, sie hat keine. Zumindest gibt sie uns über diese keine Auskunft. Sie weiß zwar eine Menge Übles über Schriftsteller zu sagen, die sie augenscheinlich nicht mag – so zum Beispiel, dass es die „kühle Sinnlichkeit“ junger Autorinnen gebiete, „mit dem Freund der besten Freundin zu schlafen“ – doch wie sie zu ihren bemerkenswerten Überzeugungen kommt, verrät sie uns nicht. Sie geißelt „programmierte Schamlosigkeiten“, „abgesunkene Metaphern“, „vernutzte Wortgesten“ und (einen Feuilleton-Artikel schreibend) „gespreizte Feuilletonwendungen“ – und wer geißelt die nicht gern mit ihr? Doch bekanntlich verstehen die Leser unter den Begriffen, mit denen Dorothea Dieckmann hier so fleißig fuchtelt, nie das gleiche, sondern tarnen damit notdürftig ihren persönlichen Geschmack, also ihre – dem je individuellen Bildungsgang geschuldeten – ästhetischen Idiosynkrasien. Allenfalls ex negativo lässt sich ein einziges Kriterium für Dorothea Dieckmanns scharfrichterliche Literaturrechtsprechung erschließen: Rainald Goetz attestiert sie, ein „Brett“ vorm Kopf zu haben, denn was er schreibe, koste ihn „keine Überwindung. Es kommt nicht aus dem Schweigen, sondern ist Teil des Geschwätzes“. Nun ist auch der indirekte Hinweis, die hohe, die hehre Literatur habe „aus dem Schweigen“ zu kommen nicht eben präzise. Wir beeilen uns trotzdem, ihm nachzugehen, in der kühnen Hoffnung unsrer literaturkritischen Sache irgendwann ebenso sicher zu sein wie diese Autorin. Kann es sein, dass hinter diesem Kriterium die Grundüberzeugung der literarischen Moderne steht, unsere Sprache sei durch den Journalismus („gespreizte Feuilletonwendungen“) und das Alltagsgerede („Nachmittagstalkshow“) so abgenutzt, dass sich mit ihr das Wahre, Schöne, Gute überhaupt nicht mehr formulieren lässt? Dass also den besten Schriftstellern die Worte wie modrige Pilze im Mund zerfallen? Dass sich diese Schriftsteller deshalb ins Schweigen zurückziehen? Dass jedes ernst zu nehmende literarische Werk diesem Schweigen abgerungen und in einer neuen, bislang unbekannten, innovativen Sprache verfasst sein muss? So predigten es die Klassiker der Moderne. Kann es sein, fragen wir uns da, dass Dorothea Dieckmann nicht bemerkt hat, wie alt diese reine Lehre inzwischen ist, nämlich gut hundert Jahre, schaut man genauer hin fast zweihundert Jahre? Dass sie mithin inzwischen nicht mehr innovativ, sondern selbst zum Klischee geworden ist? Dass Schriftsteller, die unermüdlich darauf bestehen, ihre Werke „aus dem Schweigen“ kommen zu lassen, inzwischen meist gut abgehangene Kopien fünfzig, siebzig, achtzig Jahre alter Experimente abliefern? Dass mithin die gute alte literarische Moderne heute ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr genügt? Es ist ja nicht purer Übermut, der heute so viele an der Unterscheidung zwischen Literatur und Trivialliteratur zweifeln, pathetisch gesagt, verzweifeln lässt. Es sind auch nicht – wie Dorothea Dieckmann so unvergleichlich zeitkritisch anklingen lässt – die bösen Vermarktungsmechanismen unserer Wirtschaft. Es ist viel eher die Erkenntnis, wie alt die literarische Moderne samt ihrer unbeirrbaren Parteigänger mittlerweile aussieht. Die Erkenntnis, wie wenig wirklich Neues sich heute noch mit einer Ästhetik der Innovation erreichen lässt – wo doch unsere Zeit längst geprägt wird von Wirtschaftlern, Wissenschaftlern oder auch Werbern, die ebenfalls wortreich die permanente Innovation predigen. Doch sobald alte Paradigmen erschöpft sind – lehrt die Geschichte der Literatur – folgt ein poetologischer Bruch, ein radikaler Neuansatz, wächst bei Schriftstellern, die diesen Namen wert sind, die Bereitschaft, sich nicht mehr um das zu kümmern, was lange Zeit unbestreitbar als hohe Kultur galt. Statt dessen greifen sie dann gern zu lange verachteten, als trivial denunzierten Mustern, um ihre Kunst aus der Erstarrung zu reißen und zu erfrischen. Deshalb eben ist es mitunter so schwer, die Grenze zwischen Literatur und Trivialliteratur zu ziehen – und ganz genau Bescheid zu wissen. Aber das scheint sich zu Dorothea Dieckmann noch nicht herumgesprochen zu haben.

