„Adler und Engel“

Juli Zeh hat den coolsten Roman der Saison über den heißesten Sommer Europas geschrieben

Um mit einem Superlativ zu beginnen: Es gibt wohl keinen anderen Roman der deutschen Literaturgeschichte, in dem die Hauptfigur so viel Kokain in so kurzer Zeit durch die Nase jagt wie in diesem. Der Großkokser heißt Max, wird von seinem amerikanischen Chef Mäx genannt und ist Jurist, spezialisiert auf Völkerrecht. Als Osteuropaexperte arbeitet er in Wien an den politischen Verträgen mit, die nach dem Willen der UNO die Völker des zerfallenden Jugoslawiens zu einem friedlichen Umgang miteinander zwingen sollen. Eine verantwortungsvolle Aufgabe, der Max trotz des vielen Nasenpuders verantwortungsvoll nachkommt. Aber dann sucht ihn ein Gespenst aus seiner Vergangenheit heim: eine schmächtige junge Frau namens Jessie, mit der er seinerzeit zur Schule ging. Sie war seither höchst erfolgreich im Kokainschmuggelbusiness tätig, weshalb bei Max nach ihrem Auftauchen kein Mangel mehr herrscht an Geld und Drogen. Dafür bringt Jessie einen Haufen anderer Probleme mit: Offenbar hat sie, als sie den Schmuggeldienst quittierte, ein paar ihrer fabelhaften Geschäftspartnern schmerzhaft auf die Füße getreten und ist nun mitunter recht beunruhigt, wenn dunkle Gestalten die Straße entlang auf ihr Haus zulaufen. Während Max sich noch fragt, ob nicht zumindest einige dieser Befürchtungen hysterischer Natur sein könnten, ruft ihn Jessie im Büro an und erschießt sich während des Gesprächs vor seinen Ohren. Wer will, kann „Adler und Engel“ als Kriminalroman lesen. Den größten Teil der Geschichte nehmen die freiwilligen und manchmal auch unfreiwilligen Versuche von Max ein, Licht in die illegale Vergangenheit der Toten zu bringen. Tatsächlich wirkt Max, der nach Jessies Selbstmord ziemlich gründlich von der Rolle ist und nur noch von Koks und schlechter Laune zu leben scheint, wie eine jugendliche deutsche Antwort auf der psychopathischen Schnüffler aus den Romanen Joseph Wambaughs. Und tatsächlich stößt Max am Ende des Buches auch auf einen überraschenden Zusammenhang zwischen seiner juristischen und Jessies krimineller Karriere. Doch etwas genauer betrachtet hat „Ader und Engel“ keinen ausgefeilten detektivischen Plot, in dem ein Handlungszahnrädchen bis hin zur finalen Aufklärung präzise in das andere greift. Vielmehr lebt der Roman der 27-jährigen Juli Zeh – Autorin und Juristin, spezialisiert auf Völkerrecht – von einer ungeheuer intensiven, dichten Stimmung. Um mit einem zweiten Superlativ fortzufahren: „Adler und Engel“ dürfte der mit Abstand coolste Roman der Saison sein. Wobei „cool“ eben nicht einen Mangel an Gefühl bezeichnet, sondern die kühle Oberfläche, die sich einstellt, wenn verletzte Gefühle ängstlich vor anderen verborgen werden. Juli Zeh hat ein enormes Talent für die Darstellung unterdrückter Emotionen, für Bilder aus einer zutiefst heillosen Welt, in der die Menschen mit eisigem Grimm den seltsamsten Bedrohungen und Aggressionen trotzen müssen. Da ist zum Beispiel Clara, die Radiomoderatorin, die Max während der Wochen nach Jessies Tod begleitet. Aber nicht um ihm tröstend das Händchen zu halten, sondern um für eine wissenschaftliche Arbeit Details über die Kokainbranche und seine Drogenlaufbahn aus ihm herauszufragen. Max ist unwillig und störrisch, behandelt Clara schlecht, schlägt sie, quält sie und päppelt sie dann mit einer Messerspitze Koks wieder auf. Doch eine wirkliche Annäherung zwischen den beiden, gar ein Happy End ist nie in Sicht. Gefühle sind für die zwei viel zu wertvoll, gefährdet und schützenswert, als dass man sie in andere Menschen investieren sollte. Sie wahren lieber Abstand, egal wie nahe sie sich kommen. Um mit einem Superlativ zu schließen: In „Adler und Engel“ liegt über Europa ein Sommer, der heißer ist als jeder Sommer, der diesen Kontinent je heimgesucht hat. Alles glüht, alles kocht, das Licht lodert, die Menschen schwitzen und verdorren, und jeder körperliche Kontakt wird schon aus Gründen der Temperatur zu einer Marter. Also bleiben alle Leute erst recht auf Distanz und sehnen sich nach immer größerer Kälte. Wie Juli Zeh es versteht, allein schon durch diesen klimatischen Kunstgriff ihre Geschichte atmosphärisch aufzulanden, ist bestechend. Sie ist eine literarische Stimmungsmacherin von Graden.

Juli Zeh: „Adler und Engel“. Roman Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2001 445 S., 46,00 Mark.

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