Ein Gespräch mit Dieter Forte über den Bombenkrieg, die Sprache als Hilfsmittel bei der Annäherung an den Schrecken und das Gefühl gleich tot zu sein sowie Martin Walser

Er war als kleiner Junge ein Nervenbündel, ein Stotterer, reagierte nur noch auf Sirenen, Bomben und den Wunsch nach Essen: Vor sieben Jahren hat der 1935 geborene und in Düsseldorf aufgewachsene Schriftsteller Dieter Forte in seinem Roman „Der Junge mit den blutigen Schuhen“ eines der wenigen literarischen Werke über die Leiden der deutschen Zivilbevölkerung während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg geschrieben. In seinem Buch „Schweigen oder sprechen“ (S.Fischer, Frankfurt/M. 89 S., 10 E) kommt er jetzt noch einmal auf das Thema zurück. Uwe Wittstock sprach mit Forte über Literatur und Luftkrieg.

Uwe Wittstock: Bei Kriegsende waren Sie zehn Jahre alt. Sie gehörten keiner der von den Nazis verfolgten Minderheit an. Waren Sie ein Opfer des Nationalsozialismus?
Dieter Forte: Eigentlich ja. Ja. Ich habe das damals nicht so begriffen. Auch Imre Kertész, der als 15-Jähriger aus dem KZ befreit wurde, hat davon erzählt, wie wenig er begriffen hatte von der Gewalt, die ihn töten wollte. Die Qualen, die man als Zehnjähriger erlebt, nimmt man als willkürliche Folge von Schrecken wahr, die grundlos niederprasseln. Später lernt man dann, was und wer die Terrormaschine in Gang gesetzt hat, die den einen als Kind ins KZ bringt und den anderen dem Hagel der Bomben aussetzt. Wittstock: Sie waren als Kind nicht für den Krieg verantwortlich. Dennoch haben Sie im Krieg gelitten wie die Erwachsenen. Forte: Ja, das ist heute schwierig zu vermitteln. Natürlich haben damals viele Deutsche gewusst, dass der Krieg ein deutsches Verbrechen war. Auch wenn Rundfunk und Zeitungen zensiert wurden, hat man doch begriffen, was direkt vor den eigenen Augen geschah. Es gab KZ-Außenlager mitten in der Stadt, im Düsseldorfer Volksgarten. Die KZ-Häftlinge wurden nach den Luftangriffen eingesetzt, um uns aus den einstürzenden Kellern zu holen. Wir waren diesen Menschen natürlich dankbar. Wir spürten sofort, dass da ein Unrecht mit ihnen geschah, und dass wir als Deutsche dafür würden büßen müssen. Das war Thema in den Luftschutzkellern, wenn wir auf die Bomben warteten. Aber wir waren zugleich Opfer und erbittert über die Taktik der Bombardements. Wittstock: Inwiefern?
Forte: Heute weiß man, das der britische Luftwaffengeneral Arthur Harris, Bomber-Harris genannt, angeordnet hatte, vor allem die Arbeiterviertel der Städte zu bombardieren. Nicht die Fabriken. Das haben wir natürlich gemerkt, meine Familie war eine Arbeiterfamilie und lebte in einem Arbeiterviertel. Wir waren wütend, wenn wir nach den Luftangriffen aus den Kellern der verwüsteten Straßen stiegen und sahen, dass die Fabriken, in denen Panzer und Geschütze gebaut wurden, unversehrt geblieben waren. Sie blieben es bis zum Schluss, und die Maschinen wurden nach dem Kriegsende demontiert und nach Russland oder Jugoslawien geschickt. Wittstock: Warum wurden die Fabriken nicht bombardiert?
Forte: Das hätten wir damals auch gern gewusst. Die besten Viertel der Stadt, wo die meisten Nazi-Größen lebten, wurde ebenfalls nicht bombardiert. Die Angriffe sollten, heißt es heute, die Arbeiter zum Aufstand gegen die Nazis treiben. Doch das war psychologisch falsch gedacht. Wenn man Menschen in die Steinzeit zurückbombt, denken sie nicht an Aufstände, sondern nur ans pure Überleben. Steinzeit – das ist wörtlich zu verstehen: Es gab kein Wasser mehr, kein Essen, keine Heizung, wir lebten in Höhlen unter der Erde, zerlumpt, dreckig und schutzlos gegen die Angriffe, die über uns hereinbrachen.
Wittstock: Warum wurde nach dem Ende des Kriegs so wenig über die Luftangriffe geschrieben?
Forte: Das kann ich letztlich nicht beantworten. Ich kann nur vermuten, dass der Bombenkrieg gegen Deutschland zunächst zu einem Tabu-Thema wurde, denn das größere Unrecht während dieses Kriegs war die Ermordung der Juden in den KZs. Das Wissen um diese Verbrechen und das entsprechende Bewusstsein der Schuld musste man erst verbreiten, bevor man über anderes reden konnte.
DIE WELT: Es gibt nur wenige Bücher, die den Schrecken des Luftkrieges zu vergegenwärtigen versuchen: Gert Ledigs „Vergeltung“, Hans Erich Nossacks Beschreibung des Luftangriffs auf Hamburg.
Forte: Ledigs Buch ist sehr gut. Aber diese Autoren und Bücher haben damals keine große Rolle gespielt. Ledig wurde sehr früh regelrecht weggedrückt aus dem literarischen Leben.
Wittstock: Kann man die Erlebnisse während eines Bombenangriffs überhaupt beschreiben?
Forte: Im Grunde natürlich nicht. Genauso wenig wie man das Inferno eines KZ beschreiben kann. Ich habe versucht, mich schreibend dem anzunähern, was ich da als Kind in den Kellern unterm Bombenhagel erlebt habe. Die Sprache trägt und hilft da sehr, das war für mich als Schriftstellers eine große Erfahrung. Aber was immer man schreibt, es bleibt nur eine Annäherung an den wirklichen Schrecken. Das ungeheuerliche körperliche Grauen, dem man nicht nur einmal, sondern über Jahre ausgesetzt war, kann man letztlich nicht schildern. Ich war als Kind ein Nervenbündel, ein Stotterer. Ich reagierte nur noch auf Sirenen, Bomben, den Wunsch nach Essen. Man führt kein menschliches Leben mehr, man folgt archaischen Reflexen. Ich kann Ihnen zeigen, an welcher Stelle ich im Manuskript meine Erinnerung an Luftangriffe abgebrochen habe, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, weil ich krank wurde darüber und der Notarzt kommen musste.
Wittstock: Die entsprechende Szene in ihrem Roman „Der Junge mit den blutigen Schuhen“ ist apokalyptisch und erschütternd für den Leser. Forte: Die Luftschutzräume waren damals ja keine Bunker, sondern Ziegelkeller, abgestützt mit Balken. Man sitzt mit Menschen auf engstem Raum, Menschen die schreien, die Todesangst haben, die irrationale Dinge tun, plötzlich mitten im Angriff raus wollen, aber Gott sei Dank hält ein anderer die Gasschutztür zu. Man hört die Bomben, gewaltige Explosionen, die sich rasend schnell rhythmisch nähern, die Erde bebt, die Wände zittern, Staub beginnt zu rieseln, ein weißer Schleier legt sich über alles, das Licht flackert, erlischt. Es kracht rein, ohrenbetäubend. Hat die Explosion das Nachbarhaus zerrissen? Trifft die nächste Bombe uns? Oder trifft sie das Haus neben uns? Kaum ist diese Bombenwelle vorbei, nähert sich die nächste rhythmisch, werden die Explosionen lauter, rasen auf einen zu.
Wittstock: Wie haben Sie damals reagiert?
Forte: Oft apathisch. Es ist nicht gut für ein Kind, wenn es so genau erfährt, jetzt, in den nächsten Sekunde kannst du tot sein. Oder wenn es raus kommt aus den Kellern und sieht verbrannte Menschen, zerstückelte Menschen, oder – ganz schlimm – verbrühte Menschen. Denn das Wasser, mit dem die Feuerwehr löschte, wird durch Brände solchen Ausmaßes zum Kochen gebracht. Also fanden sich in den Kellern, wo das Wasser sich sammelte, aufgebrühte Körper, Menschen, die bei lebendigem Leibe gekocht worden waren. Deshalb hat die Feuerwehr manchmal nicht einmal mehr gelöscht, sondern hat einfach alles brennen lassen. Für ein Kind war das schrecklich, denn das Kind glaubt an die Feuerwehr, und die Feuerwehrleute saßen da, schauten in die Flammen und konnten nichts tun.
Wittstock: Welches Ausmaß hatte ein solcher Angriff?
Forte: Es gab 243 Bombenangriffe allein auf Düsseldorf. Bei einem Angriff zu Pfingsten kamen 1000 Bomber. Zu Anfang fielen die Sprengbomben, um die Hausdächer zu öffnen. Dann über 200.000 Brand- und Phosphorbomben. Danach noch einmal Sprengbomben, um die Rettungsmannschaften zu treffen. Am Schluss brannte die Stadt in einer Länge von acht Kilometern und einer Breite von fünf Kilometern. Ich war damals sieben, acht, neun Jahre alt. Ich bin dann krank geworden, und es gab natürlich keine ärztliche Behandlung, keine Medikamente, wir lebten ja, nachdem alles verbrannt war, in einer Steinwüste.
Wittstock: Wie leben Menschen in einer solchen Situation weiter?
Forte: Nur mit ihren klassischen Überlebensreflexen. Ich habe meine Mutter nie so stark gesehen wie in dieser Zeit. Sie war voll konzentriert auf den einen Punkt, mich zu retten und vielleicht auch sich selbst, aber auf jeden Fall mich. Sie ging durch Feuer, durch Mauerdurchbrüche, sie schaffte es, Essen zu organisieren. Es ging nur ums Überleben, daneben war nichts mehr, was an Zivilisation erinnerte.
Wittstock: Im Chaos bietet nur die Familie Schutz?
Forte: Ja, die Familienbindungen waren ganz stark. Vor allem zwischen Müttern und Kindern. Die Väter waren ja in den Armee. Die Frauen hielten zusammen, es gab zerlumpte Frauen-Banden, die beschafften und teilten, was zum Überleben notwendig war.
Wittstock: Günter Grass erzählt in seinem Buch „Im Krebsgang“ vom Tod der deutschen Flüchtlinge auf der „Gustloff“. Wie kommt es, dass die Leiden deutscher Zivilisten im Krieg jetzt zum literarischen Thema werden?
Forte: Das ist natürlich kein Zufall. Heute haben wir die letzte Gelegenheit mit Menschen, die dabei waren, über diese Themen zu reden. Das gleiche gilt für Imre Kertész – ich finde es wunderbar, dass er jetzt den Nobelpreis bekommen hat. Die Generation, die in jungen Jahren die Schrecken des Krieges erlebt hat, versucht gegen Ende ihres Lebens ihre Erinnerungen und Albträume zur Sprache zu bringen, um ihre Erfahrungen weiterzugeben.
Wittstock: Kann das gelingen?
Forte: Wenn man sich Mühe gibt, schon. Ich war vor kurzem in der Abiturklasse einer Schweizer Schule, die meinen Roman durchgearbeitet hatte. Zu Anfang hielten die Schüler das meiste, was ich beschrieben hatte, für Erfindung. Am Ende unserer Gespräche wurden sie ganz still, weil sie begriffen, dass ich das alles wirklich erlebt hatte, vor wenigen Jahrzehnten nur und nur wenige Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Diese Jugendlichen fühlen sich in meinen Erinnerungen so verloren wie ich in den seit Jahrhunderten unveränderten Städten der Schweiz. Als im Fernsehen die Bilder von Grosny zu sehen waren, das die Russen dem Erdboden gleichgemacht haben, fühlte ich mich sofort zu Hause. So sehen für mich die wahren Städte aus: Trümmerlandschaften. Die schönen Fassaden von heute sind nur Täuschung. Sie werden nicht lange halten. Wittstock: Schon während des Krieges war das Inferno des Luftkriegs für die nicht unmittelbar beteiligten Menschen unbegreifbar.
Forte: Meine Mutter und ich wurden aus dem zerstörten Düsseldorf aufs Land nach Süddeutschland geschickt, wo es keine Bombardierungen gab. Man glaubte uns dort einfach nicht, aus welcher Not wir geflohen war. Man hielt uns für Schmarotzer, die zu faul zum Arbeiten waren, und so behandelten man uns auch. Martin Walser beschreibt in „Der springende Brunnen“ die Evakuierten als schäbige, selbstsüchtige Menschen – was ich ihm sehr übel nehme. Die Bauern kannten die Steinwüsten der Städte nicht, sie glaubten nicht, was wir erzählten, nannten die Frauen „Bombenweiber“ und behandelten uns so lange schlecht, ja verweigerten den hungernden Kindern das Essen, bis die Frauen wieder in die zerstörten Städte zurückgingen, zurück unter den Bombenhagel, in dem sie zu Hause waren. Kein Wort davon hat Martin Walser beschrieben, wahrscheinlich hat er bis heute nicht begriffen, was damals geschehen ist