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„Haut des Südens“

Michael Roes lässt es Mark Twain übel ergehen. Melville kommt dafür besser weg

Seit langem ist mir kein Buch mehr so mächtig auf die Nerven gegangen wie „Haut des Südens“ von Michael Roes. Die Leidenschaft des Autors zielt offenbar darauf, seine Leser einerseits zu schulmeistern und ihnen andererseits, gleichsam als Entschädigung, ein Gefühl moralischer Überlegenheit zu vermitteln. Diese Neigung mischt sich mit einer wirklich staunenswerten Überheblichkeit und einem intellektuellen Imponiergehabe, das mir so affig vorkommt wie ein Erwachsener auf einem Kickboard. Was Roes schreibt – und was nicht wenige Kritiker bejubeln -, ist in meinen Augen purer Ethno-Kitsch. Ich will versuchen zu begründen, weshalb. Ein unerschöpfliches Lieblingsthema unserer zeitgenössischen Debatten ist der Gegensatz zwischen „dem Eigenen“ und „dem Fremden“. Man kann, wenn man will, die Ethnologie als heimliche Leitwissenschaft dieser Diskussionen betrachten. In diesem Areal hat Roes seinen literarischen Claim abgesteckt und wird deshalb gern als Ethno-Poet gehandelt. In „Haut des Südens“ schickt er einen Ich-Erzähler an den Mississippi, um dort den Lebensspuren von vier amerikanischen Schriftstellern und einem Bürgerrechtler nachzuspüren: Mark Twain, Melville, Faulkner, Hemingway und Martin Luther King. Die einzelnen Kapitel sind formal betont anspruchsvoll gestaltet, der Teil über Martin Luther King gar in freirhythmischen Versen gehalten – beziehungsweise im Flattersatz gedruckt. Das Ganze will offenbar eine Mixtur aus autobiografisch fundiertem Reisebericht und literaturhistorischem Essay sein. Was mir bei all dem besonders auf den Wecker fiel, ist die denunziatorische Grundtendenz des Buches. Denn Roes untersucht in „Haut des Südens“ in erster Linie die Spuren, die der Rassenkonflikt zwischen Weißen und Schwarzen in den Büchern der vier Schriftsteller hinterlassen hat. Da er in entscheidenden Punkten streng unhistorisch vorgeht, gelingt es Roes schnell, die Delinquenten bei irgendwelchen Bemerkung zur Sklaverei in den Südstaaten zu ertappen, die nicht den Sprach- und Denkregelungen von heute entsprechen. Woraufhin sie bei ihm nichts mehr zu lachen haben. Besonders übel ergeht es Mark Twain. Offenbar ist Roes der Meinung, dass Twain in „Huckleberry Finn“ eher harmlose Aspekte der Sklaverei darstelle und die schwarze Hauptfigur „Nigger Jim“ neben dem weißen Titelhelden ein wenig dümmlich ausschauen lasse. Das sind zwar keine ästhetischen Kriterien, beides genügt ihm aber für komplettes literarisches Verdammungsurteil: Hätte Twain nur, wird da während der Recherchen aufgestöhnt, „ein wenig mehr Talent gehabt und aus den brutalen Tatsachen nicht eine amüsante Lausbubengeschichte machen müssen“. Es braucht schon eine Menge Selbstüberschätzung, wenn ein Schriftsteller von durchaus überschaubarer Ausstrahlungskraft dem alten Kollegen Mark Twain Mangel an Talent vorwirft und „Huckleberry Finn“ eine amüsante Lausbubengeschichte nennt. Darf man daran erinnern, dass für Roes im Deutschland von heute jede publizistische Stellungnahme gegen Sklaverei weitaus preisgünstiger zu haben ist, als für Twain im Amerika des 19. Jahrhunderts? Herman Melville kommt bei Roes besser weg. Den weißen Ishmael und den farbigen Queequeg verbindet in „Moby Dick“ eine weitgehend gleichberechtigte Freundschaft, was Roes selbstverständlich für literarisch angemessener hält. Doch mutet er dem Leser auch in diesem Kapitel wahrhaft Haarsträubendes zu. Zwei Beispiele: Angesichts eines im Museum aufgestellten Tipis schwingt sich Roes zu einer Ethno-Ode ohnegleichen auf: Er schwärmt von dem „Haus aus Häuten“, das seinen Bewohnern Gelegenheit gibt, „die Wärme und den Puls der Erde am Ohr zu erleben“ und bedauert uns Sesshafte für unser „Eingemauertsein, Haut ist ersetzt durch Stein, Frauen sind die Besitzer der Zelte, Männer Eigentümer der Häuser“. Einmal abgesehen davon, dass sich unter uns Sesshaften unzweifelhaft auch Hausbesitzerinnen finden lassen, versichern Ethnologen glaubhaft, dass die Besitzverhältnisse bei Nomaden nicht so übersichtlich geregelt sind wie Roes behauptet: Mal gehören die Zelte den Frauen, mal den Männern, mal dem Stamm – ganz verschieden von Volk zu Volk. Zweites Beispiel: „In der Beziehung zwischen Ahab und Moby Dick“, so schreibt Roes allen Ernstes, „dient das sexuelle Begehren allein dem Streben nach Vorherrschaft, während ihm in der Freundschaft zwischen Queequeg und Ishmael eine katalysierende Kraft zuwächst.“ Entzückend. Nicht nur Ahab richtet sein sexuelles Begehren auf einen Wal, sondern auch Moby Dick seinen Fortpflanzungstrieb auf einen alten Kapitän mit Holzbein? Vielleicht wäre es anstelle solcher zoophiler Fantasien besser gewesen, Roes hätte über seinem Porträt von Queequeg als edlem Wilden nicht aus den Augen verloren, dass Queequeg der Harpunier auf Ahabs Schiff ist – also durchaus auch einiges Begehren auf Wale richtet, wenn auch vermutlich kein sexuelles. Was Roes‘ Buch so ärgerlich macht, ist die Attitüde, mit der er kämpferisch für die von der Gesellschaft Ausgegrenzten und Gebrandmarkten zu Felde zu ziehen vorgibt. Da wird kein modisches Klischee ausgelassen: Roes ist für die Schwarzen, die Nomaden, die Fremden, die Frauen, die Homosexuellen, die Wale und natürlich „die Wärme und den Puls der Erde“. Er wirft sich mit großer Geste in die Pose des Rebellen – bedient aber bei genauerem Hinsehen nur sklavisch die politisch korrekten Erwartungen unserer öffentlichen Debatten von gestern. Ich glaube, letztlich ist Roes‘ Buch ein wunderbares Beispiel dafür, dass sich der Geist der „Gartenlaube“ bis in unsere Multikulti-Epoche gerettet hat.

Michael Roes: „Haut des Südens“. Eine Mississippi-Reise Berlin Verlag, Berlin 2001 260 S., 36 Mark.

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Falsche Gewissheiten

Peter Schneider fordert Schriftsteller-Kollegen, die sich gegen den Afghanistan-Krieg engagieren, zum Streit heraus

Schriftsteller für Gerhard Schröder – In der vergangenen Woche veröffentlichten 13 Berliner Schriftsteller eine Erklärung, in der sie die Bundesregierung in ihrer „festen Haltung“ im Afghanistan-Konflikt unterstützten. Sie reagierten damit auf Stellungnahmen anderer Autoren, die zuvor ein Ende der Bombardierungen gefordert hatten. „Wir bestreiten“, heißt es in der Erklärung der 13, zu denen auch der Essayist und Erzähler Peter Schneider gehört, „dass die selbst ernannten Friedenskämpfer im Besitz einer höheren Moral sind und lehnen den von ihnen erhobenen Anspruch, im Namen der deutschen Schriftsteller und Intellektuellen zu sprechen, entschieden ab.“ Mit Peter Schneider sprach Uwe Wittstock

