„Hure“

Nelly Arcan Roman belegt die Verbindung zwischen Sex und Selbsterforschung in der französischsprachigen Literatur
„Ja, das Leben ist durch mich durchgegangen, die Männer sind zu Tausenden in meinem Bett, in meinem Mund gewesen, das habe ich nicht geträumt, das Sperma auf mir, auf meinem Gesicht, in meinen Augen ist nicht erfunden, das habe ich alles gesehen, und es geht gerade so weiter“. Das Buch der jungen frankokanadischen Autorin Nelly Arcan „Hure“ macht seinem Titel alle Ehre. Hier geht es zur Sache, nüchtern, detailliert und ohne Scheu vor abstoßenden Passagen, denn Nelly Arcan verschweigt nicht, dass es wenig Vergnügen macht, Freiern gegen Geld Vergnügen zu machen. Das ist zwar keine überraschende Erkenntnis, aber doch eine, die immer noch Aufmerksamkeit erregt: Nicht nur im Literaturbetrieb – denn Nelly Arcan schreibt eine anspruchsvolle Prosa -, sondern auch in Frauenmagazinen, Boulevardzeitungen oder der Yellow-Press, die sonst eher selten über ambitionierte Romanprojekte berichten. Sex sells. Eine neue Schriftstellerin, eine ehemalige Prostituierte, eine junge, unglückliche Frau, diese Story will sich einfach keine Zeitung entgehen lassen. Selbst dann nicht, wenn es in diesem Roman weit mehr um das Seelen- als das Liebesleben Nelly Arcans geht und Voyeure das Buch schnell wieder zuschlagen werden. Sex sells: Das ist eine der unbezweifelbarsten Einsichten unserer Zeit, und sie wurde nicht von Schriftstellern, Philosophen oder Kulturkritikern formuliert, sondern von Werbetextern. Sex sells: Knapper, präziser, brutaler kann es kein Meister der Konkreten Poesie auf den Punkt bringen. Nackte Körper, nackte Leidenschaften – damit lässt vom Sportwagen über Vierfrucht-Marmelade bis hin zum introspektiven Roman einfach alles verkaufen. Im großen Medienrauschen, das uns tagtäglich umspült, gibt es wenig, das nicht in der einen oder anderen Form auf die Wirksamkeit dieser schlichten Erkenntnis spekuliert. Eine berühmte Ausnahme ist die deutsche Literatur. Zwar wäre es übertrieben, sie zur komplett sexfreien Zone zu erklären. Doch ist sie, alles in allem, bis in unsere enttabuisierte Gegenwart hinein erstaunlich zurückhaltend und ungelenk geblieben in der Darstellung dessen, was zwischen Menschen in Betten und an anderen Orten geschieht. Auch die jüngste Modewelle, die durch die Buchhandlungen plätscherte, die Pop-Literatur, hat daran wenig geändert. Kein Zufall, dass es ein deutscher Verlag ist, der jetzt einen neuen Literaturpreis namens „Der spitze Stift“ ausgeschrieben hat, dessen Zuerkennung einer öffentlichen Abstrafung gleichkommt: Er soll nach dem Willen der Stifter für die „misslungenste, kläglichste, unfreiwillig komischste Erotik-Szene“ vergeben werden. Dabei ist Sex in allen Details, mit allen geistigen und leiblichen Regungen der Beteiligten selbstverständlich ein literarisch höchst dankbares Thema: nämlich für die Leser ebenso fesselnd wie für den Charakter der Figuren verräterisch. Im puritanischen Amerika haben Autoren wie Harold Brodkey, Philip Roth, Hubert Selby oder John Updike zwanzig-, dreißig-, mitunter fünfzigseitige Bettszenen geschrieben, die zu den klügsten, schönsten, erschütternsten Kapiteln ihrer Werke zählen. Auch französische Schriftsteller – seit Jahrhunderten den einst „galant“ genannten Themen gegenüber mehr als nur aufgeschlossen – sind immer