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Die alte Ordnung ist dahin

Mit Siegfried Unseld wurde manche liebgewordene Gewissheit zu Grabe getragen

Die Beerdigung Siegfried Unselds in Frankfurt am Main war mehr als der Abschied von einem Menschen und mehr als der Abschied von einem Verleger. Diese Beerdigung machte noch einmal nachdrücklich sichtbar, wie sehr das intellektuelle Leben der Bundesrepublik im Begriff ist, sich von einem Teil seiner selbst zu verabschieden. Die Bühne für diese denkwürdige Zeremonie war prachtvoll bereitet: Über dem Frankfurter Hauptfriedhof breitete sich ein hellblauer Himmel, aus dem die wunderbar kraftvolle Novembersonne strahlte. So war alles von Licht überschüttet, als dürfe an diesem Tag, bei diesem Abschied kein Schritt, keine Geste, keine Gebärde unausgeleuchtet bleiben. Siegfried Unseld war ein großer Mann. Wie die meisten großen Männer hat er, um sich ganz entfalten zu können, andere an den Rand gedrängt und vor den Kopf gestoßen. Er war ein Patriarch, der nach eigenem Recht den einen nahm und den anderen gab. Autoren, die in seiner Gnade standen, lebten wohl; weh all jenen, die seiner Ungnade verfielen. So waren unter denen, die in der Frankfurter Trauerhalle mit Blick auf seinen Sarg Platz nahmen, nicht nur Menschen, die ihre Zeit mit ihm in vollendeter Harmonie verbracht hatten, sondern auch solche, die in den Begegnungen mit ihm manche Blessuren davongetragen haben. Es ist das Verdienst Adolf Muschgs, dass Unseld noch bei seiner Totenfeier die Ehre angetan wurde, in aller Freundschaft unverlogen und aufrichtig dargestellt zu werden. „Wie schwer es diesem Mann fiel, etwas loszulassen“, erinnerte Muschg, „es gelang ihm nicht, solange er noch im Vollbesitz seiner Kräfte war.“ Erst als ihm seine Krankheit die Energie nahm, „ließ er anderen Raum“. Unseld war ein Mensch der Macht, der unermüdlich seinen Einfluss zu mehren suchte, und für den – wie für viele Machtmenschen – die errungenen Positionen schließlich gleichbedeutend waren mit ihrem Leben selbst. Wie hätte er sie da aufgeben können? Aus Unselds Suhrkamp Verlag sei, sagte Muschg in seiner Totenrede, viel an geistiger Substanz „in das Fundament der Bundesrepublik eingeflossen“. Kein Zweifel, die intellektuellen Konturen Westdeutschlands in den sechziger und siebziger Jahren sind ohne diesen Verlag und also auch ohne diesen Verleger nicht denkbar. In jener Zeit begründete er den Ruf seines Hauses, Hüter eines geistigen Grals zu sein, der das eigentlich legitime Zentrum unserer Kultur ausmache. Unseld hat es verstanden, diesen Ruhm von allen Tatsachen abzulösen und bis in unsere Gegenwart zu verlängern. An fleißigen, bis zur Selbstverleugnung eifrigen Mitstreitern hat es ihm dabei nie gemangelt – denn schließlich darf sich als Ritter fühlen, wer neben König Artus einen Gral hütet. Aber kann eine solche Tafelrunde weiterexistieren, wenn Artus tot ist? In Frankfurt versammelten sich unter strahlendem Herbsthimmel die meisten seiner Ritter ums Grab. Ein glanzvolles Bild. Doch die bange Frage nach der Zukunft brauchte unter ihnen kaum noch ausgesprochen zu werden. Denn sie stellt sich nicht erst seit Unseld krank dem Verlag fern blieb. Sie schwärt wie eine alte Wunde, seit Unseld seinen Sohn Joachim nach einem Zerwürfnis aus dem Verlag drängte und seither einen Nachfolgekandidaten nach dem anderen verschliss. Unselds Haus hat, kein Zweifel, das literarische Leben der alten Bundesrepublik beeinflusst wie kein anderer Verlag. Aber ist Suhrkamp je angekommen in der „Berliner Republik“? Es ist von fast schon aufdringlicher Symbolik, dass Unselds Versuche, in den neuen Hauptstadt verlegerisch Fuß zu fassen, rasch scheiterten: Mit Arnulf Conradi gründete er 1994 den Berlin Verlag, musste aber seine Anteile bald verkaufen – bezeichnenderweise an den Bertelsmann Konzern, der in jeder denkbaren Hinsicht als Gegensatz des Suhrkamp Verlags betrachtet werden darf. Weder die englischsprachigen Erzähler, die auf unserem Buchmarkt traditionell die größten Erfolge erzielen, noch die deutsche Pop-Literatur, die in den letzten Jahren Leser und Kritik in Atem hielt, sind in Unselds Haus je heimisch geworden. Manche sehen darin einen Segen, gut. Aber was geschieht, wenn die Ritter seiner literarischen Tafelrunde nun die Tür zu der Kammer aufstoßen, in sie seit Jahren den Gral zu hüten glaubten, und feststellen, dass die Kammer längst leer ist? Verleger werden in der Öffentlichkeit gern als eine Art Gärtner betrachtet, die ihre Beete pflegen, sich am Wuchs ihrer Pflanzungen freuen und schließlich die geernteten Früchte zu Kauf anbieten. Vielleicht ist es an der Zeit, diese Metaphorik entschieden zu modernisieren und Verleger mit börsenerfahrenen Fondsmanagern zu vergleichen, die langfristig auf bestimmte Autoren wie auf Aktien setzen. Den Spitzenleuten unter ihnen – und zu denen zählte Unseld – gelingen mit manch einer Anlage ganz exzellente Kurssteigerungen. Woraufhin sich unsichere Kollegen und zahllose Kleinanleger an ihre Entscheidungen anhängen, kaufen, was sie kaufen, verkaufen, was sie verkaufen. Die Macht der wenigen Erfolgsverwöhnten wächst daraufhin unaufhaltsam, und die Kurse ihrer Lieblingsaktien stoßen in schwindelnde Höhen vor. Lange Jahre war, was bei Suhrkamp erschien, für viele Kritiker, Buchhändler und auch Leser das Richtmaß aller literarischen Dinge. Dieser Verlag schuf seine eigene Ordnung, und sie wurde oft von anderen allzu fraglos nachgebetet. Auch von diesen scheinbaren Gewissheiten heißt es Abschied zu nehmen. Nicht erst durch Unselds Tod, aber mit ihm wird unübersehbar ein liebgewordenes intellektuelles Koordinatensystem zu Grabe getragen. Auf dem Frankfurter Friedhof lag, als die Erde auf den Sarg fiel, das Licht der Sonne nur noch in den Bäumen. Es war noch nicht Dämmerung, aber der Abend kündigte sich an. Was einst Ordnung stiftete, ist dahin, die Zukunft ist offener denn je, die Dinge sind in Bewegung geraten. Was kommt, wird nicht mehr in die alten Koordinatensysteme passen

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„Wer es besser machen kann, soll es tun. Dies ist ein freies Land“