Uwe Wittstock: Sie unterstützen zusammen mit einigen Berliner Schriftstellern in einer Erklärung den Kurs der Bundesregierung im Afghanistan-Krieg. Warum kritisieren so viele ihrer deutschen Kollegen die Bombenangriffe der USA, finden aber so selten Worte der Trauer für die Opfer der Anschläge in New York und Washington?
Peter Schneider: Die Worte der Trauer und des Entsetzens, auch Worte der Solidarität mit den Opfern hat es durchaus gegeben – auch von Schriftstellern. Was aber erstaunlich ist, wie schnell diese Solidarität bei vielen deutschen Autoren und Intellektuellen überlagert wird durch andere tiefer sitzende Affekte. Zunächst waren die Amerikaner ja die Angegriffenen, also die Opfer, mit denen übte man Solidarität. Doch sobald die Amerikaner reagierten, nahmen sie in den Augen dieser Schriftsteller wieder die Rolle der Täter ein. Sie sahen in ihnen wieder die Aggressoren, und damit stimmte manches alte linke Weltbild wieder. <strong>
Wittstock: Sobald die USA agieren, sind sie in diesem Sinne immer Aggressoren?
Schneider: Der schlimmste Aggressor überhaupt! Der Über-Täter! Es gibt keinen der es mit ihm aufnehmen kann.
Wittstock: Warum fühlen sich viele Schriftsteller, die doch augenscheinlich ein erträgliches Leben im Westen führen, nicht aufgerufen, den Westen angesichts von Terrorangriffen argumentativ entschlossen zu verteidigen?
Schneider:  Ja, das ist ganz erstaunlich. Ich habe bei einigen der Stellungnahmen meiner Kollegen in den letzten Tagen gedacht, die Hauptbotschaft ist: Hier bei uns im Westen ist alles korrupt, wir haben nichts zu verteidigen, also bitte übernehmen Sie! Da ist eine zynische Schadenfreude gegenüber der eigenen politischen Kultur im Spiel – und damit gegenüber dem eigenen Leben.
Wittstock: Woher kommt diese merkwürdige Selbstzerknirschung, dieser auffällige Selbstzweifel an der westlichen Gesellschaftsordnung, die doch vieles für sich ins Feld führen kann?
Schneider: Tatsächlich ist die westliche liberale Demokratie vermutlich das effizienteste und menschlichste Gesellschaftssystem, das die Geschichte bislang hervorgebracht hat. Es ist wohl auch das einzige, das langfristig in der Lage ist, die Gegensätze zwischen Arm und Reich zu mildern – ganz aufheben wird man sie nie können. Dennoch hat es dieses System nicht fertig gebracht, eine kohärente Philosophie oder Ideologie hervorzubringen, die es rechtfertigt.
Wittstock: Dann stünde hinter den jetzt wieder so deutlich spürbaren Selbstzweifeln der Schriftsteller am Westen letztlich ein intellektuelles Ungenügen an unserer Gesellschaftsordnung?
Schneider: Dahinter steckt eben auch die berühmte Sinnsuche, die Suche nach der Utopie. Der Westen gibt kein Ziel vor, auf das unser gesellschaftliches Tun und Lassen zuläuft. Er bietet nur eins: Die gesellschaftlichen Projekte und Konflikte so sachlich und gewaltfrei wie möglich zu managen. Doch ein Ziel ist in diesem System nicht vorgesehen, da bleibt eine Leerstelle, die jeder individuell füllen muss. Darunter scheinen gerade auch Schriftsteller zu leiden, von denen sich ja nicht wenige als Experten für Utopien verstehen, was sie dann so abwehrschwach gegen gesellschaftliche Großentwürfe wie die der Islamisten macht, die ein überragendes Ziel, den Gottesstaat vorgeben. Aber das ist nicht nur bei Schriftstellern so. Was in letzter Zeit über die Biografien der Selbstmordattentäter zu lesen war, deutet in die gleiche Richtung. Es ist erstaunlich zu sehen, dass dies Leute waren, denen es zumeist gut ging im materiellen Sinn. Sie lebten in London oder Paris oder Hamburg, gingen in Diskotheken, hatten einen durchaus westlichen Lebensstil. Aber plötzlich war dieser Kick da, dieses Versprechen, den Sinn des Lebens zu finden, und auf diese Verführungskraft setzt Bin Laden, wie alle Ideologen immer auf dieses Lockmittel gesetzt haben: Der enorme Überdruss am Westen bei denen, die ihn zugleich in vollen Zügen genießen. <strong>
Wittstock: Sind die Argumente der Kriegsgegner in ihren Augen durch die militärischen Erfolge in Afghanistan widerlegt?
