Leon de Winters Roman „Leo Kaplan“ ist schrill, komisch, ein wenig chaotisch und rätselhaft – wie das Leben
Sie lieben Wundertüten? Dann ist Leon de Winters Roman „Leo Kaplan“ genau das richtige für Sie. Ein Buch, angefüllt bis zum Rand mit Überraschungen und Scherzartikeln, ein wenig chaotisch und gelegentlich ein bisschen trivial. Andererseits aber auch ein Buch voller verlockender Einblicke, voller Vexierbilder, Weisheitszettelchen und geheimnisvoller kleiner Gaben. Eine Wundertüte eben, schrill, verblüffend und rätselhaft. Ganz oben auf in dieser Tüte liegt eine Liebesgeschichte. Der gutaussehende, knapp vierzigjährige Schriftsteller Leo Kaplan hat Erfolg bei den Frauen. Genauer: Er hat sehr viel Erfolg bei sehr vielen Frauen. Doch das unentwegte Hin und Her zwischen seinen diversen Bettgefährtinnen (junge und reifere, abgebrühte und bis über beide Ohren verliebte, gerade frisch eroberte und seit Jahren mit ihm verheiratete) macht ihn nicht glücklich. Denn Kaplan ist mit einem nicht ganz unbekannten Leiden geschlagen: Egal mit welcher Frau er zusammen ist, er sehnt sich immer nach einer anderen. Seine zweite Scheidung und den näherrückenden vierzigsten Geburtstag vor Augen geht er mit sich ins Gericht. Er will endlich ergründen, was es ist, das ihn so unstet und ruhelos macht. Da trifft es sich vorzüglich, dass er in Kairo zufällig seiner ersten großen Liebe wiederbegegnet: Ellen, die er vor fast zwanzig Jahren abrupt verließ, nachdem sie ihm sagte, sie habe das gemeinsame Kind abtreiben lassen. Was liegt für Kaplan näher, als sich einzureden, er habe nach jener traumatischen Trennung bei all den anderen Frauen immer etwas gesucht, das ihm nur diese erste geben konnte. Hier, in dieser ebenso verzweifelten wie komischen und abenteuerlichen Suche Kaplans nach seinem wahren Liebes-Ich, hat der Roman seine Höhepunkte, aber auch seine Tiefpunkte. Hinreißend, wie Leon de Winter seinen Helden alle Höllen der Selbstvorwürfe über die eigene sexuelle Unbeständigkeit durchleiden und ihn zugleich in immer neue Affären hineintaumeln lässt. Geradezu altmeisterlich gekonnt, wie er es versteht, in etliche Liebesepisoden immer wieder dunkel drohend das Todesmotiv einzuweben, wie er also das größte denkbare Glück mit der größten denkbaren Katastrophe kontrastiert. Daneben aber leistet sich de Winter geradezu mutwillige Ausflüge in den Kitsch und ins Klischee: Die große Aussprache zwischen den Liebenden im malerischen Restaurant am Ufer eines südlichen Bergsees komplett mit aufziehendem Gewitter ist allzu melodramatisch geraten. Auch die Gründe für die lang zurückliegende Trennung der beiden werden nie wirklich plausibel. Denn Ellen hat das gemeinsame Kind gar nicht abtreiben lassen, sondern Kaplan mit dieser Nachricht nur schockieren wollen. Als der sie daraufhin Hals über Kopf verließ, heiratete sie einen anderen und begrub ihre Lebenslüge für immer in ihrem Herzen. Derartige Plots findet man sonst in Romanen, die im Zeitungskiosk in Heftchenformat angeboten werden. Aber so ist das eben mit Wundertüten, Brauchbares und Schnulziges, echte Überraschungen und magenbedrohliches Zuckerzeug liegen darin wie selbstverständlich beieinander. „Leo Kaplan“ erschien in den Niederlanden schon 1986. De Winter war damals 32 Jahre alt und bezeichnet das Buch heute als Frühwerk. Offenbar legte er seinerzeit nicht immer auf Glaubwürdigkeit den größten Wert, sondern eher auf hohe emotionale Intensität. Das muss man dem Roman denn auch lassen: Selbst wenn ein paar Szenen ziemlich leichtgewichtig geraten sind, ist es schwer, sich von diesem Roman loszureißen. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil der Roman, neben der Liebesgeschichte Kaplans noch etliche andere Handlungsstränge, Intermezzi und Abschweifungen enthält, die sich kaum ins traditionelle Erzählschema fügen. Sie sind die Knallbonbons und das Tischfeuerwerk in dieser Wundertüte. Da werden nicht nur die journalistische Gelegenheitsarbeiten von Leo Kaplan erwähnt, sondern auch ein Leitartikel von ihm samt mehrerer Leserbriefe abgedruckt. Da wird den Lebensstationen einer Tischdecke nachgezeichnet und die Schicksale der Händler aufgeblättert, durch deren Hände sie ging. Da wird von der Ermordung eines Gorillas durch die Frau eines Zoodirektors berichtet und von einem erfolgreichen Unternehmer und Serienmörder in Florenz. Ja, da kommen selbst ein Literaturkritiker mit einem Essay über Harry Mulisch und ein Hund mit seinen Ansichten über die Menschenseele zu Wort. Das alles zu einem lesbaren Bündel zusammenzubinden ist ein schriftstellerisches Kunststück. Souverän jongliert de Winter mit parodistischen, burlesken, phantastischen, elegischen oder auch drastisch realistischen Elementen. Hier macht er einen Abstecher zum Kriminalroman, da einen zur Sozialreportage, hier baut er eine Erzählung Kaplans ein, die alle Marotten postmodernen Erzählens zeigt, da ein allegorisches Liebesdrama zwischen drei Hochseilartisten. Bewundernswert, dass de Winter trotz all dieser wüsten Sprüngen seine Leser nicht verliert, sondern, im Gegenteil, meist bestens zu unterhalten versteht. Im Grunde ist „Leo Kaplan“ ein anschauliches Beispiel dafür, wie unangemessen und grobschlächtig viele literaturwissenschaftliche Termini oder Einteilungen sind. Wer will, kann den Roman als eine nahezu klassische Love-Story, als ein weiteres literarisches Exempel für den üblichen psychologischen Realismus beschreiben. Doch mit gleichem Recht könnte man das Buch auch als einen Versuch bezeichnen, aus eben dieser gewohnten Darstellungstechnik auszubrechen und eine aufgesplitterte Erzählweise zu erproben, die den Lesern zugleich die Konstruiertheit allen Erzählens bewusst machen soll. Ein Glückskind, wer zu solch enthemmtem Begriffsgefuchtel nicht verpflichtet fühlt und sich zu aller erst an de Winters manchmal graziösen, manchmal derben Verrücktheiten einfach freuen kann. Wie viele Möglichkeiten es gibt, auch mit ganz traditionellen Erzählmethoden die Bedürfnisse der Leser zugleich zu erfüllen und zu unterlaufen, demonstriert Leon de Winter wie nebenher an Kaplans Problem mit den Frauen: Die Frage nämlich weshalb er sich immer nach einer anderen sehnt, egal mit welcher er gerade Tisch oder Bett teilt, wird den Lesern zwar beantwortet – allerdings in jedem Kapitel ein wenig anders. Mal braucht Kaplan seine Seitensprünge, um sich nach jedem nicht nur aus Gewohnheit, sondern aus freien Stücken wieder für seine Frau entscheiden zu können. Mal sucht er bei all den anderen Frauen, was ihm nur die endgültig verlorene Ellen geben könnte. Mal ist er schlicht ein haltloser Charakter, eine „Krokodilsseele“, mal ein glaubensloser Jude, der mit seiner Religion jeden Halt in der Welt verloren hat. Welche von den zahlreichen Antworten die richtige ist und ob es überhaupt eine richtige gibt, das muss jeder selbst entscheiden. Wie im Leben.
Leon de Winter: „Leo Kaplan“. Roman Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers Diogenes Verlag, Zürich 2001 542 S., 46,90 Mark.