„Wer es besser machen kann, soll es tun. Dies ist ein freies Land“

Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki über seinen Kanon „Deutsche Literatur“
Uwe Wittstock: Ihr Kanon soll, wenn er fertig ist, fünf gewichtige Buchkassetten umfassen: Die 20 Bände des Roman-Kanon sind im vergangenen Jahr erschienen, jetzt kommen in 10 Bänden die Erzählungen. Dramen, Gedichte und Essays sollen folgen. Wie lange haben Sie an der Zusammenstellung dieses Großprojekts gearbeitet?
Marcel Reich-Ranicki: Rund siebzig Jahre. Ich sage das ohne Koketterie. Vor siebzig Jahren war ich dreizehn Jahre alt und fing an, Literatur zu lesen, vor allem deutsche. Damals war ich bei der Frage, was ich lesen sollte, angewiesen auf Ratschläge. Zwei Institutionen waren da für mich besonders wichtig: Das Theater und der Deutschunterricht. An den Berliner Theatern durften damals viele zeitgenössische Autoren nicht gespielt werden, weil die Nationalsozialisten sie verboten hatten. Also wurden vor allem die deutschen Klassiker gespielt, was zu meiner Bildung erheblich beitrug. In der Schule war es ähnlich, jedenfalls bin ich bis heute dem Deutschunterricht sehr dankbar. Doch ein Kanon hat mir damals mit dreizehn Jahren gefehlt. Er hätte mir in meiner Lesewut, meiner Leselust eine Orientierung sein können.
Wittstock: Richten Sie sich also mit Ihrem Kanon vor allem an junge Leser, denen noch die literarische Orientierung fehlt?
Reich-Ranicki: Dies ist ein Kanon für Leser, aber nicht nur für junge. Sondern für alle, die sich orientieren wollen über deutsche Literatur. Es würde mich natürlich freuen, wenn auch Fachleute von diesem Kanon profitieren könnten. Ich habe mich bemüht, ein wenig aufzuräumen, also Autoren, die von Generation zu Generation in Anthologien und Literaturgeschichten mitgeschleppt wurden, wegzulassen, wenn mir ihre Werke als überlebt erscheinen – und so Platz zu schaffen für neuere Literatur.
Wittstock: Sie wurden von vielen Kritiker-Kollegen öffentlich gescholten, weil Sie beim Roman-Kanon so viele berühmte Namen weggelassen haben.
Reich-Ranicki: Der Roman-Kanon ist der schwächste Teil dieses fünfteiligen Unternehmens. Und zwar weil auch der Roman-Kanon in eine Buchkassette passen sollte. Deshalb mussten wir den Umfang auf 20 Bände beschränken, die Kassette wiegt über acht Kilo und ist entsprechend teuer. Liebend gern hätte ich einen Roman-Kanon mit 25, mit 30 oder gar 50 Bänden zusammengestellt. Aber welcher Leser könnte den noch bezahlen, und wie soll er ihn aus der Buchhandlung nach Hause tragen? Ich musste mich auf 20 Bände beschränken und bin mir bewusst, dass es wichtige Romane gibt, die ich nicht aufnehmen konnte.
Wittstock: Im Vergleich dazu macht Ihr Erzählungs-Kanon jetzt einen deutlich breiteren Eindruck. Hier findet sich für fast jeden Geschmack irgendetwas, Kurzgeschichten, aber auch große Erzählungen im Umfang von über 100 Seiten, Märchen, Anekdoten. Sogar Prosa von Peter Handke, Christa Wolf und Martin Walser, die sonst nicht zu ihren Lieblingen zählen. Haben Sie denn gar keine Lust mehr, sich mit ihren Gegnern herumzustreiten?
Reich-Ranicki: Ich habe in den Erzählungs-Kanon alles aufgenommen, was mir literarisch gut und sinnvoll erschien, und von dem ich glaube, dass es viele Menschen lesen sollten. Ob meinen Gegnern das gefällt oder nicht, ist mir gleichgültig. Wissen Sie, in Wien sind die meisten Bewohner der Stadt, darunter viele Taxichauffeure, davon überzeugt, sie könnten die Staatsoper besser leiten als der jeweils amtierende Intendant. Wenn einer meiner Gegner meint, er könne einen besseren Kanon zusammenstellen als ich, dann soll er es tun. Bitte. Ich habe keine Einwände. Dies ist ein freies Land. Wittstock: Wie unterscheiden Sie zwischen Roman und Erzählung? Reich-Ranicki: Die einzige Romandefinition, die mich überzeugt stammt von dem Engländer E.M. Forster: Ein Roman ist ein erzählendes Werk mit mehr als 200 Seiten.
Wittstock: Nach dieser Definition müssten Robert Musils „Törless“ und Max Frischs „Montauk“ im Erzählungs-Kanon erscheinen. Sie sind aber im Roman-Kanon.
Reich-Ranicki: Das ist nicht ganz richtig. Abgesehen davon, dass es in jeder Regel Ausnahmen geben darf, umfassen beide Bücher in den Einzelausgaben beinahe 200 Seiten und haben eher Romancharakter. Zudem wollte ich keinen Roman-Kanon machen ohne Musil, aber sein „Mann ohne Eigenschaften“ kam nicht in Frage. Wittstock: Warum? Reich-Ranicki: Ich habe in meinem Buch „Sieben Wegbereiter“ nachzuweisen versucht, dass der „Mann ohne Eigenschaften“ missraten und letztlich unlesbar ist. Wittstock: Mit den beiden ersten Kassetten liegt jetzt der gesamte Prosa-Teil ihres Kanons vor. Zugegeben, sie betonen, ihre Auswahl sei subjektiv. Aber wenn ein Kritiker von ihrem Format einen Kanon zusammenstellt, beansprucht der automatisch Autorität. Und Sie präsentieren nun einen zusammen dreißigbändigen Prosa-Kanon ohne eine Zeile von Ernst Jünger, von Hermann Broch oder auch Carl Spitteler, Literaturnobel-preisträger von 1919. Reich-Ranicki: Zunächst einmal, der Nobelpreis ist kein Qualitätsmaßstab. Ich habe auch keinen Text von Paul Heyse aufgenommen, der den Nobelpreis 1910 erhielt. Weil beide Autoren, Spitteler und Heyse, überlebt sind, ihre Prosa ist mittlerweile einfach zu schwach für den Kanon. Dann: Ernst Jünger. Ich bin ehrlich gesagt nicht einmal auf die Idee gekommen, ihn für den Kanon in Betracht zu ziehen. Ich habe einmal, vor langer Zeit, eine Erzählung von ihm in eine meiner Anthologien aufgenommen – sie war von mittlerer Qualität. Einen bedeutenden Roman von Jünger sehe ich nicht. Ich glaube, dass er seine Wirkung vor allem seiner Persönlichkeit zu verdanken hatte, nicht seiner Prosa. Thomas Mann hat ihn 1945 unübertrefflich charakterisiert: Er sei „ein Wegbereiter und eiskalter Genüssling des Barbarismus“. Jüngers Werk ist mir fremd.
Wittstock: Und Hermann Broch?
Reich-Ranicki: Er wurde überschätzt und ist jetzt überlebt. Wittstock: Außerordentlich viele Geschichten im Kanon stammen auch den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren. Stand damals die deutsche Erzählung in besonderer Blüte, oder lieben Sie diese Zeit besonders, weil Sie in jenen Jahren zum Großkritiker aufstiegen? Reich-Ranicki: In der Epoche, von der Sie sprechen, hatten die meisten deutschen Schriftsteller größte Schwierigkeiten, mit der Romanform die Gegenwart zu bewältigen. In der kürzeren Erzählung haben sie dagegen nur kleine Ausschnitte der Gegenwart geschildert, und das ist ihnen viel besser gelungen. Deshalb sind die Erzählungen dieser Zeit besser als die meisten Romane. Wo die Welt schwer zu begreifen ist, liegt der Rückzug auf die kleine Form nahe.
Wittstock: Die letzte von Ihnen aufgenommene Geschichte ist von Christoph Ransmayr und stammt aus dem Jahr 1985. Das ist fast 20 Jahre her. Ist seither im deutschen Sprachraum keine gute Erzählung mehr geschrieben worden, oder interessiert sie die zeitgenössische Literatur nicht.
Reich-Ranicki: Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, ich habe mit dem Gedanken gespielt, als Schlussstück des Kanons eine Geschichte von Judith Hermann aufzunehmen. Ich schätze ihre Erzählungen sehr, sie sind erst vor wenigen Jahren erschienen. Ich glaube, sie wird noch bessere, reifere Prosa in ihrem Leben schreiben. Deshalb, denke ich, wäre es wohl verfrüht, sie mit ihren ersten Geschichten in den Kanon aufzunehmen.

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„Hure“

Nelly Arcan Roman belegt die Verbindung zwischen Sex und Selbsterforschung in der französischsprachigen Literatur