Schneider: Es ist schon verblüffend, welche apokalyptischen Vorstellungen da wach wurden. Von einem „Weltenbrand“ war die Rede, von „unzähligen zivilen Toten“, von „Bomben auf die hungernde Bevölkerung“, ganz so als würden die Amerikaner willentlich ein wehrloses Volk bombardieren. Diese Apokalypsen sind jetzt durch die politische Realität, die Flucht der Taliban, widerlegt. Tatsächlich nämlich ist doch etwas eingetreten, was auch ich kaum zu hoffen gewagt hätte: Die Bombardements waren nicht „sinnlos“, wie von ihren Kritikern behauptet wurde, sondern haben einer Befreiung der Afghanen den Weg geebnet. Das Verhalten der Afghanen den geschlagenen Taliban gegenüber, belegt überzeugend, dass die Taliban die Unterdrücker waren. Sie waren die Verbrecher, die ein ganzes Volk als Geisel genommen hatten, nicht die USA, wie Franz Xaver Kroetz in seinem Statement behauptete. Die Amerikaner tragen zur Befreiung der Afghanen von einem Terrorregime bei – und ich frage, warum man sich über den erreichten Teilerfolg nicht freuen darf.
Wittstock: Woher kam eigentlich die Vermutung, die USA würden „ziel- und sinnlos“ bombardieren, die sich in fast jeder Protestverlautbarung gegen den Afghanistan-Krieg fand?
Schneider: Das stand in jeder dieser Erklärungen – und diese Tatsache ist hochinteressant. Ein Grund dafür ist natürlich das manichäische Gebaren und die katastrophale Informationspolitik der Amerikaner. Der zweite – spannendere – Grund dafür ist, dass viele sonst besonnene Menschen, sobald amerikanische Bomber fliegen, es sich zutrauen, Dinge zu beurteilen, von denen sie in Wirklichkeit so wenig verstehen wie ich. Es ist unglaublich, welche Urteile von Schriftstellern in letzter Zeit zu lesen waren, die bislang nie mit Kenntnissen über Afghanistan, den Islam oder die amerikanische Militärtechnik hervorgetreten sind. Dennoch gebärdeten sich diese Autoren als Strategen, die in militärischen Fragen kompetenter sind als die entsprechenden Abteilungen des Pentagon.
Wittstock: Sie zählten zu den führenden Köpfen der Studentenbewegung. In dieser Zeit haben Sie sich zumeist kritisch zur Politik der Bundesregierung geäußert. Was hat sich geändert, dass Sie sich jetzt mit einigen anderen demonstrativ und gegen zahlreiche Proteste ihrer Kollegen aussprechen? <strong>
Schneider: Unsere Erklärung ist natürlich kein Blanco-Scheck. Wir sind und bleiben kritisch. Ich halte auch Schröders Wort von der „uneingeschränkten Solidarität“ für unglücklich. Vielleicht muss ein Politiker solche Sachen sagen, ich werde das nie tun, denn nach meinem Verständnis muss man von Fall zu Fall überprüfen, wie solidarisch man gegenüber einem kriegsführenden Freund sein kann, sein muss. Aber bei unserer gemeinsamen Erklärung zugunsten des Engagements in Afghanistan ging es uns um einen wesentlichen Punkt: Wären wir den Warnern gefolgt – und die meisten Intellektuellen haben sich bei den großen geschichtlichen Entscheidungen der letzten zehn, zwölf Jahre immer aufs Warnen beschränkt -, hätte die polnische Solidarnosc-Bewegung nicht gegen die Sowjetherrschaft demonstrieren dürfen, denn dies war in den Augen vieler Warner eine Gefährdung des Weltfriedens, Deutschland hätte sich nicht wiedervereinigen dürfen, wegen der historischen Schuld für Auschwitz, Deutschland hätte auch auf keinen Fall Truppen nach Bosnien und in den Kosovo schicken dürfen. Alle diese Entscheidungen sind dann trotz der warnenden Stimmen getroffen worden, und man kann heute nur sagen, sie sind Gott sei Dank getroffen worden. Inzwischen muss man fragen, wie es eigentlich kommt, dass so viele meiner Kollegen bei all diesen entscheidenden Vorgängen, die politisch so viel Positives für so viele Menschen erbracht haben, immer nur als Warner in Erscheinung traten, nie als Ermutiger. Wenige haben vorausgedacht und gesagt, welche großartigen politischen Chancen diese Entwicklungen bieten. Es ist eine Frage intellektueller Redlichkeit, sich mit dieser Bilanz auseinander zu setzen. Natürlich ist die Wiedervereinigung noch nicht gelungen, aber sie wird gelingen. Und es ist ein Segen gewesen, dass sich die Bundeswehr an den Einsatz in Bosnien und im Kosovo beteiligt hat. Ich bin mehrmals in Sarajevo gewesen und habe gehört, was dort über die Deutschen gesagt wird: Sie leisten eine hervorragende Aufbauarbeit, setzen Brücken und Eisenbahnschienen instand, reparieren Dächer. Und vor allem – sie sichern zusammen mit den anderen UN-Truppen – diesen prekären Frieden, der überhaupt erst möglich macht, dass dort wieder ein ziviles Leben beginnt. Es war für mich ein Schock, ein erhellender Schock zu sehen, wie ein deutscher Panzer, den ich durch die Straßen Sarajevos fahren sah, zu einem Hoffnungsträger wurde. Denn dieser Panzer garantierte, dass die vom Krieg und ethnischer Raserei geplagten Menschen endlich wieder Geschäfte öffnen und mittags in der Sonne im Café sitzen konnten.