gern bereit, den neuesten Windungen und Wendungen, Stilformen und Moden des zeitgenössischen Sexualverhaltens auf der Spur zu bleiben. So waren es jüngst vor allem Catherine Millets Beischlaf-Memoiren „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ und Michel Houellebecqs Romane über Swinger-Clubs und Sextourismus, die hier zu Lande Furore machen. Was in Deutschland mit dem hässlichen Terminus Promiskuität belegt wird, schilderten diese beiden Autoren als gewöhnliche Lebenserfahrung, als manchmal lustvollen, manchmal ernüchternden Teil des Alltages. Sie inszenierten ihre Neigungen nicht als Konventionsbruch, als Besessenheit oder Sucht, sondern als ein heute weitgehend geläufiges, gewöhnliches Verhaltensmuster. In einer nachmittäglichen Fernseh-Talkshow hätten sie mit ihrer demonstrativen Gelassenheit wohl nur noch wenige Zuschauer frappieren können, im braveren Literaturbetrieb waren sie jedoch noch immer für ein wenig Skandal und vorübergehende Bestsellerplätze gut. Sex sells. Dabei hat der hochfrequente Austausch von Geschlechtspartnern gerade in der französischen Literatur der „romans libertins“ durchaus Tradition. Von den amoralischen Fantasien des Marquis de Sade über „Die gefährlichen Liebschaften“ des Choderlos de Laclos bis hin zur „Geschichte der O.“ ist dieses Thema über Jahrhunderte hinweg mit einer Radikalität, Offenheit und Intelligenz behandelt worden, für die sich in der deutschen Literaturgeschichte so schnell kein Vergleich findet. Und nie wird in diesen Büchern der sexuelle Massenkonsum als Ausdruck einer Perversion betrachtet und moralisch abgeurteilt, sondern viel eher als eine Chance zur Selbstbegegnung und Selbsterkenntnis der Figuren literarisch genutzt. Denn natürlich verrät die Liebe – auch die rein körperliche Liebe – in der Literatur wie im Leben weit weniger über die geliebte Person als über den Liebenden selbst. Was selbst für ein so berechnend sensationsheischendes Buch wie „Rose bonbon“ von Nicolas Jones-Gorlin (Gallimard, Paris. 176 S., 14 Euro) gilt: Der literarische Monolog eines Pädophilen, der sowohl den französischen Kinderschutzbund wie auch Innenminister Nicolas Sarkozy gegen sich aufbrachte, woraufhin der Roman im Buchhandel nur noch in Cellophan-Folie eingeschweißt angeboten werden durfte. Was das Buch natürlich schnell in bemerkenswerte Auflagenhöhen und bei „amazon.fr“ immerhin auf Bestseller-Rang 7 beförderte. Ein Erfolg, der in diesem Fall sicherlich nicht auf literarische Qualitäten zurückzuführen ist. Deutsche Autoren ziehen es gleichwohl bis heute vor, die sexuelle Spielart der Selbsterforschung in traditionellen Infight eines Paares darzustellen, oder allenfalls anhand einer ebenso traditionellen Seitensprung-Geschichte. Die Leser jedoch – siehe die Erfolge von Millet und Houellebecq – sind auch hier zu Lande längst härteren Stoff gewohnt. Also schauen sich deutsche Verleger in jüngster Zeit immer gründlicher auf dem französischen Literaturmarkt um, wollen und dürfen sie doch angesichts der Krise der deutschen Buchbranche keinesfalls den nächsten einschlägigen Bestseller versäumen. Natürlich ist nicht alles, was dabei nach Deutschland heimgebracht wird, tatsächlich der Lektüre wert. Das neueste Bekenntnisbuch einer zwanzigjährigen Französin beispielsweise, die sich hinter dem Pseudonym „Sarah“ verbirgt und ihrem Buch den recht