„Ja, das Leben ist durch mich durchgegangen, die Männer sind zu Tausenden in meinem Bett, in meinem Mund gewesen, das habe ich nicht geträumt, das Sperma auf mir, auf meinem Gesicht, in meinen Augen ist nicht erfunden, das habe ich alles gesehen, und es geht gerade so weiter“. Das Buch der jungen frankokanadischen Autorin Nelly Arcan „Hure“ macht seinem Titel alle Ehre. Hier geht es zur Sache, nüchtern, detailliert und ohne Scheu vor abstoßenden Passagen, denn Nelly Arcan verschweigt nicht, dass es wenig Vergnügen macht, Freiern gegen Geld Vergnügen zu machen. Das ist zwar keine überraschende Erkenntnis, aber doch eine, die immer noch Aufmerksamkeit erregt: Nicht nur im Literaturbetrieb – denn Nelly Arcan schreibt eine anspruchsvolle Prosa -, sondern auch in Frauenmagazinen, Boulevardzeitungen oder der Yellow-Press, die sonst eher selten über ambitionierte Romanprojekte berichten. Sex sells. Eine neue Schriftstellerin, eine ehemalige Prostituierte, eine junge, unglückliche Frau, diese Story will sich einfach keine Zeitung entgehen lassen. Selbst dann nicht, wenn es in diesem Roman weit mehr um das Seelen- als das Liebesleben Nelly Arcans geht und Voyeure das Buch schnell wieder zuschlagen werden. Sex sells: Das ist eine der unbezweifelbarsten Einsichten unserer Zeit, und sie wurde nicht von Schriftstellern, Philosophen oder Kulturkritikern formuliert, sondern von Werbetextern. Sex sells: Knapper, präziser, brutaler kann es kein Meister der Konkreten Poesie auf den Punkt bringen. Nackte Körper, nackte Leidenschaften – damit lässt vom Sportwagen über Vierfrucht-Marmelade bis hin zum introspektiven Roman einfach alles verkaufen. Im großen Medienrauschen, das uns tagtäglich umspült, gibt es wenig, das nicht in der einen oder anderen Form auf die Wirksamkeit dieser schlichten Erkenntnis spekuliert. Eine berühmte Ausnahme ist die deutsche Literatur. Zwar wäre es übertrieben, sie zur komplett sexfreien Zone zu erklären. Doch ist sie, alles in allem, bis in unsere enttabuisierte Gegenwart hinein erstaunlich zurückhaltend und ungelenk geblieben in der Darstellung dessen, was zwischen Menschen in Betten und an anderen Orten geschieht. Auch die jüngste Modewelle, die durch die Buchhandlungen plätscherte, die Pop-Literatur, hat daran wenig geändert. Kein Zufall, dass es ein deutscher Verlag ist, der jetzt einen neuen Literaturpreis namens „Der spitze Stift“ ausgeschrieben hat, dessen Zuerkennung einer öffentlichen Abstrafung gleichkommt: Er soll nach dem Willen der Stifter für die „misslungenste, kläglichste, unfreiwillig komischste Erotik-Szene“ vergeben werden. Dabei ist Sex in allen Details, mit allen geistigen und leiblichen Regungen der Beteiligten selbstverständlich ein literarisch höchst dankbares Thema: nämlich für die Leser ebenso fesselnd wie für den Charakter der Figuren verräterisch. Im puritanischen Amerika haben Autoren wie Harold Brodkey, Philip Roth, Hubert Selby oder John Updike zwanzig-, dreißig-, mitunter fünfzigseitige Bettszenen geschrieben, die zu den klügsten, schönsten, erschütternsten Kapiteln ihrer Werke zählen. Auch französische Schriftsteller – seit Jahrhunderten den einst „galant“ genannten Themen gegenüber mehr als nur aufgeschlossen – sind immer gern bereit, den neuesten Windungen und Wendungen, Stilformen und Moden des zeitgenössischen Sexualverhaltens auf der Spur zu bleiben. So waren es jüngst vor allem Catherine Millets Beischlaf-Memoiren „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ und Michel Houellebecqs Romane über Swinger-Clubs und Sextourismus, die hier zu Lande Furore machen. Was in Deutschland mit dem hässlichen Terminus Promiskuität belegt wird, schilderten diese beiden Autoren als gewöhnliche Lebenserfahrung, als manchmal lustvollen, manchmal ernüchternden Teil des Alltages. Sie inszenierten ihre Neigungen nicht als Konventionsbruch, als Besessenheit oder Sucht, sondern als ein heute weitgehend geläufiges, gewöhnliches Verhaltensmuster. In einer nachmittäglichen Fernseh-Talkshow hätten sie mit ihrer demonstrativen Gelassenheit wohl nur noch wenige Zuschauer frappieren können, im braveren Literaturbetrieb waren sie jedoch noch immer für ein wenig Skandal und vorübergehende Bestsellerplätze gut. Sex sells. Dabei hat der hochfrequente Austausch von Geschlechtspartnern gerade in der französischen Literatur der „romans libertins“ durchaus Tradition. Von den amoralischen Fantasien des Marquis de Sade über „Die gefährlichen Liebschaften“ des Choderlos de Laclos bis hin zur „Geschichte der O.“ ist dieses Thema über Jahrhunderte hinweg mit einer Radikalität, Offenheit und Intelligenz behandelt worden, für die sich in der deutschen Literaturgeschichte so schnell kein Vergleich findet. Und nie wird in diesen Büchern der sexuelle Massenkonsum als Ausdruck einer Perversion betrachtet und moralisch abgeurteilt, sondern viel eher als eine Chance zur Selbstbegegnung und Selbsterkenntnis der Figuren literarisch genutzt. Denn natürlich verrät die Liebe – auch die rein körperliche Liebe – in der Literatur wie im Leben weit weniger über die geliebte Person als über den Liebenden selbst. Was selbst für ein so berechnend sensationsheischendes Buch wie „Rose bonbon“ von Nicolas Jones-Gorlin (Gallimard, Paris. 176 S., 14 Euro) gilt: Der literarische Monolog eines Pädophilen, der sowohl den französischen Kinderschutzbund wie auch Innenminister Nicolas Sarkozy gegen sich aufbrachte, woraufhin der Roman im Buchhandel nur noch in Cellophan-Folie eingeschweißt angeboten werden durfte. Was das Buch natürlich schnell in bemerkenswerte Auflagenhöhen und bei „amazon.fr“ immerhin auf Bestseller-Rang 7 beförderte. Ein Erfolg, der in diesem Fall sicherlich nicht auf literarische Qualitäten zurückzuführen ist. Deutsche Autoren ziehen es gleichwohl bis heute vor, die sexuelle Spielart der Selbsterforschung in traditionellen Infight eines Paares darzustellen, oder allenfalls anhand einer ebenso traditionellen Seitensprung-Geschichte. Die Leser jedoch – siehe die Erfolge von Millet und Houellebecq – sind auch hier zu Lande längst härteren Stoff gewohnt. Also schauen sich deutsche Verleger in jüngster Zeit immer gründlicher auf dem französischen Literaturmarkt um, wollen und dürfen sie doch angesichts der Krise der deutschen Buchbranche keinesfalls den nächsten einschlägigen Bestseller versäumen. Natürlich ist nicht alles, was dabei nach Deutschland heimgebracht wird, tatsächlich der Lektüre wert. Das neueste Bekenntnisbuch einer zwanzigjährigen Französin beispielsweise, die sich hinter dem Pseudonym „Sarah“ verbirgt und ihrem Buch den recht barschen Titel „Ich bin gekommen“ gegeben hat, ist literarisch geradezu rührend misslungen und als autobiographischer Bericht wenig glaubhaft. Die munter plappernde Autorin schickt ihre Heldin durch diverse Betten auf die Jagd nach ihrem ersten Orgasmus. Da sie über herzlich wenig erzählerisches Talent und psychologisches Verständnis verfügt, ist man als Leser ziemlich erleichtert, wenn die Hauptfigur auf den letzten Seiten endlich ihr Ziel erreicht und man das Buch zuschlagen darf. „Hure“ dagegen, der erste Roman der Nelly Arcan, belegt die Verbindung zwischen Sex und Selbsterforschung in der französischsprachigen Literatur: Eine Literaturstudentin arbeitet unter dem Namen „Cynthia“ als Prostituierte und geht in einem großen inneren Monolog mit ihren Eltern ins Gericht. Sie wurde geboren als Ersatz für eine früh gestorbene Schwester namens Cynthia und verbrachte, von ihrer depressiven Mutter und ihrem bigotten Vater vernachlässigt, eine lieblose Kindheit. Als junge Frau ist sie nun zur Eigenliebe fast unfähig und verspürt vor allem zwei Bedürfnisse, die sie zur „Hurerei“, wie sie es selbst nennt, geradezu prädestinieren: Eine Neigung zur Selbsterniedrigung und eine zeitlebens unstillbar bleibende Sehnsucht nach Zuwendung. Nelly Arcans Geschichte ist ergreifend und erschütternd zugleich: Wie da eine junge Frau, die durch ihre Eltern von Kindesbeinen an daran gewöhnt ist, sich als unzureichend zu betrachten, weil sie nicht die tote Cynthia ist, verzweifelt um die Aufmerksamkeit und Liebe der Männer buhlt. Wie sie sich sogar körperlich nach vermeintlichen Idealbildern chirurgisch zurechtstutzen lässt, wie sie Lippen und Busen vergrößern und die Nase korrigieren lässt, bis sie immer weniger sie selbst ist und immer weniger Chancen hat, mit sich selbst zufrieden zu sein. Wie sie sich nach Berührung und Nähe sehnt, es aber verabscheut, durch die Freier berührt zu werden, und sich selbst verachtet, weil sie sich von Freiern berühren lässt. Wie sie schließlich ebenso wünscht und fürchtet, irgendwann möge ihr eigener Vater als Freier vor der Tür stehen, und sie endlich als das sehen muss, was sie ist: eine liebesbedürftige Tochter, die mit ihren Stärken und Schwächen akzeptiert werden möchte, auch wenn es ihr nie gelingen kann, ihre tote Schwester zu sein und den Eltern den Schmerz über den Tod des ersten Kindes zu ersparen. Wie in diesem Roman mit Blick auf das Sexualverhalten einer jungen Frau, Schicht um Schicht deren psychisches Drama freigelegt wird, ist literarisch geradezu lehrbuchhaft. Ein schönes, wahres – und zutiefst trauriges Buch, denn natürlich kann Nelly Arcans Heldin die Zuneigung und Anerkennung, die ihr als Kind vorenthalten wurden, als Erwachsene niemals mehr erwerben. Ihre Erfahrung eines Liebes-Mangels liegt gut erkennbar und doch völlig unerreichbar in ihrer Vergangenheit beschlossen. Sie kann nur sagen, was und wie sehr sie leidet. Das hat sie mit ihrem Roman getan. <em>