Das Interview erschien in der „Welt“ vom 21. November 2001

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Wenn Literatur die Augen öffnet

Die Schriftsteller debattieren über den Balkan-Krieg und begnügen sich nicht mehr mit starken Gesinnungen

„Wer ein Volk als Geisel nimmt, um seine Interessen durchzusetzen, ist ein Volks- und Kriegsverbrecher. Das serbische Volk ins Elend zu bomben, war so ein Verbrechen. Das afghanische Volk ins maßlose Elend zu stürzen und den korrupten Banditenhaufen, der sich Nordallianz nennt, an die Macht zu bomben, ist ein solches Verbrechen“, schreibt der Schriftsteller Franz Xaver Kroetz, und er schreibt auch, wer in seinen Augen die Verantwortung für diese Verbrechen trägt: die USA. Ähnliche, wenn auch nie derart platt formulierte Proteste gegen den Krieg in Afghanistan waren in den letzten Tagen von zahlreichen Schriftstellern zu lesen: von Rolf Hochhuth zum Beispiel, von Walter Jens, Christoph Hein, Walter Kempowski oder Martin Walser. Es ist gar nicht so einfach, all die Fakten aufzuzählen, die in Kroetz‘ Polemik übergangen, verfälscht oder verschwiegen werden. Eine Auswahl: Dass der Serbe Milosevic zunächst Kroatien, Bosnien und die Kosovo-Albaner angriff; dass Afghanistan anfangs von der Sowjetunion besetzt und ins Elend gestürzt wurde; dass die USA einen Terrorschlag ohnegleichen erlitten, und die Taliban dessen Drahtzieher nicht ausliefern; dass die Afghanen die Vertreibung der Taliban bejubeln. Kroetz stellt die politische Situation also, anders als man das von einem Schriftsteller erwarten sollte, nicht differenzierter, sensibler, durchdachter dar als ein Politiker, sondern entschieden schlichter – und mit ihm tun das manche seiner Kollegen. Man wird, bei aller Sympathie, die man für diese Autoren ihrer unbezweifelbaren literarischen Verdienste wegen empfindet, den Verdacht nicht los, dass sie es sich mit einigen ihrer Verlautbarungen recht einfach machen. Fast nirgendwo waren in den öffentlichen Erklärungen deutscher Schriftsteller zu den Folgen des 11. Septembers neue Erkenntnisse oder überraschende Argumente zu finden. Statt dessen fanden sich darin erstaunlich stereotype Schuldzuweisungen, geringe Tatsachenkenntnis und eine beträchtliche Neigung, trotz der gründlich veränderten Weltlage seit 1989, sich mit pathetischen Worten eine lang schon gepflegte Gesinnung wieder einmal öffentlich zu bestätigen. Das ist, um das mindeste zu sagen, intellektuell unbefriedigend. Die hier veröffentlichte Erklärung Berliner Schriftsteller zugunsten „der Bundesregierung im Afghanistan-Konflikt“ bringt, wenn auch keine neuen Argumente, so doch einen frischen Wind in die Debatte. Die Kritiker des Afghanistan-Krieges nehmen für sich gern den Status des Dissidenten oder – wie es in den fünfziger und sechziger Jahren hieß, in denen viele von ihnen ihre politischen Prägungen erfuhren – des Non-Konformisten in Anspruch. Doch werden sie heute mit ihren Friedens-Appellen in einigen der auflagestärksten Zeitungen und Zeitschriften des Landes gedruckt, sie haben es mit ihrem Protest im „Stern“ sogar auf das Titelblatt gebracht. Die Unterstützer der Bundesregierung dagegen, die sich jetzt artikulierten, wurden publizistisch bislang wenig umworben und sind eines mit Sicherheit: Non-Konformisten innerhalb unseres literarischen Betriebes, die sich dagegen verwahren, dass bei einem solch brisanten Thema irgend jemand „im Namen der deutschen Schriftsteller“ zu sprechen sich anmaßt. Noch grundsätzlicher gefragt: Welche Rolle können Schriftsteller heute in einer funktionierenden liberalen Demokratie überhaupt spielen, wenn entscheidende politische Fragen öffentlich kontrovers diskutiert werden? Was bringt eine mehr oder weniger brillant formulierte Stellungnahme für oder gegen den Krieg in Afghanistan, wenn solche Stellungnahmen täglich zu Dutzenden von Politikern, Schauspielern, Schlagerstars oder Talkmastern abgesondert werden? Bereichern sie wirklich noch den Prozess der Meinungsbildung, oder sind sie eher Teil eines prominenzsüchtigen literarischen Showbusiness? Schriftsteller sind, genau betrachtet, Fachleute der unvoreingenommenen Wahrnehmung und des schriftlichen Formulierens dieser Wahrnehmungen. Wenn Sie also bei Entscheidungen über Krieg und Frieden einen spezifischen, nur ihnen möglichen Beitrag leisten können, besteht er wohl nicht darin, die täglich einlaufenden Meldungen mit weltanschaulichen Randbemerkungen zu versehen. Ihr Beitrag müsste eher sein, am umstrittenen Geschehen teilzunehmen, also zu erleben, worüber andere nur debattieren, um dann mit diesen Erfahrungen die wohlgeordneten Frontlinien der politischen Diskussionen durch unerwartete Erkenntnisse durcheinander zu bringen. Gerade in angelsächsischen Ländern stehen Schriftsteller, die viel von der Welt gesehen haben, bevor sie über die Welt zu schreiben beginnen, in hohem Ansehen. V. S. Naipaul, der diesjährige Literaturnobelpreisträger, ist ein vorzügliches Beispiel für diese literarische Tradition: Seine Reportagebücher aus der Karibik, aus Afrika und aus der islamischen Welt stehen oft quer zu den gewohnten politischen Argumentationsmustern, aber sie quellen über von persönlichen Beobachtungen und Erfahrungen – was sie so lehrreich und für Ideologen jeglicher Couleur so unbequem macht. Gerade auf Kriegsschauplätzen haben amerikanische und englische Schriftsteller nicht nur einige ihrer besten literarischen Stoffe gefunden, sondern immer auch Nachrichten, die zu den geläufigen politischen Überzeugungen in ihrer Heimat nicht passten: George Orwell und Hemingway aus dem spanischen Bürgerkrieg, Norman Mailer aus dem Zweiten Weltkrieg, John Steinbeck und Graham Greene aus Vietnam, John Le Carré aus dem Libanon und Kaukasus. Das Bewusstsein für die literarische Aufgabe, nicht die eigene Gesinnung hochzuhalten, sondern den vielen und oft gebrochenen Wahrheiten der Kriege an den Schauplätzen der Schlachten selbst nachzuspüren, war in der Literatur der Bundesrepublik nur wenig ausgeprägt. Hans Magnus Enzensberger war lange Zeit einer der wenigen Weitgereisten, der gelegentlich von anderen Kontinenten überraschende Nachrichten mitbrachte. Doch seit 1989 scheinen sich auch hier die Dinge zu ändern: Bodo Kirchhoff beispielsweise war dabei, als die Bundeswehr zu ihrem Einsatz nach Somalia flog, und erlebte den Sturz der Diktatur auf den Philippinen. Peter Schneider hat sich ausführlich in Jugoslawien informiert, bevor er über den Krieg auf dem Balkan schrieb. Und Hans Christoph Buch hat jetzt „Blut im Schuh“ veröffentlicht, einen Band mit seinen Kriegsreportagen, der bedrängender als alle wohlmeinenden moralischen Appelle die Grausamkeit, aber mitunter auch die Unvermeidbarkeit von Kriegen beschreibt. Vielleicht sind dies erste Zeichen dafür, dass die deutschsprachigen Schriftsteller mehr und mehr das Ghetto gesinnungsstarker, aber letztlich realitätsferner Literatur verlassen. Es wäre ein weiterer Schritt auf Deutschlands langem Weg nach Westen.