barschen Titel „Ich bin gekommen“ gegeben hat, ist literarisch geradezu rührend misslungen und als autobiographischer Bericht wenig glaubhaft. Die munter plappernde Autorin schickt ihre Heldin durch diverse Betten auf die Jagd nach ihrem ersten Orgasmus. Da sie über herzlich wenig erzählerisches Talent und psychologisches Verständnis verfügt, ist man als Leser ziemlich erleichtert, wenn die Hauptfigur auf den letzten Seiten endlich ihr Ziel erreicht und man das Buch zuschlagen darf. „Hure“ dagegen, der erste Roman der Nelly Arcan, belegt die Verbindung zwischen Sex und Selbsterforschung in der französischsprachigen Literatur: Eine Literaturstudentin arbeitet unter dem Namen „Cynthia“ als Prostituierte und geht in einem großen inneren Monolog mit ihren Eltern ins Gericht. Sie wurde geboren als Ersatz für eine früh gestorbene Schwester namens Cynthia und verbrachte, von ihrer depressiven Mutter und ihrem bigotten Vater vernachlässigt, eine lieblose Kindheit. Als junge Frau ist sie nun zur Eigenliebe fast unfähig und verspürt vor allem zwei Bedürfnisse, die sie zur „Hurerei“, wie sie es selbst nennt, geradezu prädestinieren: Eine Neigung zur Selbsterniedrigung und eine zeitlebens unstillbar bleibende Sehnsucht nach Zuwendung. Nelly Arcans Geschichte ist ergreifend und erschütternd zugleich: Wie da eine junge Frau, die durch ihre Eltern von Kindesbeinen an daran gewöhnt ist, sich als unzureichend zu betrachten, weil sie nicht die tote Cynthia ist, verzweifelt um die Aufmerksamkeit und Liebe der Männer buhlt. Wie sie sich sogar körperlich nach vermeintlichen Idealbildern chirurgisch zurechtstutzen lässt, wie sie Lippen und Busen vergrößern und die Nase korrigieren lässt, bis sie immer weniger sie selbst ist und immer weniger Chancen hat, mit sich selbst zufrieden zu sein. Wie sie sich nach Berührung und Nähe sehnt, es aber verabscheut, durch die Freier berührt zu werden, und sich selbst verachtet, weil sie sich von Freiern berühren lässt. Wie sie schließlich ebenso wünscht und fürchtet, irgendwann möge ihr eigener Vater als Freier vor der Tür stehen, und sie endlich als das sehen muss, was sie ist: eine liebesbedürftige Tochter, die mit ihren Stärken und Schwächen akzeptiert werden möchte, auch wenn es ihr nie gelingen kann, ihre tote Schwester zu sein und den Eltern den Schmerz über den Tod des ersten Kindes zu ersparen. Wie in diesem Roman mit Blick auf das Sexualverhalten einer jungen Frau, Schicht um Schicht deren psychisches Drama freigelegt wird, ist literarisch geradezu lehrbuchhaft. Ein schönes, wahres – und zutiefst trauriges Buch, denn natürlich kann Nelly Arcans Heldin die Zuneigung und Anerkennung, die ihr als Kind vorenthalten wurden, als Erwachsene niemals mehr erwerben. Ihre Erfahrung eines Liebes-Mangels liegt gut erkennbar und doch völlig unerreichbar in ihrer Vergangenheit beschlossen. Sie kann nur sagen, was und wie sehr sie leidet. Das hat sie mit ihrem Roman getan. <em>

Der Artikel erschien in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 19. Oktober 2002
Nelly Arcan: „Hure“. Roman Verlag C.H. Beck, München 2002 191 Seiten, 19,90 €
Als Taschenbuch: dtv, München 2004 191 Seiten, 9,00 Euro ISBN 978-3423131933
Nicolas Jones-Gorlin: „Rose bonbon“ Gallimard, Paris 2002 176 Seiten, 21,99 € ISBN 978-2070766659

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