Der Artikel erschien in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 19. Oktober 2002
Nelly Arcan: „Hure“. Roman Verlag C.H. Beck, München 2002 191 Seiten, 19,90 €
Als Taschenbuch: dtv, München 2004 191 Seiten, 9,00 Euro ISBN 978-3423131933
Nicolas Jones-Gorlin: „Rose bonbon“ Gallimard, Paris 2002 176 Seiten, 21,99 € ISBN 978-2070766659

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Das Beispiel Sartre

Ist es die Aufgabe von Schriftstellern, Partei zu ergreifen?  

Schon vor Monaten (2002) hatte sich der weitblickende Kanzler Günter Grass, Christa Wolf, Moritz Rinke und manch andere poetische Seele in seinen Amtssitz eingeladen. Mit Peter Schneider und Hans Christoph Buch hatte er sogar auf offener Bühne diskutiert. Doch trotz solcher jovialer Annäherungsgesten hielten sich die meisten Schriftsteller und Intellektuellen während des nun verebbenden Wahlkampfs zurück. Einige wenige glaubten, sich eine Wortmeldung schuldig zu sein. Grass und Peter Rühmkorf, Jürgen Flimm und Volker Schlöndorff warfen sich für Gerhard Schröder in die Bresche. Edmund Stoiber konnte dagegen nur Reiner Kunze und Hans Clarin für sich ins Feld führen. Bei Kanzlerkandidat Guido Westerwelle reichte es gerade mal bis zu Wolfgang Joop und Wigald Boning, deren Zugehörigkeit zur geistigen Elite des Landes ein gut gehütetes Geheimnis genannt werden darf. Wenn man Wahlkämpfe an ihrem Intellektuellengehalt messen wollte wie Wein am Öchslegehalt, dann ist der Jahrgang 2002 nicht der Rede wert. Und das ist auch gut so. Für den politischen Bedeutungsverlust der Dichter und Denker in liberalen, pluralistischen Gesellschaften gibt es so viele gute Gründe, dass es schwer fällt, ihn zu beklagen. Das fein austarierte demokratische System der checks and balances, die Vielfalt der publizierten Meinungen, der immer dichter werdende Dschungel hochspezialisierter Fachkenntnisse macht die einst honorige Haltung des Intellektuellen, der dem Herrscherklüngel sein „J’accuse!“ entgegenschleudert, immer fragwürdiger. Wer sie trotzdem einnimmt, läuft Gefahr, sein Porträt auf Plakatwänden wiederzufinden, die grobschlächtig behaupten, ein „Ruck“ müsse durchs Land gehen, damit sich schlagartig alles zum Besseren wende. Seit sich unsere Welt in ein selbst steuerndes, gordisch verschlungenes Netzwerk verwandelt, werden sich Politiker und Intellektuelle zumindest in einem Punkt immer ähnlicher: Sie wirken wie Kinder auf dem Karussell, die aufgeregt an den Lenkrädern ihrer bunten Wagen drehen und doch im Kreise fahren. Je weniger sich das gesellschaftliche Ganze von einer Zentralinstanz aus lenken oder von einer übergeordneten geistigen Position aus durchschauen lässt, desto anmaßender wirkt der Politiker, der so tut, als würde er mit Arbeitslosigkeit, Bildungsmisere, Irak oder Umweltkatastrophen im Alleingang fertig, und desto anmaßender der Intellektuelle, der den Anschein erweckt, er könne die Welt mit wenigen Federstrichen in eine übersichtliche Ordnung bringen. Was nicht heißen soll, es ließe sich aus dem, was früher einmal intellektuelles oder künstlerisches Engagement genannt wurde, heute kein Vorteil mehr schlagen. Längst sind Wahlkämpfe große Show-Events geworden, die sich niemand, der gern prominent sein möchte, als Vehikel zur Erhaltung seines Bekanntheitsgrades entgehen lässt. Wenn Edmund Stoiber jüngst Unterstützung durch Roberto Blanco erhielt („Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“), dann spielten dabei nicht nur die politischen Überzeugungen des Sängers eine Rolle, sondern auch sein Bedürfnis ständig in allen Klatsch- und sonstigen Spalten vertreten zu sein. Die alte Strategie der publizistischen Intervention oder öffentlichen Parteinahme, durch die Intellektuelle seit Voltaire und Zola korrigierend in den politischen Betrieb einzugreifen versuchten, hat sich abgenutzt. Sie ist Teil dieses Betriebs geworden. Am zynischsten hat das jüngst Martin Walser demonstriert. Sein Roman „Tod eines Kritikers“ sollte eine Abrechnung mit der Medienmacht Marcel Reich-Ranickis sein. Doch die stört jenseits des Literaturbetriebs kaum jemanden, im Gegenteil, der größte Teil des Publikums freut sich an ihr. Indem Walser aber in seinem Buch lustvoll den Mord an einem Holocaust-Überlebenden imaginierte, provozierte er eine Debatte über angeblich ungerechtfertigte Tabus bzw. eine gerechtfertigte „Rücksichtnahme auf historisch begründete Verletzbarkeiten“ ehemals verfolgter Juden (Jürgen Habermas). Wodurch der von den Kritikern fast einhellig als grottenschlecht bezeichnete Roman gleichwohl die Bestsellerlisten erklomm und Walser nun zufrieden auf 200 000 verkaufte Exemplare zurückblicken kann. Das scheinbar gegen ein überlebtes Tabu gerichtete literarische Engagement war hier nicht mehr Mittel der Aufklärung, sondern preisgünstiger Motor einer Werbekampagne. So wirkt die ehrwürdige Figur des dauerempörten Literaten heute einigermaßen desavouiert. Niemand sollte sich wundern, wenn Schriftsteller immer weniger Bereitschaft zeigen, in diese Rolle zu schlüpfen, nur weil es der Wahlkampf-Kalender verlangt. Die Möglichkeiten, Grenzen und Absurditäten solchen gesellschaftskritischen Engagements lassen sich beispielhaft am Werk Jean-Paul Sartres ablesen, des paradigmatischen westlichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, dem Bernard-Henri Lévy jetzt ein enorm materialreiches, enorm urteilssicheres, aber auch enorm redseliges Buch gewidmet hat (Hanser Verlag, 35 E). Zu den großen Rätseln in Sartres Leben gehört, dass er, der als Philosoph der Freiheit begann, zwischen 1952 und 1956 zu einem fast ungehemmten Parteigänger des Stalinismus und danach zu einem Weggefährten manch tendenziell totalitärer linksradikaler Protestbewegung wurde. Lévy zeigt, was in unseren heutigen theorieskeptischen Zeiten nur noch schwer nachzuvollziehen ist: Dass Sartre nämlich unter dem Bann seiner Hegel-Lektüre mehr und mehr zum Anhänger eines strengen Systemdenkens wurde. Zu Anfang verstand er unter dem Begriff „engagierte Literatur“ die Verpflichtung des Schriftstellers, am Zeitgeschehen teilzunehmen und es in seinem Werk zu spiegeln. Später aber betrachtete er „Engagement“ als Synonym für „Parteilichkeit“ im Sinne der KP oder maoistischer Studentengruppen – und war bereit, für diese Parteitreue sein Werk partiell aufzugeben. 1952 ging er so weit, alle künftigen Aufführungen seines frühen antikommunistisches Stück „Die schmutzigen Hände“ von der Zustimmung der Kommunistischen Partei abhängig zu machen. Gerade 50 Jahre ist das her, und doch erscheint uns ein solches intellektuelles Selbstopfer heute unvorstellbar. Erklärbar wird es durch das, was uns seither so gründlich abhanden gekommen ist: Das Gefühl, in einem geistigen Kontinuum aufgehoben zu sein, aus dem heraus sich Weltlage wie Weltgeschichte schlüssig deuten und einordnen lassen. Der späte Sartre glaubte tatsächlich, so führt Lévy vor, dass sich die Vernunft im hegelianisch-marxistischen Sinne in der Geschichte selbst verwirkliche und warf alles über Bord, was sich dieser Idee nicht fügte, einschließlich erheblicher Teile des eigenen Oeuvres. Größer kann die Distanz zur gegenwärtigen Bewusstseinslage zeitgenössischer Schriftsteller kaum sein. Nicht in eine monolithische Ordnung der Vernunft fühlen sich die meisten heute eingebunden, sondern vielmehr einer postmoderner Vielfalt ausgeliefert, die keineswegs immer vernünftig ist. Jonathan Franzen zum Beispiel, der zurzeit mit seinem bewundernswerten Roman „Die Korrekturen“ Furore macht, zweifelte lange – wie er in einem Essay schreibt – ob sozialkritische Literatur heute überhaupt noch möglich ist: Zu erdrückend schien ihm die Konkurrenz der „prosperierenden Massenunterhaltung“ und zu zersplittert die amerikanische Gesellschaft, in der sich die „schwarzen, hispanischen, asiatischen, schwulen und feministischen“ Gemeinschaften immer mehr absondern. Steht ein Autor angesichts dieser sozialen und kulturellen Desintegration nicht von vorn herein auf verlorenem Posten? An wen soll er sich wenden, wer hört ihn überhaupt noch? Auch wenn Franzen diese Fragen ziemlich pathetisch formuliert, darf man sie nicht zu ernst nehmen. Denn natürlich wusste man zu keiner Zeit, ob und wie Literatur tatsächlich auf ihr Publikum wirkt. So ehrenwert Franzens Absicht ist, „mit einem kulturkritischen Roman in die Kultur eingreifen“ zu wollen, so naiv ist seine Vorstellung, seine „kulturelle Mission verfehlt“ zu haben, wenn seine Arbeit nur ein anständiges Honorar, Rezensionen und ein wenig Medienrummel nach sich zieht. Denn natürlich kann und darf eine demokratische, auf Mehrheitsbildung zielende Gesellschaft angesichts der Kritik eines einzelnen – und sei es eines einzelnen Schriftstellers – gar nicht anders reagieren als mit Toleranz, Honorar und ein wenig Medienrummel. Dass der einsame Kritiker, wenn er überzeugt, mit der Zeit einen sehr indirekten, schwer berechenbaren Einfluss auf Mehrheitsbildungen gewinnen kann, steht auf einem anderen Blatt. Die Zeiten sind, kurz gesagt, nicht nach großen Wahlkampfauftritten der kritischen Intelligenz. Die Ära Sartres, in der ein engagierter Denker glaubte, gleichsam globale Zuständigkeit für sich beanspruchen zu können, ist vorbei – und man darf, nebenbei gesagt, ganz froh sein, dass Sartre tatsächliche politische Verantwortung nicht trug. Was bleibt, sind eher begrenzte Scharmützel geschichtspolitischer Art: Die Walser-Bubis-Debatte, der Streit um die Wehrmachtsausstellung oder um das Mahnmahl für die ermordeten Juden Europas: Vergangenheitslastige Themen, denen sich vornehmlich ältere Autoren schier unermüdlich widmen. Auch wenn die Bedeutung dieser Themen für die politische Moral unseres Landes nicht zu unterschätzen ist, muss man akzeptieren, dass sich Autoren einer jüngere Generation an solchen Diskussionen nur mit gebremstem Eifer beteiligen – Krieg, Nationalsozialismus oder Judenverfolgung gehören nicht zu ihrem Erfahrungsschatz, und Schriftsteller tun immer gut daran, den ureigenen Erfahrungsfeldern treu zu bleiben. Wenn junge Autoren aber, wie Michael Kleeberg (s. WELT v. 11.6.), solche Debatten als „Radau“ abtun, „mit dem eine Generation, die sich überlebt hat, abtritt“, offenbaren sie einen erstaunlichen Mangel an historischen Bewusstsein und einen schlecht kaschierten Brotneid auf die Älteren. Schriftsteller sind, nüchtern betrachtet, Fachleute der unvoreingenommenen Wahrnehmung und des Festhaltens dieser Wahrnehmungen auf dem Papier. Wenn sie also in politischen Fragen einen spezifischen, nur ihnen möglichen Beitrag leisten wollen, dann besteht der sicher nicht darin, durch ihre bescheidene Prominenz Wahlkämpfern zu ein wenig Glanz zu verhelfen. Das kann jeder Filmstar, Schlagersänger oder Sportprofi besser. Die besondere politische Funktion von Schriftstellern und auch Intellektuellen kann es nur sein, Erfahrungen (und Gedanken) zu sammeln und zu formulieren, die quer liegen zu den festgefahrenen Frontlinien der Parteien. Nicht um das systematische Entfalten der immergleichen Gesinnungen sollte es Autoren heute gehen, sondern um das Aufspüren der vielen gebrochenen, unreinen Wahrheiten, die noch nicht zu den Gemeinplätzen des politischen Meinungskampfes geworden sind. Dass sie sich dazu gelegentlich von ihrem Schreibtisch wegbequemen und dem seltsam‘ Ding aussetzen müssen, das man Leben nennt, liegt auf der Hand. Der Schriftsteller als Reporter, der der Welt jenseits der ideologischen Raster nachspürt, ist in der angelsächsischen Literatur eine traditionsreiche Figur. Die Anzeichen mehren sich, dass sie auch hier zu Lande heimisch wird. Ilija Trojanows Bücher über Afrika oder Indien etwa, Juli Zehs wunderbarer Wegweiser durch Bosnien („Die Stille ist ein Geräusch“) oder Hans Christoph Buchs atemraubende Berichte über Völkermorde auf drei verschiedenen Kontinenten („Blut im Schuh“) sind politisch weit erkenntnis- und lehrreicher als alle Autorenkommentare zum jüngsten Wahlkampf zusammen. Besser geschrieben sind sie außerdem.

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Das Bewusstsein der Nation umkrempeln