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Der große Erzähler und Reisende V. S. Naipaul erhält den Nobelpreis für Literatur

Der Schriftsteller V. S. Naipaul, der seit vielen Jahren zu den Kandidaten für den Literaturnobelpreis zählt und nun tatsächlich von der Stockholmer Jury in den Kreis der Ausgezeichneten berufen wurde, hat zumindest drei Gesichter. Er war zu Anfang seiner literarischen Karriere ein Erzähler von großem Atmen und beeindruckender Suggestivität. Zwei seiner Romane – „Ein Haus für Mister Biswas“ (1961) und „In der Biegung des großen Flusses“ (1979) – gehören zu dem Eindrucksvollsten was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die fragilen, von ihren ehemaligen Kolonialherren in eine krisengeschüttelte Freiheit entlassenen Gesellschaften der Dritten Welt geschrieben wurde. In Anspielung auf seine Herkunft erklärte Naipaul zur Auszeichnung: „Ich bin höchst erfreut. Dies ist eine große Anerkennung für England, meine Heimat, und für Indien, die Heimat meiner Vorfahren.“ Zweitens ist der 1932 auf Trinidad als Nachkomme eingewanderter indischer Landarbeiter geborene Naipaul ein Reiseschriftsteller von internationalem Rang. Schon in jungen Jahren, nach der Veröffentlichung seiner ersten drei satirischen Frühwerke, die er selbst als „soziale Komödien“ bezeichnete, nahm Naipaul eine ausgedehnte und weitschweifende Reisetätigkeit auf. Wie nur wenige andere Autoren – zumal wie sehr wenige deutschsprachige Schriftsteller – eroberte er sich auf diese Weise weite Erdteile und fremde Zivilisationen durch eigene Anschauung. Als literarischer Erträge brachte er von diesen Expeditionen epische Reportagen mit, die wie „The Middle Passage“ (1962), „Indien: Eine verwundete Kultur“ (dt. 1978) oder „Eine islamische Reise. Unter den Gläubigen“ (dt. 1982) zu dem Anschaulichsten und Informativsten zählen, was man über die Karibik, Indien und zumal die islamischen Länder lesen kann. Zu den Eigentümlichkeiten des deutschen Buchmarktes gehört, das derlei literarische Reisebeschreibungen – auch Naipauls – hierzulande nur sehr wenige Leser finden, obwohl die Deutschen sich doch so gern als überaus reise- und leselustiges Volk betrachten. Drittens schließlich hat sich Naipaul mit zunehmendem Alter zu einem explizit modernen, vielfältig experimentierenden Prosaautor entwickelt, der sich von seinem früheren traditionellen Schreiben fast demonstrativ abwandte. In „Das Rätsel der Ankunft“ beispielsweise beschreibt Naipaul über viel hundert Seiten hinweg im Grunde nichts anderes als ein kleines Tal östlich von London, wo er in einem kleinen, feuchten Landhaus jahrelang lebte und schrieb. Ein Buch, dass man eher einem Autor des französischen „Nouveau Roman“ zugetraut hätte, als einem ehemals so lebendig und temperamentvoll erzählenden Romancier oder einem politisch kühl analysierenden Reporter zugetraut hätte. Seinen internationalen Ruhm begründete Naipaul mit dem Roman „Ein Haus für Mister Biswas“, der in seiner karibischen Heimat und den Kampf eines einfachen, aber ambitionierten eingewanderten Inders beschreibt, der das kühne Lebensziel verfolgt, mit seiner Familie ein wirtschaftlich selbständiges und zugleich kultiviertes Leben zu führen. Mit diesem autobiografisch gefärbten Roman setzte Naipaul seinen Vater, der sein Leben lang darum rang, ein Journalist und Schriftsteller zu werden, immer aber an den erbärmlichen Lebensbedingungen Trinidads scheiterte, ein menschlich anrührendes, unvergessliches Denkmal. Wie beweglich Naipauls literarische Fantasie ist, wie unabhängig von spezifischen Milieus oder Landschaften er zu erzählen vermag, bewies er rund 15 Jahre später, als er mit dem Roman „An der Biegung des großen Flusses“ das Porträt einer afrikanischen Gesellschaft schrieb, in der sich ein Einwanderer als Geschäftsmann einen festen Lebensplatz zu erobern versucht. Seine jahrelange Arbeit, seine intensiven Anpassungsbemühungen und auch seine so behutsam angeknüpften Liebesbande zu einer ihm unerreichbar erscheinenden Frau werden kurzer Zeit zunichte gemacht, in der gewalttätige Rassenunruhen die wenigen, mühsam herausgebildeten zivilisatorischen Strukturen in diesem Land hinwegschwemmen. Wegen seines gnadenlosen Blickes nicht nur auf die Schwächen der Ersten Welt, sondern auch auf die der Dritten Welt ist Naipaul oft heftig angegriffen worden. Sein Fazit, nachdem er als Collegelehrer in den USA gearbeitet hatte: „Ungebildete Studenten mit weißen Söckchen bedrohen Amerika mehr als Öl-Embargos“. Über seine britische Wahlheimat schrieb er: „Das Leben hier ist eigentlich eine Art Kastration. In England sind die Leute sehr stolz darauf, dumm zu sein.“ Und nach einer seiner Afrikareise schrieb er: „Die Leute sagen, der Mann im Busch ist ausgebeutet worden, ist ein Opfer des Kolonialismus. Ich dagegen glaube, dass die Menschen in Europa viel größere Ungewissheiten und Gewalt ertragen haben als je ein Mensch, der im Busch lebt. Ich bin erstaunt über die Kreativität in Europa. Unkreative Länder, das sind doch wohl die arabischen Länder und Afrika. Sie tun nichts, das sind parasitäre Orte.“ Naipaul ist kein Mann der politisch ausgewogenen, begütigenden Äußerung. Doch er kann seinen Furor stets mit großer Kompetenz rechtfertigen: Er weiß, wovon es spricht und kann sein Urteil durch eigene Erfahrung untermauern. Naipaul, der vom namenlosen Sohn verarmter indischer Eltern auf einer verlorenen Karibikinsel aus eigener literarischer Kraft zu einem Kosmopoliten und weltweit anerkannten Autor wurde, legt unerbittliche Maßstäbe an. Dass ihn das zu einem sanftmütigen Menschen machte, wird niemand behaupten. Naipaul schont nichts und niemanden – aber am wenigsten sich selbst. Er ist ein fanatischer Arbeiter, der seine Manuskripte, nachdem sie getippt sind, mehrfach mit der Hand abschreibt, um so an jedem Satz, an jeder Formulierung erneut zu feilen – mitunter bis zum körperlichen Zusammenbruch. Auf diese Weise wurde er im buchstäblichen Sinn des Wortes ein freier Autor: „Das hat mit die Unabhängigkeit bewahrt“, schrieb er einmal, „von Leuten, von Verstrickungen, von Rivalitäten, vom Wettbewerb. Ich habe keine Gegenspieler, keine Rivalen, keine Meister: Ich fürchte niemanden.“ Gerade jetzt – zu Beginn eines neuen Jahrtausends und nach den Terroranschlägen vom 11. September – V. S. Naipual den Literaturnobelpreis zu verleihen, ist mehr als eine literarische Entscheidung. Es ist eine politische Demonstration: Für einen in vielen Kulturen erfahrenen Mann, der ohne Scheuklappen auf seine Epoche sieht und der ohne Ärmelschoner schreibt und denkt. Für eine Mann, der – auch schmerzvoll – die Globalisierung sämtlicher Lebensverhältnisse schon vor Jahrzehnten am eigenen Leibe erfahren hat wie kaum ein anderer. Und nicht zuletzt für einen Schriftsteller, der in der literarischen Tradition Europas den Lesern aller Kontinente mit hinreißender erzählerischer Anschaulichkeit von scheinbar entlegene Weltgegenden berichtet hat, und der dort letztlich die gleichen Hoffnungen, die gleichen Schmerzen, die gleichen Träume, kurz: die gleichen Menschen entdeckt, die alle großen Romane bevölkern. V.S. Naipaul hat den Horizont unserer Literatur um ein gutes Stück ins Unbekannte vorangeschoben. Ihm dafür mit dem Nobelpreis auszuzeichnen, ist eine angemessene Würdigung.

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Nobelpreis für Don DeLillo!

 In seinen Romanen nahm er die Gedanken vorweg, die seit dem Terroranschlag vor 18 Tagen durch unsere Köpfe spuken

Nach welchen Kriterien wird eigentlich der Literaturnobelpreis vergeben? Nach literarischen? Gilt die Auszeichnung also der ästhetischen Virtuosität eines Schriftstellers, die eine enge Verbindung mit seiner handwerklichen Präzision und seiner geistesgegenwärtigen Klarsicht, um nicht zu sagen Hellsicht eingegangen ist? Wenn ja, dann gibt es für den Literaturnobelpreis 2001, über den in den nächsten Tagen von der Stockholmer Akademie der Künste entschieden wird, einen herausragenden Kandidaten: den amerikanischen Romancier Don DeLillo. Wie kaum ein anderer Schriftsteller hat DeLillo die westliche Zivilisation jahrzehntelang umschlichen, abgeklopft und abgehorcht auf ihre Untiefen, Abgründe und Bruchstellen. Der Terror ist so notwendigerweise zu einem seiner zentralen Themen geworden: Die Gewalt, die Katastrophe, die Zerstörung, die mit einem Mal wie aus dem Nichts über eine sich für friedfertig haltende Gesellschaft hereinbricht. Wenn Hollywoods Action-Kino die Bilder des 11. September vorweg genommen hat, dann hat DeLillo die Gedanken vorweg genommen, die seither durch unsere Köpfe spuken. In der literarischen Szene Amerikas wird DeLillo gern der Vater der „New York school of paranoid fiction“ genannt – was nicht auf Paranoia in des Wortes medizinischer Bedeutung anspielt. Gemeint ist vielmehr das Gefühl einer allgegenwärtigen diffusen Bedrohung, das Gefühl, sich mit einer Gefahr konfrontiert zu sehen, in die man auf schwer greifbare und begreifbare Weise selbst verstrickt ist – und die man deshalb kaum ins Visier bekommen, geschweige denn besiegen kann. Vorstellungen, die einem nach den Anschlägen in Amerika schmerzhaft vertraut vorkommen. Denn vermutlich ist – wie seit dem 11. September Politiker, Soziologen, Historiker oder Islamwissenschaftler zu predigen nicht müde werden – der terroristische Fundamentalismus eben kein Ergebnis kultureller oder religiöser Gegensätze, sondern „eine Folge der Globalisierung, die er ablehnt und sich zugleich zunutze macht“ (Anthony Giddens). Ein Gedanke, der darauf hinausläuft, dass die globalisierte Moderne ihren mörderischen Gegenspieler selbst hervortreibt. Womit die Verantwortung der Killerkommandos in keiner Weise relativiert, sondern lediglich nach den Faktoren gefragt wird, die zu ihrer Entstehung beitragen. Was auch Hans Magnus Enzensberger tat, der schon in den achtziger Jahren feststelle, dass wir „nicht umhin können, den Terrorismus als eine strukturelle Eigenschaft unserer Zivilisation zu begreifen, als ein endemisches Phänomen, das gewissermaßen naturwüchsig auftritt und sich immer nur von Fall zu Fall mit Absichten, Forderungen, Rechtfertigungen maskiert. Wir müssen uns dann auch eingestehen, dass der Terror politisch leer ist, und dass er, wie die Massaker auf den Straßen und in den Fußballstadien, die Gewaltpornographie und Drogensucht, wie die massenhafte Misshandlung von Frauen und Kindern, seinen letzten Grund in der psychischen Verfassung des Ganzen hat“. Womit das politische Spannungsfeld beschrieben ist, das Don DeLillo seit jetzt dreißig Jahren mit literarischen Mitteln erforscht. Seine düsteren Helden sind Amokschützen und Attentäter, sind Agenten, die sich in der Komplexität ihrer eigenen Aktionen verheddern und sind schließlich Terroristen, die behaupten, gegen den Zynismus, die Technik und die Medien der Moderne zu kämpfen, diesen Kampf aber mit der zynischen Haltung, der Technik und den Medien eben dieser Moderne betreiben. Es waren zu Anfang seiner Karriere vor allem die amerikanischen Traumata, auf die DeLillos Blick fiel. Beispielsweise jene in den USA zu einer traurigen Tradition gehörenden rätselhaften Ausbrüche von Gewalt, bei denen aus unauffälligen Zeitgenossen wahllos in die Menschenmenge schießende Bestien werden. Er habe, erzählte DeLillo einmal, als er noch an seinem ersten Roman „Americana“ schrieb, von dem Fall eines texanischen Amoktäters gehört, der auf einen Wasserturm in der Nähe einer Autobahn stieg, um zunächst auf die vorüberfahrenden Wagen, später dann auf die ihn einkreisenden Polizisten zu schießen. Als der Mann nach stundenlangem Feuergefecht getötet worden war, fand man außer Waffen und Munition bei ihm nur ein fast ladenfrisches Deodorant – so als sei es seine größte Sorge gewesen, beim Morden ins Schwitzen zu geraten. Losgelassen hätten ihn, so DeLillo, diese und ähnliche Geschichten nie, und er versuche mit seinen Büchern den verborgenen Wahrheiten derartiger bizarrer Beobachtungen auf die Spur zu kommen. Kein Wunder, dass sich DeLillo irgendwann einmal dem geheimnisvollsten Heckenschützen der amerikanischen Geschichte zuwandte: Lee Harvey Oswald. „Libra“ (dt. „Sieben Sekunden“), sein halb dokumentarischer, halb fiktiver Roman über das Attentat auf John F. Kennedy ist wohl eines der abgründigsten Bücher der letzten Jahrzehnte: spannend wie ein Polit-Thriller, gewitzigt wie ein Stück postmoderner Gesellschaftstheorie und zugleich erschütternd, wie es nur ein Tatsachenbericht sein kann. Ein Roman zudem, der vor Augen führt was es heißt, in Zeiten moderner Desinformation durch Geheimdienste und modernen Informationshandel durch die Medien sich auf die Suche nach so etwas Fragilem und schwer Fassbarem wie der Wahrheit zu machen: Obwohl die Ermordung Kennedys von Dutzenden von Zeugen beobachtet, akustisch aufgezeichnet und sogar im Film festgehalten wurde, entschwand die Tat schließlich in einem undurchdringlichen, nie wieder aufzuhellenden Dunkel. Wie sehr Gewalt und Medien, wie sehr die Bilder des Terrors und der Terror der Bilder ineinander verstrickt sind, davon können wir alle seit dem 11. September ein Lied singen, und DeLillo hat dieses Lied bereits vor zehn Jahren in seinem Roman „Mao II“ angestimmt. Es sind keine simplen Simulationstheorien, die er hier literarisch exemplifiziert, sondern eine ungeheure Fülle von subtilen Beobachtungen, wie sich unser Verhältnis zur Welt verändert hat, nachdem jede intimste Regung, jeder fernste Winkel, jede erschütternde Katastrophe jederzeit auf Bildern verfügbar wurde. Die wunderbaren Kontrahenten dieses Buches sind ein berühmter Schriftsteller – der sich wie J. D. Salinger und Thomas Pynchon der Bildergier der Öffentlichkeit konsequent zu entziehen sucht und deshalb wie ein Gefangener leben muss – und eine Fotografin, die das neue, optische Medium bedient, das die Welt der Bücher abzulösen beginnt. Gegen Ende des Romans wird diese Fotografin nach Beirut eingeladen, zu einem Fototermin mit einem international gesuchten Terroristenführer, der unzufrieden ist mit den Bildern, die weltweit von ihm gedruckt werden. Wenn man diese Szene heute liest, kann man spüren, wie einem die Gänsehaut den Rücken hinaufkriecht: Es ist hinreißend und erschreckend zugleich, mit welcher Präzision DeLillo hier die hoffnungslose Fremdheit zwischen aufgeklärter Nüchternheit und religiösem Fanatismus veranschaulicht, wie er die verzweifelte Versuche der westlichen Besucherin spürbar macht, das Verhalten ihres Gegenübers in irgendein vertrautes Interpretationsmuster einzuordnen, und schließlich wie er mit kluger Genauigkeit zeigt, dass der fundamentalistische Furor des Terroristen gegen die Moderne längst tief durchdrungen ist von dieser Moderne selbst. Also, wenn Kunst und Literatur dazu beitragen können, jenseits ausgetretener Argumentationspfade und Begrifflichkeiten zu deuten, wie sich Welt durch den 11. September verändert hat, dann hat dies Don DeLillo nicht nur in diesen beiden Romanen, aber in ihnen in ganz besonderem Maße geleistet. Wenn also literarische Kriterien bei der Entscheidung der Stockholmer Akademie über den nächsten Nobelpreis eine Rolle spielen, dann spräche jetzt eine Menge für diesen Autor. Vielleicht sollte man, um es den Juroren ein bisschen leichter zu machen, schon einmal den Text der Verleihungsurkunde entwerfen: „Don DeLillo, ein Meister des politischen Romans und zugleich einer der erregendsten Erzähler dieser Jahrzehnte, wird mit dem Literaturnobelpreis des Jahres 2001 ausgezeichnet, weil sein Werk uns erlaubt, einen Blick auf jenes vor uns liegende Jahrhundert zu werfen, vor dem sich der Vorhang erst allmählich zu heben beginnt. Er zeichnet das Bild unserer Zivilisation mit solch ahnungsvoller Perfektion, solch transparenter Vielschichtigkeit, dass man seine Romane wie die Logbücher unserer Epoche lesen kann.“ Aber vermutlich wird der Nobelpreis wieder einmal nach ganz anderen Kriterien vergeben. Mit seltsamen Rücksichten auf die geographische Herkunft der Kandidaten, ihre politischen Bekenntnisse, ihre Glaubenszugehörigkeit oder ihr Geschlecht. Ja, vermutlich wird so politisch korrekt ausgezählt, wer den Preis zu bekommen hat. Das wäre schade. Nicht so sehr für Don DeLillo, der großen Rummel um seine Person nicht mag. Wohl aber für den Nobelpreis.