 Martin Walsers Lust an literarischen Skandalen wird immer riskanter
Skandale wie der um Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ sind ja nicht unbedingt etwas Schlechtes. Öffentliche Erregungen haben, zumal in Demokratien, ihre guten Seiten. Sie stellen in unserer zerstreuten, zerfaserten Epoche, in der jedes Milieu mit etwas anderem beschäftigt ist, überhaupt erst so etwas wie Öffentlichkeit her: Endlich einmal sprechen viele Leute – oder zumindest ein paar mehr als sonst – zur selben Zeit vom selben Thema. Wer will, kann die Ursprünge dieser Debattenkultur über die üblichen Zwischenstationen wie Zola oder Voltaire bis ins Zeitalter der Aufklärung zurückverfolgen. Nach den Nazijahren war man in Deutschland allerdings in diesen Dingen recht ungeübt. Zu den wichtigsten Institutionen, die sie für die gerade eben gegründete Bundesrepublik wiederentdeckten, gehörte die Gruppe 47. Dieser merkwürdige Schriftstellerclub wird deshalb heute von jüngeren Autoren gern herablassend behandelt: Die Gruppe 47 habe eine Art Reeducation mit belletristischen Mitteln betrieben, habe eine Gesinnungsästhetik etabliert, die nicht nach den literarischen Qualitäten eines Buches frage, sondern danach, ob es sich möglichst bruchlos in einen politisch-moralischen Grundkonsens einfügen lasse. Man muss Martin Walser zu Gute halten, dass er, der ein wichtiger Mitstreiter der Gruppe 47 war, schon früh sein Unbehagen an einem derartigen schriftstellerischen „Engagement“ formuliert hat. Damals, zu Zeiten des Vietnamkriegs und der Großen Koalition, kam ihm der nimmermüde Protest- und Resolutionsrummel des Literaturbetriebs schon wie ein „Reizlärm“ vor, der längst Teil des vermeintlich durch ihn kritisierten politischen Spiels geworden sei. Was nichts daran ändert, dass die Gruppe 47 und dankenswerterweise auch Walser durch literarisch-politische Debatten daran mitgewirkt haben, ein paar notwendige intellektuelle Regeln und fundamentalen Tabus für die junge Bundesrepublik zu formulieren – und im Bewusstsein ihrer Bürger zu verankern. * Zu den historisch bestens begründeten deutschen Tabus gehört das Verdikt gegen die öffentliche Verwendung antisemitischer Klischees. Tabus zeugen ja keineswegs immer von falschen, überlebten Empfindlichkeiten. Ein Mensch ohne Tabus, schrieb Freud, ist ein schwachsinniger Mensch. Denn Tabus erwachsen mitunter aus wohlerwogenen Erfahrungen, und in einem solchen Fall tut man gut daran, sie zu respektieren. Wenn Walser jetzt in seinem Roman bewusst oder unbewusst antisemitische Klischees einfließen lässt und das Buch vorab als Skandal angekündigt, ergibt sich ein bizarres Bild: Ein ergrautes Mitglied der Gruppe 47 löst nach bewährtem Muster der Gruppe 47 eine Debatte aus, um ein von der Gruppe 47 mitbefestigtes Tabu zu brechen. Oder um es mit Büchner zu sagen: Walser benimmt sich wie Saturn, der die eigenen Kinder frisst. * Auch wenn Walser jetzt einen verunglückten, skandalösen Roman geschrieben hat, darf man ihn nicht unterschätzen. Seine Intelligenz, sein Talent zur Selbstbeobachtung und Selbstanalyse sind enorm. Schon 1979, als Jürgen Habermas „Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“ sammelte, steuerte Walser einen Essay bei, der sich heute ahnungsschwanger, ja hellsichtig liest. „Wenn man“, schreibt Walser hier, „als Mitarbeiter an der öffentlichen Meinung jahrelang eine gesellschaftliche Ausdrucksweise anstrebt, … besteht die Gefahr, dass sich die Ausdrucksweise verselbständigt und mit dem, der sie praktiziert, immer weniger zu tun hat.“ Er habe, lässt Walser erkennen, lange Zeit Meinungen vertreten, die er für richtig und notwendig hielt, die ihm aber im Grunde wie „Lippengebete“ vorkämen und ihm inzwischen fremd seien. Für ihn wachse die Versuchung, das Beiseitegedrängte endlich auszuleben: „Endlich keine Kritik mehr an der eigenen Neigung, sondern Zustimmung zur bisher ununterbrochen bekämpften Neigung. Zulassung des Widerspruchs, endlich! Ein plötzliches Einlassen jahrelang bekämpfter, immer auf Einlass drängender Gedankengespenster und Meinungsmonster.“ Welch seltsamen Kult um angeblich authentische Überzeugungen betreibt Walser hier? Gehört zu jedem zivilisierten menschlichen Verhalten nicht immer auch eine gewisse Kulturleistung, die über die üblichen atavistischen Instinkte und Neigungen hinausführt? Aber wie gesagt, Walser ist ein hoch gebildeter Mann, er weiß das alles. Worauf also will er mit solchen Sätzen hinaus? Rätselhaft. Über Deutschland reden – Walser bereitete mit dieses Sätzen vor allem sein frühes, effektvolles Plädoyer für eine Wiedervereinigung Deutschlands vor. Viele profiliert linke Autoren betrachteten – auch wenn das heute nur noch schwer nachzuvollziehen ist – seine Thesen damals als schlichtweg nationalistisch und damit als Verstoß gegen den intellektuellen Grundkonsens der Bundesrepublik. Sie sahen in der deutschen Teilung die gerechte historische Strafe für den Zweiten Weltkrieg und Auschwitz. Walser stimmte ihnen zu, meinte aber, Deutschland habe seine politische Besserung unter Beweis gestellt: „Fühlen wir uns nicht resozialisiert? In Ost- und Westdeutschland kein Anzeichen irgendeiner Rückfallmöglichkeit.“ Die Geschichte hat, wenn man so etwas sagen darf, Walser Recht gegeben. Nach 1989 blühte, trotz Skinheads, kein neuer deutscher Nationalismus auf. Die entsprechenden Sorgen, die damals auch von Schriftsteller mit großem Pathos vorgetragen wurden, wirken heute überzogen und hysterisch. Walser darf sich rühmen, ein obsoletes intellektuelles Tabu frühzeitig gebrochen zu haben. Ein Triumph, der für ihn mit publizistischen Risiken behaftet war – brachten doch nach altem gesinnungsästhetischen Muster der Gruppe 47 von nun an manche Kritiker aus politischen Gründen literarische Einwände gegen Walsers Bücher vor. * In seiner Paulskirchenrede zielte Walser ebenfalls auf einen Aspekt jenes seit rund fünfzig Jahren in der Bundesrepublik gültigen, ungeschriebenen Konsenses: Nämlich dass die deutsche Schuld am Holocaust nie verdrängt werden dürfe. Walser hatte in den sechziger Jahren als noch junger Autor mit Aufsätzen wie „Unser Auschwitz“ nachdrücklich dazu beigetragen, das Ausmaß der deutschen Verbrechen ins Bewusstsein zu rücken. In der Paulskirche, 30 Jahre später, wehrte er sich gegen eine in seinen Augen übermäßige Fixiertheit der Öffentlichkeit auf dieses Thema, wehrte sich gegen eine „Dauerrepräsentanz unserer Schande“. Die Folgen sind bekannt. Der Streit um diese Rede kannte im Grunde nur Verlierer: Walsers Gegenspieler Ignaz Bubis ließ sich, vom gegenwärtigen Deutschland enttäuscht, nach seinem Tod in Israel bestatten. Walser wird seither bei Lesungen von aufgeregten Menschen als „Auschwitzleugner“ bezeichnet – was natürlich Unsinn ist. Vor allem aber: Die erbitterte Debatte führte zu keinem erkennbaren, greifbaren Ergebnis. Wird seither in Deutschland weniger Aufklärung über den Holocaust betrieben? Wohl kaum. Schauen seither mehr Menschen beiseite, wenn sie Bilder aus einem KZ sehen? Wohl kaum. * Die Parallelen zum aktuellen Skandal um Walsers „Tod eines Kritikers“ liegen auf der Hand. Walser hat seit Jahren kein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich von der ungewöhnlichen Machtposition Reich-Ranickis im Literaturbetrieb provoziert fühlt. Kann es sein, dass er sich, im Glauben ein altes bundesrepublikanisches Tabu schütze Juden vor scharfer, beißender Kritik, aufgerufen fühlte, auch dieses Tabu demonstrativ zu brechen? Kann es sein, dass ihn daraufhin sein Zorn auf Reich-Ranicki so weit trug, die Züge des Kritikers André Ehrl-König im Roman ins Monströse zu verzeichnen? Ob Walsers „Tod eines Kritikers“ ein ganz und gar antisemitisches Buch ist, oder ob es nur einige wenige antisemitische Klischees transportiert, oder ob man es in keinem Fall antisemitisch nennen kann – darüber wird sich der Literaturbetrieb erfahrungsgemäß nie einigen. Sicher ist jedoch, dass Walsers Verfahren, durch literarische Skandale und Debatten das Bewusstsein seiner Nation umkrempeln zu wollen, allmählich immer riskanter wird. Sein Einsatz für ein deutsches Nationalgefühl jenseits jedes Nationalismus‘ hatte offenkundig erfrischende Wirkung aufs geistige Klima. Kann Walser Ähnliches für sich in Anspruch nehmen, wenn er jetzt auf dem Recht besteht, den Mord an einem Menschen ausfantasieren zu dürfen, der, wie es im Roman heißt, zu seinen Vorfahren „Opfer des Holocaust“ zählt. Lohnt das? Oder ist das, wie immer man die Sache dreht oder wendet, am Ende doch nur geschmacklos und inhuman?

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Zwischen beiden deutschen Staaten

 Wolfgang Hilbig erhält den Büchnerpreis

Wolfgang Hilbig mit dem Georg-Büchner-Preis auszuzeichnen, ist eine Entscheidung im Geist der literarischen Moderne. Wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor der Gegenwart steht der 1941 in dem kleinen sächsischen Städtchen Meuselwitz bei Leipzig geborene Hilbig mit seinem Werk im Zeichen der inzwischen klassisch gewordenen modernen Literatur. Besonders seine Prosaarbeiten errichten eine Welt eigenen Rechts, die wenig Rücksicht auf die traditionelle realistische Erzählmodelle nimmt, sondern mit beeindruckender Intensität und hoher Sprachkraft Randbereiche der alltäglichen Wahrnehmung auszuleuchten und die Grenzen zu neuen Wahrnehmungsformen zu überschreiten versucht. Die Welt, so lautet einer der zentralen Grundsätze Hilbigs, ist nicht so, wie sie nach den üblichen „realistischen“ Übereinkünften zu sein scheint. Eine Literatur, die sich an diesen Übereinkünften orientiert, kommt ihm deshalb vor – schreibt er in seinem programmatischen Essay „Über den Tonfall“ – wie „eine vollkommen zweitrangige, wenn nicht gar drittrangige Sache. Wenn wir bedenken, dass die Realität dem, was das Universum sein muss, relativ aufgesetzt ist, sehr relativ, und weiter, dass die Sprache ein dieser Realität aufgesetztes Mittel ist“, dann wäre, was durch die Hinwendung eines Autors zu dieser Realität entstünde, weit entfernt von all dem, was man unter Authentizität versteht. Mit einem solchen Literaturverständnis machte sich der in der DDR aufgewachsene Hilbig unter den auf den sozialistischen Realismus eingeschworenen Kulturfunktionären seines Landes naturgemäß keine Freunde. Jahrzehntelang wurden ihm fast alle Publikationsmöglichkeiten vorenthalten. Erst Ende der 70er Jahre, als sich der große oppositionelle DDR-Schriftsteller Franz Fühmann in einem fulminanten Essay öffentlich für ihn einsetzte, begannen sich die Verhältnisse für Hilbig allmählich zu ändern. 1979 erschien sein erster Gedichtband „Abwesenheit“ in der Bundesrepublik, bald gefolgt von weiteren Lyrik- und Prosaarbeiten. Rasch eroberte sich Hilbig, der als Sohn einer Bergarbeiterfamilie in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen war, zumal unter den Connaisseuren der literarischen Avantgarde einen hervorragenden Namen. Mit seinen Kurzromanen „Die Weiber“ (1987) und „Alte Abdeckerei“ (1991), mit der umfangreichen Prosaarbeit „Ich“ (1993) und zahlreichen Sammlungen kurzer Prosa entfaltete Hilbig ein ureigenes, zutiefst originelles literarisches Universum. Es ist der sehr persönliche, dunkle Rhythmus seiner Sprache, der die Leser wieder und wieder gefangen nimmt. Seine Prosa verwandelte die zerfallenden Industriestädten der DDR und die vom Braunkohletagebau geschundenen Landschaften Sachsens zu Orten des endgültigen apokalyptischen Zerfalls und Niedergangs. Wenn man manche seine Geschichten heute wieder liest – vor allem in „Die Weiber“ und „Alte Abdeckerei“ -, wirken sie wie literarische Vorboten der totalen politischen Niederlage des realen Sozialismus, geschrieben zu einer Zeit, als noch kein politischer Beobachter die plötzliche Implosion des Ostblocks vorhersah. 1985 übersiedelte Wolfgang Hilbig, ausgestattet zunächst noch mit einem Visum der DDR-Behörden, nach Westdeutschland. Die ersten Jahre und ersten persönlichen Krisen in der neuen Umwelt schilderte er – in entsprechender literarische Überhöhung – in seinem jüngsten Roman „Das Provisorium“ von 2000. Es ist ein Buch des Abschieds geworden, des Abschieds nicht allein von dem Staat, dem er damals den Rücken kehrte, sondern letztlich von allen existenziellen Gewissheiten und scheinbar unverrückbaren Fundamenten. Jegliche Ordnung oder auch nur Ordnungsvorstellung wird seit je in seiner Prosa unterminiert. Hilbigs Einfallsreichtum kannte niemals Grenzen, wenn es darum ging, allgemein Vertrautes ins Zwielicht zu rücken und scheinbar Verlässliches verdächtig zu machen. Wie sollte Hilbig da die politische Situation Ende der achtziger Jahre, als mit dem Ostblock die DDR gleichsam über Nacht von der politischen Bildfläche verschwand, nicht faszinieren. Zugleich aber hat Wolfgang Hilbig unter der Unbehaustheit, die sein unstetes Leben zwischen den beiden deutschen Staaten, aber auch zwischen seiner kleinbürgerlichen Herkunft und dem intellektuellen Milieu des Literaturbetriebs mit sich brachte, oft gelitten. Als Autor einer Welt, in der sich alle konkreten Konturen ins Vage, Schimärenhafte verlieren, hat er für sich selbst immer nur einen festen, verlässlichen Zufluchtsort gekannt: die Literatur. Dass ihm nun für seine Arbeit die höchste Anerkennung zuteil wurde, die unser Land zu vergeben hat, den inzwischen mit 40 000 Euro dotierten, nach dem Dramatiker Georg Büchner benannten Literaturpreis der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, möge ihm nicht nur Anerkennung sein, sondern auch einen Moment der Geborgenheit gewähren.