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Den Terror im Roman vorausahnen

Ein Gespräch mit Josef Haslinger über die Anschläge vom 11. September, symbolischer Kastration und gute Fernsehbilder sowie den Wunsch, den Tiger aus dem Käfig zu locken

Der Schriftsteller Josef Haslinger hat in seinem 1995 erschienenen Bestseller „Opernball“ einen terroristischen Anschlag auf den Wiener Opernball beschrieben, bei dem die politische Elite Österreichs ausgelöscht wird, um das Land zu destabilisieren. In wesentlichen Eckpunkten nimmt der Roman den Anschlag von New York und Washington vorweg. Mit Haslinger sprach Uwe Wittstock

Uwe Wittstock: Was wir jetzt in Amerika erlebt haben, ist dem Szenario Ihres Romans „Opernball“ ähnlich, auch wenn in der Realität die Wirtschaftszentrale des Landes zerstört und nicht die politische Elite ermordet wurde. Mit welchen Augen betrachten ein Schriftsteller eine Realität, die seinem Roman in so beängstigender Weise nachzueifern scheint?
Josef Haslinger: Meine Empfindungen sind wahrscheinlich nicht anders, als die Empfindungen der meisten anderen Beobachter. Andererseits: Was jetzt geschehen ist, ist wohl in den Köpfen vieler Menschen vorausgedacht worden, die sich, aus welchen Gründen auch immer, als Feinde der USA betrachten. Für einen solchen Terror-Angriff müssen drei Faktoren zusammenkommen, die ich in meinem Roman „Opernball“ zusammengebracht habe: Religiöser Fanatismus, politischer Fanatismus und die Möglichkeit zur großen medialen Inszenierung. Terror solchen Ausmaßes braucht immer den politischen Verein der die Richtung vorgibt, es braucht das Religiöse, damit sich die Selbstmord-Attentäter als Märtyrer betrachten können. Und drittens braucht es den zynischen Realitätssinn für das Platzieren des blutigen „Events“.
Wittstock: War es schwer, sich in den Charakter eines Terroristen hineinzudenken?
Haslinger: Nein, die Entwicklung der Technologie gibt dem Einzelnen eine ungeheure Macht in die Hand. Ein sechzehnjähriger Hacker kann heutzutage, wenn er ein wenig clever ist, ganze Computersysteme lahm legen, er kann sich mit Weltkonzernen anlegen. Nicht auf Dauer, aber zumindest einen Anschlag kann er ausführen. Um so größere Schäden können kleine fanatische Gruppen verursachen. Besondere Fähigkeiten sind dafür gar nicht mehr nötig. Wittstock: Der Terror hat seine eigene Symbolsprache entwickelt. Es ist kein Zufall, dass gerade das World Trade Center und das Pentagon als Ziele ausgewählt wurden. Haslinger: Mit dem World Trade Center sollte der Stolz einer Nation getroffen werden Die beiden Türme an der Südspitze Manhattans waren der wirtschaftliche Stolz Amerikas. Jeder, der einmal in New York war weiß, was da in die Luft geragte. Die Türme verkörperten den Reichtum, die Wirtschaftsmacht Amerikas. In so fern steht der symbolische Charakter des Anschlags unbedingt im Vordergrund.
Wittstock: Bildsprachlich ging es bei der Zerstörung des World Trade Centers um eine Entmannung des Wirtschaftsriesen USA?
Haslinger: So ist es. Es ist der Versuch einer symbolischen Kastration. Der religiöse Fanatismus hat die von ihm selbst zum Teufel erklärten USA am Schwanz gepackt. Wittstock: Auch in Ihrem Roman spielt ja diese Medieninszenierung des terroristischen Anschlags eine große Rolle. Warum ist es den Terroristen heute so wichtig, gute Fernsehbilder ihrer Anschläge zu liefern? Haslinger: Weil die Fernsehbilder gleichsam die Realität sind, mit der sie operieren. Würde über einen Anschlag nur im Nachhinein berichtet, wäre er vorüber, wenn die Nachricht die Menschen erreicht. Der Terrorist hätte gewissermaßen nur die Vergangenheit angegriffen, also eine Art Schattenrealität. Die Verunsicherung der Menschen ist viel größer, wenn ihre Gegenwart angegriffen wird. Das will der Terrorist erreichen. Und was über die Fernsehschirme flimmert, wird heute als Realität wahrgenommen. Das ist gleichsam internationale Realität. Das Fernsehen bestimmt das kollektive Bewusstsein.
Wittstock: In Ihrem Roman haben die Terroristen Erfolg, es gelingt ihnen, den Staat Österreich weitgehend zu destabilisieren und es kommt zu einer politischen Wende. Sie haben ja auch lange in den USA gelebt. Welche Wirkung dieses Anschlages erwarten Sie?
Haslinger: Es gibt in den USA einen unglückseligen Mechanismus, dem kein amerikanischer Präsident entkommen kann. Auch wenn es ein demokratischer und liberaler Präsident wäre, würde er genau so reagieren wie George W. Bush jetzt reagieren wird. Er muss den Seinen beweisen, dass er ein starker Präsident ist und sich nichts gefallen lässt. Das heißt, zu erwarten ist eine Gewalt-Eskalation. Doch das ist meiner Ansicht nach der falsche Weg. Es ist kein Weg der einem sinnvollen Kalkül folgt, aber es ist der Weg, der gegangen werden wird. Vielleicht ist gerade dies auch das Ziel der Wahnsinnigen, die diesen Anschlag geplant haben. Vielleicht wollten sie eine solche Eskalation herbeiführen, wollten sozusagen den Tiger aus dem Käfig locken. Wittstock: Sie vermuten, ein militärischer Vergeltungsschlag Amerikas war bereits von Anfang an Teil des terroristischen Kalküls? Haslinger: Wenn jemand solche Anschläge vorbereiten und durchführen kann, denkt er auch über deren Ausgang nach. So etwas plant man ja nicht in zwei Wochen. Das bedarf einer ganz gründlichen logistischen und psychologischen Vorbereitung. Und wer in der Lage ist, ein solches Szenario vorzubereiten, ist auch in der Lage, ein paar Gedanken an die wahrscheinlichen Folgen seiner Handlungen zu verwenden. Ich denke schon, dass es hier um eine wirkliche Herausforderung der Weltmacht USA geht. Man will diese Weltmacht entblößen, will, dass sie tatsächlich so aggressiv auftritt, wie sie den Terroristen in ihren Augen erscheint.
Wittstock: Es gibt bislang kein glaubwürdiges Bekenntnis zum Anschlag. Das ist ungewöhnlich, sonst schmücken sich Terrororganisationen gern mit ihren Untaten.
Haslinger: Natürlich ist das für diejenigen, die – in der Sprache des Terrorismus – dieses „Martyrium“ auf sich genommen haben, ein übles Spiel. Sie gehen sehenden Auges in den Tod, und dann gibt es niemanden, der dazu steht. Aber ich denke, die Verantwortlichen in Amerika verstehen die Botschaft auch ohne Bekenntnis der Täter. Ein solcher Anschlag kommt nicht aus dem Nichts. So ein Anschlag hat eine lange Vorgeschichte der Eskalation und der psychologischen Kriegsführung. In dem Fall natürlich auch der massenpsychologischen Kriegführung. Wir alle sind über die Medien in diese massenpsychologische Kriegführung einbezogen. Deshalb wird die Botschaft, die die Massen jetzt instinktiv wahrnehmen, auch die sein, die die Täter beabsichtigten.

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