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„Liebe usw.“

Julian Barnes Roman über die Lasten der Ehe, die eine Frau und zwei alte Freunde

Was halten Sie von, sagen wir, freundschaftlichem Sex? Von ruhigem, partnerschaftlichem Miteinander im Bett? Sex ohne Rausch, ohne Feuer. Sex wie eine lauwarme Tasse koffeinfreier Kaffee. Klingt nicht eben betörend, zugegeben. Aber ist auf die Dauer etwas anderes vorstellbar als freundschaftlicher Sex? Kann ein Paar nach, sagen wir, zehnjähriger Ehe noch erwarten, im Bett von lodernder Leidenschaft durchzuckt zu werden? Natürlich nicht. Aber ist es dann nicht absurd, was für eine Bedeutung die Leidenschaft bei der Partnerwahl spielt? Die Ehe, eine ziemlich fundamentale Entscheidung, wird abhängig gemacht von einem Faktor, der ungefähr so verlässlich ist wie Luft in einem Reifen, der gerade übers Nagelbrett zu rollen. Nehmen wir die beiden Freunde Stuart und Oliver sowie die handfeste Gillian. Vor gut zehn Jahren hat uns Julian Barnes in seinem Roman „Darüber reden“ mit ihnen bekannt gemacht. Der brave Banker Stuart und die Restauratorin Gillian hatten sich damals ineinander verliebt und geheiratet. Während der Hochzeit verliebte sich aber auch der ebenso witzige wie flatterhafte Oliver in die Braut – und spannte sie seinem besten Freund schleunigst aus, um sie selbst zu heiraten. Versteht sich, dass die gigantischen Enttäuschungen und Schmerzen, die sich die drei bei den entsprechenden Rangeleien zufügten, von ihnen jeweils mit den Leidenschaften gerechtfertigt wurden, von denen sie sich gerade beherrscht fühlten. Was ist zehn Jahre später von all dem zu halten? So wie John Updike – der seinem Helden Harry „Rabbit“ Angstrom in vier Romanen über drei Jahrzehnte hinweg auf den Fersen blieb – kommt Julian Barnes nämlich jetzt nach einem Jahrzehnt auf sein Figuren-Trio der frühen Neunziger zurück. Gillian und Oliver haben inzwischen zwei Töchter, Gillian verdient das Geld, der brillante Oliver träumt von brillanten Projekten und schmeißt währenddessen den Haushalt. Stuart hat es in USA zu Geld und eine zweite Ehe hinter sich gebracht – bevor sich die drei in London wiedersehen. Anders als Updike, der mit dem Schicksal Angstroms quer durch die Jahrzehnte immer auch ein wenig das Schicksal Amerikas verfolgte, ist bei Barnes wenig davon zu spüren, wie (und ob) sich England seit dem Abschied von Maggie Thatcher verändert hat. Barnes konzentriert sich fast ganz auf die Seelenschlachten zwischen den drei Liebeskontrahenten: Gillians und Olivers Leidenschaft ist erwartungsgemäß auf wackeres Alltagsmaß zusammengeschrumpft. Stuart Sehnsucht nach der verlorenen Gillian dagegen blieb unausgelebt und also besser erhalten. Diesmal ist er es, der sich mit entschlossenem Einsatz von Geld und Zeit zwischen die beiden Eheleute drängt. Barnes hat eine ausgeprägte Fähigkeit feinste und allerfeinste Seelenregungen Liebender anschaulich vorzuführen. Gekonnt, wie er spürbar macht, in welchem Maße die Leidenschaft zwischen Oliver und Gillian durch Kameraderie abgelöst wurde. Gekonnt auch, wie er Stuart als einen an seiner gescheiterten Liebe gereiften und doch über diese Liebe nie hinausgekommen Menschen schildert. Die Aufmerksamkeit wird durch solche Charakterstudien so in Anspruch genommen, dass man kaum merkt, wie wenig sonst passiert. „Liebe usw.“ ist, zumal im Vergleich mit Barnes anderen Büchern, ein geradezu demonstrativer Non-Action-Roman. Es geht halt um Liebe nur und um sonst gar nichts. Wie schon in „Darüber reden“ lässt Barnes die Geschichte von den Beteiligten in kleinen Häppchen aus ihrer jeweiligen Perspektive erzählen. Damit erreicht er natürlich, dass wir Leser nie der Illusion verfallen, es könnte in Liebesdingen je eine für alle gültige Wahrheit geben. Zugleich aber zeigt er auch, wie schwer es für einen in seiner subjektiven Gefühls-Wahrheit befangenen Menschen ist, die Bedürfnisse der anderen richtig einzuschätzen. Unsere Liebe – oder unser Begehren – trübt den Blick so sehr, dass wir die anderen, selbst wenn wir sie lieben oder begehren, nicht mehr angemessen wahrnehmen. Mit dem Ergebnis, dass wir den geliebten Menschen eher verfehlen als tatsächlich erreichen. Für einen Autor wie Julian Barnes ist das keine geringfügige Einsicht. Liebe spielte in seinem schriftstellerischen Kosmos schon immer eine zentrale Rolle. Die Geschichte der Welt ist in seinen Augen nichts als eine endlose Kette von Unheil und Absurditäten, aus der nur jenes eine, viel umraunte Gefühl die Flucht ermöglicht. Wenn nun aber – wie dieser schöne, zu tiefst melancholische neue Roman zeigt – selbst die Liebe nur Unheil stiftet, dann . . . ja, was dann?

Julian Barnes: „Liebe usw.“ Roman
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 254 S., 19,90 Euro.

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20 Jahre Verrat

Der Lyriker und Stasi-Spitzel Sascha Anderson hat seine Autobiografie geschrieben

Täter haben’s auch nicht leicht. Immer dieser Ärger mit den Opfern, die einfach nicht klaglos hinnehmen wollen, was man ihnen angetan hat. Statt dessen machen sie einem Vorwürfe! Und dann das ewige Genörgel der Öffentlichkeit. Ständig wird erwartet, dass man sich schuldbewusst zu seinen Taten bekennt! Das kann einem schon auf die Nerven gehen. Sascha Anderson war genervt, das merkte man ihm an. Im Berliner Kaffee Burger präsentierte er gestern seine gerade erschienene Autobiografie mit dem lakonisch-koketten Titel „Sascha Anderson“. Forschende Blicke, Kameras und Mikrophone richteten sich auf ihn, um mehr vom Täter Anderson zu erfahren. Mehr vom Verräter Anderson, der in den achtziger Jahren als selbsternannter Impresario sicher manche Verdienste um die realsozialistische Boheme der DDR erworben hat – der aber zugleich 20 Jahre lang als Spitzel der Staatssicherheit arbeitete und Geheimnisse vieler Künstlerfreunde seinen Führungsoffizieren in deren stets aufnahmebereiten Akten diktierte. Zunächst mit tonloser, dann mit zunehmend trotziger Stimme verlas Anderson eine Erklärung, in der er eine Menge Schurkereien beklagte – doch handelte es sich dabei erstaunlicherweise nicht um die eigenen Taten, sondern um die Berichte einiger Journalisten („besoldete Beobachter“), die sich erfrechen, seinen Fall nicht so darzustellen, wie er es für richtig hält. Anderson ist, das machte er gleich zu Anfang klar, ein Mann, der gern mit anderen über deren Fehler rechtet. Doch zu einem öffentlichen Wort der Reue angesichts seiner Opfer konnte er sich nicht durchringen. Lieber warf er um sich mit verdächtig hohl klingenden Genitivkonstruktionen („das Jetzt des Theaters“) oder mit hochtrabenden, aber letztlich rätselhaften Begriffen („die transzendentale Spaltung mit dem Werkzeug des Ich“). Ein Schuldeingeständnis musste erst mühsam aus ihm herausgefragt werden, und er ließ sich dazu nur in den abstraktesten Formulierungen herab: „Es steht außer Frage, dass ich ein Denunziator (!) war.“ Das Bestürzende an Andersons Autobiografie ist, wie wenig menschliche Verbindlichkeit sie erkennen lässt. So taucht auf den 300 Seiten des Buches eine stattliche Zahl von Geliebten, Ehepartnerinnen und Kindern auf. Doch keiner Frau, keinem Kind sind mehr als ein paar Zeilen oder Nebensätze gewidmet. Auch die Freunde, mit denen er jahrzehntelang zusammenarbeitete, geistern allenfalls als Schemen durch seine Erinnerungen. Statt dessen: Weitschweifige Berichte über Andersons Engagement für die Dresdner und die Prenzlauer Künstlerszene. Dazu: lange Aufzählungen der Bücher, die er ermöglicht hat, der Ausstellungen, die er organisierte, der Rockkonzerte, bei denen er mitsang, der Keramikarbeiten, an denen er mittöpferte. Glaubt man seinem Buch, galt die ganze Konzentration Andersons zeitlebens fast ausschließlich sich selbst und seiner Karriere. Damit könnte man sich als Leser einer Autobiografie zufrieden geben, wenn Anderson tatsächlich die entscheidenden Punkte seiner Vergangenheit offen legte. Der entscheidenden Punkt ist aber in seinem Fall nicht seine Lyrik – die kann man in seinen Gedichtbänden nachlesen – und auch nicht seine Poetik – die kann man in seinen Essays kennenlernen -, sondern es ist seine Zusammenarbeit mit der Stasi. Doch die Auskünfte, die er dazu gibt, bleiben äußerst vage und nebulös. Er streitet nichts ab, aber er macht auch nie präzise Angaben über Umfang und Inhalt seiner Zuträgerei. Andererseits mangelt es nicht an unterschwelligen Exkulpationsversuchen. Immer wieder lässt Anderson anklingen, dass die Verantwortung für sein Handeln nicht er selbst, sondern – wahlweise – seine Jugend, die brutalen Methoden der DDR-Polizei oder die perfiden Strategien der Stasi trugen. Daneben gibt es noch einen Haufen Verharmlosungsversuche: Seine Stasi-Berichte hätten dazu beigetragen, Freunde vor der Stasi zu schützen, oder die Stasi zu verwirren, oder gar die Stasi über ihre widersinnige Tätigkeit aufzuklären. Vermutlich muss man Anderson zugute halten, dass ihm als Lyriker jede Prosa, offenbar auch jede autobiografische Prosa fern liegt. Er leidet an einer offen eingestandenen „Unfähigkeit, zu erzählen“. Vielleicht würde er sein Leben gern genauer und seinen Opfern gegenüber fairer darstellen, hat es aber einfach nicht besser hinbekommen. Vielleicht. Aber wäre es dann nicht klüger gewesen, seiner Erinnerungen unpubliziert zu lassen? Denn das, was er jetzt mit oft mitleiderregender Unbeholfenheit festgehalten hat, ist gegen Ende hin schlicht skandalös. Anderson, der nicht nur in der DDR, sondern auch von West-Berlin aus für die Stasi arbeitete, musste sich nach der Wiedervereinigung wegen „geheimdienstlicher Tätigkeit“ verantworten und wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Doch konnte er die Buße nur schwer akzeptieren, denn es „überstiegen die dreitausend Mark, die ich für die Einstellung des Verfahrens zahlen sollte, selbst meine Schuldgefühle“. Wie viel, fragt man sich, ist in seinen Augen ein 20 Jahre währender Verrat an guten Freunden wert? Bei der Antwort sollte er nicht zu knauserig sein. Ohne seinen Verrat würden sich nur wenige Menschen für sein Buch interessieren. Er macht, ob er will oder nicht, bis heute Kasse auf Kosten seiner Opfer.

Der Artikel erschien in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 2. März 2002

Sascha Anderson: „Sascha Anderson“
DuMont Verlag, Köln 2002 303 Seiten, 19,90 Euro ISBN 978-3832159047

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„Leibhaftig“

Christa Wolf denkt über den Zusammenhang von Gesellschaftskritik und Blinddarmentzündung nach

Was hat eine Blinddarmentzündung mit Gesellschaftskritik zu tun? Eine ganze Menge, wenn die Geschichte dieser Blinddarmentzündung von Christa Wolf erzählt wird. Denn Erkrankungen waren für Christa Wolf immer mehr als nur Erkrankungen. Es waren und sind für sie so etwas wie verschlüsselte Botschaften des Körpers an den denkfeigen Kopf. „Ihr Körper hat“, heißt es über Christa T., die vor 35 Jahren in Christa Wolfs erstem Roman an Krebs starb, „eher begriffen als ihr Kopf.“ Und Jahre später schreibt sie in „Kindheitsmuster“, ihrem zweiten Roman: „Das allerletzte Zeichen dafür, dass sie im Grunde Bescheid wusste, ohne unterrichtet zu sein, kam Nelly aus ihrem eigenen Körper, der sich (…) , in seiner Weise ausdrückte“ – indem er erkrankt. Natürlich steht Christa Wolf mit solchen Vorstellungen nicht allein. Die Erkenntnis, dass ein Leiden der Seele ein Leiden des Leibes nach sich ziehen kann, ist heute zur geachteten Wissenschaft der Psychosomatik gereift. Eine Wissenschaft, die der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der so manche Spur im Werk Christa Wolfs hinterlassen hat, letztlich als Instrument der Gesellschaftskritik verstand. Die Psychosomatik, so lehrte er, solle alle „krankheitserregenden Lebensbedingungen der Gesellschaft zu erkennen versuchen. Ein solch neuer sozialmedizinischer Aspekt bedeutet aber, dass die Gesellschaft hier in die Lage versetzt wird, etwas über sich selbst zu erfahren, und zwar gerade das, wofür sie sonst keine Wahrnehmungsorgane besitzt.“ Steile, kühn gedachte Sätze wie diese lassen ahnen, in welches Licht eine Gesellschaftsordnung in Christa Wolfs Büchern gerät, sobald es eine ihrer Heldinnen aufs Krankenlager niederwirft. In dem Buch stellt dann ein Arzt der Figur die Diagnose, die Autorin jedoch mit dem Buch dem Staat, in dem ihre Figur lebt. Zu Beginn von Christa Wolfs neuer knapp 200-seitiger Erzählung „Leibhaftig“ wird eine Frau fortgeschrittenen Alters ins Krankenhaus eingeliefert. Sie hat, wie die Erzählerinnen in „Christa T.“, „Kindheitsmuster“, „Sommerstück“ oder „Was bleibt“, auffällige Ähnlichkeiten mit Christa Wolf. Sie muss zunächst unter dramatischen Umständen wegen „Herzrasen“, Tachykardie, behandelt werden. Dann jedoch erfährt der Leser, dass diese Beschwerden nur Symptom einer lange verschleppten Blinddarmentzündung sind. Eine erste Operation ist nicht erfolgreich, ein versteckter Eiterherd verursacht hohes Fieber, weitere Operationen sind unvermeidlich. Erst Wochen später gelingt es, die lebensbedrohlichen Erreger zu identifizieren und die Patientin allmählich wiederherzustellen. In jenen bangen Wochen, die sie – durch Fieberschübe und Therapieversuche gleichermaßen gequält – im Hospital zubringt, entscheidet sich auch das Schicksal von Urban, eines ehemaligen Freundes der Kranken. Die beiden kennen sich seit Jahrzehnten, haben sich jedoch auseinandergelebt, nachdem Urban in der DDR Karriere machte und den Machthabern des Landes widerstandslos zu Willen war. Kurz bevor die Erzählerin ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hat sie erfahren, dass Urban verschwunden ist. Nach ihrer Gesundung wird ihr mitgeteilt, dass er sich erhängt habe und erst nach Wochen in einem entlegenen Waldstück gefunden wurde. In welchem Maße es Christa Wolf in ihrem neuen Buch noch immer um die konkreten Zustände in der DDR geht, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass es diesen bedrückend inszenierten Selbstmord tatsächlich gab: Hans Koch, Literaturwissenschaftler und SED-Apparatschik, half sich, offenbar von Depressionen gequält, 1986 aus dem Leben. Bevor er verschwand, hinterließ er die Notiz: „Mich findet ihr nie.“ Urban schreibt in „Leibhaftig“ vor seinem Freitod auf einen Zettel: „Ihr findet mich nicht.“ Beide, Urban und die namenlose Kranke, engagierten sich einst, so deutet Christa Wolf an, für hehre sozialistische Ideale und erwarteten von der DDR historisch nur das Allerbeste. Die Ernüchterung über seinen Staat und vor allem auch die eigene Rolle als Staatsdiener, trieb Urban in den Tod. Die gleiche politische Ernüchterung hat die Heldin so lange verdrängt, bis ihr Körper sie mit der ebenfalls verdrängten, verschleppten Blinddarmentzündung zwang innezuhalten. „Die jahrzehntelange Inkubationszeit ist vorbei, jetzt bricht die Heilung aus, als schwere Krankheit,“ macht sie sich klar, und erkennt, welche nicht nur körperlichen Torturen diese Heilung ihr zumutet. Torturen, die Urban, so vermutet sie, nicht auf sich nehmen wollte. Susan Sontag hat einmal in einem wunderbar präzisen Essay erklärt, weshalb es ihr zum Hals heraushängt, wenn Schriftsteller „Krankheit als Metapher“ für politische Probleme verwenden: Die Krankheit werde auf diese Weise literarisch dämonisiert und – was schwerer wiegt – das politische Problem oft simplifiziert. Denn anders als gesundheitliche Krisen lassen sich die Krisen der Gesellschaft meist nicht auf eine Hand voll Erreger zurückführen, die sich mit einer Hand voll Pillen therapieren lassen. Christa Wolfs Erzählung kann man diesen Vorwurf wohl alles in allem nicht machen, da sie die Krankheit ihrer Hauptfigur nicht als Metapher benutzt, sondern als konkretes, psychosomatisches Symptom. In manchen Punkten allerdings nimmt die Krankengeschichte dennoch spürbar metaphorische Züge an: So, wenn die Kranke wieder und wieder angesichts des Unheils in ihrem Körper über das Unheil in der Welt spekuliert. Wenn die grotesken wirtschaftlichen Missstände in den letzten Jahren der DDR wie eine Krankheit zum Tode des Landes wirken. Oder wenn die Heldin von dem Wunsch der Ärzte berichtet, „bis zur Wurzel des Übels vorzudringen, zum Eiterherd, dorthin, wo der glühende Kern der Wahrheit mit dem Kern der Lüge zusammenfällt“. Ist es übertrieben, hier in „Wahrheit“ und „Lüge“ auch politische – allerdings recht grobschlächtige politische – Begriffe zu sehen? Auffällig auch, dass die Patientin mehrfach ihren gesundheitlichen „Zusammenbruch“ begrübelt, der sich wenige Jahre von dem politischen Zusammenbruch der DDR vollzieht. Dies muss als bewusste Anspielung Christa Wolfs verstanden werden, auf jenen gesundheitlichen „Zusammenbruch“, den ihre Heldin in „Kindheitsmuster“ kurz vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches durchlebte. Am deutlichsten wird die Tendenz zu einer literarisch drapierten, simplifizierenden Geschichtsphilosophie, in den Fieberfantasien der Kranken: Während sie sich unter psychosomatischen Qualen von ihren lang gehätschelten sozialistischen Zukunftsträumen verabschiedet, wird sie von Erinnerungen an die Leiden der Gequälten und Gefolterten quer durch alle Jahrhunderte heimgesucht.

Der Abschied von den sozialistischen Hoffnungen zieht gleichsam den Verlust jeder politischen Hoffnung nach sich: „Es muss doch einen geheimen Sinn haben, dass alle Arten von Menschenopfern mir vorgeführt werden sollen. Oder hat es den Sinn, mich endlich, nach all den Jahren, Jahrzehnten der Selbsttäuschung, von der durchdringenden Sinnlosigkeit allen Geschehens zu überzeugen?“ Gegen solche Bilder eines an Heiner Müllers theatralische Blutorgien erinnernden Geschichtspessimismus setzt Christa Wolf einige wenige Szenen privaten Glücks: Die Liebe einer „Tante Lisbeth“ zu einem jüdischen „Doktor Leitner“ während der Nazi-Jahre – die sie schon in „Kindheitsmuster“ beschäftigte – dient als ein Symbol der Menschlichkeit in unmenschlicher Umwelt. Zumindest in Teilen ihres neuen Buches bleibt Christa Wolf also jene erzählende Idealistin, die sie im Grunde immer gewesen ist. Das hat manchem ihrer Romane, vor allem jenen, die sie mit mythologischem Personal bevölkerte, einen mechanischen, fast schon lehrstückhaften Zug verliehen. Die Gleichnisse in diesen Büchern gingen zu gut auf, als dass die Figuren ein Leben hätten entwickeln können, das aus ihnen mehr als bloße Funktionsträger der Handlung gemacht hätte. „Leibhaftig“ ist dort besonders gelungen, wo die Autorin alles gleichnishafte oder metaphorische vermeidet und sich ganz der konkreten Situation ihrer Heldin widmet. Mit welcher Einfühlungskraft sie dann die Situation eines kranken Menschen einzufangen versteht, gehört zu den beeindruckendsten literarischen Leistungen Christa Wolfs überhaupt. Sie zeigt, wie ein Mensch mit dem Verlust der Gesundheit gleichsam in eine Parallelwelt hinüberwechselt, wie ihm die alltägliche Ordnung, die ihm zuvor so viel bedeutete, mit einem Mal völlig gleichgültig wird, wie er aus allen Zeitrhythmen fällt, wie in seinem Kopf Fantasien, Träume, unscharf wahrgenommene Realität und dumpfes Dösen zu einem Brei vermengen, in dem er sich – so absurd das klingt – geborgen fühlt wie in einem Kokon. Christa Wolf, der es oft nicht ganz leicht fällt, Außenwelt sinnlich und anschaulich in ihrer Prosa einzufangen, hat offenbar eine besondere Gabe, psychische Innenwelten zu schildern. Sie erreicht hier über weite Strecken ihres neuen Buches eine große erzählerische Dichte, die sich bezeichnenderweise verliert, sobald die Patientin ihre Krankheit hinter sich lässt und wieder in die Welt der Gesunden eintaucht. Prompt verliert sich die zuvor suggestive Sprachkraft und geht in papiernes Pathos über. „Darf ich Sie etwas fragen, Herr Professor?“, wendet sich die Geheilte an ihren behandelnden Arzt, „Sie lieben das Leben?“ Er antwortet unerschrocken: „Ja“. Gleichwohl ist „Leibhaftig“ das vermutlich persönlichste und gewiss beste Buch von Christa Wolf seit langem. Es ist ein Spiel mit Motiven, die sie seit Jahrzehnten beschäftigen, und die sie, gerade wenn sie darauf verzichtet, ihre Geschichte zu einer Art Welttheater, Weltanschauungstheater aufzubauschen, mit großer Souveränität zu handhaben versteht.

Christa Wolf: „Leibhaftig“. Erzählung Luchterhand Verlag, München 2002. 185 Seiten, 18,00 Euro

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