Julian Barnes Roman über die Lasten der Ehe, die eine Frau und zwei alte Freunde
Was halten Sie von, sagen wir, freundschaftlichem Sex? Von ruhigem, partnerschaftlichem Miteinander im Bett? Sex ohne Rausch, ohne Feuer. Sex wie eine lauwarme Tasse koffeinfreier Kaffee. Klingt nicht eben betörend, zugegeben. Aber ist auf die Dauer etwas anderes vorstellbar als freundschaftlicher Sex? Kann ein Paar nach, sagen wir, zehnjähriger Ehe noch erwarten, im Bett von lodernder Leidenschaft durchzuckt zu werden? Natürlich nicht. Aber ist es dann nicht absurd, was für eine Bedeutung die Leidenschaft bei der Partnerwahl spielt? Die Ehe, eine ziemlich fundamentale Entscheidung, wird abhängig gemacht von einem Faktor, der ungefähr so verlässlich ist wie Luft in einem Reifen, der gerade übers Nagelbrett zu rollen. Nehmen wir die beiden Freunde Stuart und Oliver sowie die handfeste Gillian. Vor gut zehn Jahren hat uns Julian Barnes in seinem Roman „Darüber reden“ mit ihnen bekannt gemacht. Der brave Banker Stuart und die Restauratorin Gillian hatten sich damals ineinander verliebt und geheiratet. Während der Hochzeit verliebte sich aber auch der ebenso witzige wie flatterhafte Oliver in die Braut – und spannte sie seinem besten Freund schleunigst aus, um sie selbst zu heiraten. Versteht sich, dass die gigantischen Enttäuschungen und Schmerzen, die sich die drei bei den entsprechenden Rangeleien zufügten, von ihnen jeweils mit den Leidenschaften gerechtfertigt wurden, von denen sie sich gerade beherrscht fühlten. Was ist zehn Jahre später von all dem zu halten? So wie John Updike – der seinem Helden Harry „Rabbit“ Angstrom in vier Romanen über drei Jahrzehnte hinweg auf den Fersen blieb – kommt Julian Barnes nämlich jetzt nach einem Jahrzehnt auf sein Figuren-Trio der frühen Neunziger zurück. Gillian und Oliver haben inzwischen zwei Töchter, Gillian verdient das Geld, der brillante Oliver träumt von brillanten Projekten und schmeißt währenddessen den Haushalt. Stuart hat es in USA zu Geld und eine zweite Ehe hinter sich gebracht – bevor sich die drei in London wiedersehen. Anders als Updike, der mit dem Schicksal Angstroms quer durch die Jahrzehnte immer auch ein wenig das Schicksal Amerikas verfolgte, ist bei Barnes wenig davon zu spüren, wie (und ob) sich England seit dem Abschied von Maggie Thatcher verändert hat. Barnes konzentriert sich fast ganz auf die Seelenschlachten zwischen den drei Liebeskontrahenten: Gillians und Olivers Leidenschaft ist erwartungsgemäß auf wackeres Alltagsmaß zusammengeschrumpft. Stuart Sehnsucht nach der verlorenen Gillian dagegen blieb unausgelebt und also besser erhalten. Diesmal ist er es, der sich mit entschlossenem Einsatz von Geld und Zeit zwischen die beiden Eheleute drängt. Barnes hat eine ausgeprägte Fähigkeit feinste und allerfeinste Seelenregungen Liebender anschaulich vorzuführen. Gekonnt, wie er spürbar macht, in welchem Maße die Leidenschaft zwischen Oliver und Gillian durch Kameraderie abgelöst wurde. Gekonnt auch, wie er Stuart als einen an seiner gescheiterten Liebe gereiften und doch über diese Liebe nie hinausgekommen Menschen schildert. Die Aufmerksamkeit wird durch solche Charakterstudien so in Anspruch genommen, dass man kaum merkt, wie wenig sonst passiert. „Liebe usw.“ ist, zumal im Vergleich mit Barnes anderen Büchern, ein geradezu demonstrativer Non-Action-Roman. Es geht halt um Liebe nur und um sonst gar nichts. Wie schon in „Darüber reden“ lässt Barnes die Geschichte von den Beteiligten in kleinen Häppchen aus ihrer jeweiligen Perspektive erzählen. Damit erreicht er natürlich, dass wir Leser nie der Illusion verfallen, es könnte in Liebesdingen je eine für alle gültige Wahrheit geben. Zugleich aber zeigt er auch, wie schwer es für einen in seiner subjektiven Gefühls-Wahrheit befangenen Menschen ist, die Bedürfnisse der anderen richtig einzuschätzen. Unsere Liebe – oder unser Begehren – trübt den Blick so sehr, dass wir die anderen, selbst wenn wir sie lieben oder begehren, nicht mehr angemessen wahrnehmen. Mit dem Ergebnis, dass wir den geliebten Menschen eher verfehlen als tatsächlich erreichen. Für einen Autor wie Julian Barnes ist das keine geringfügige Einsicht. Liebe spielte in seinem schriftstellerischen Kosmos schon immer eine zentrale Rolle. Die Geschichte der Welt ist in seinen Augen nichts als eine endlose Kette von Unheil und Absurditäten, aus der nur jenes eine, viel umraunte Gefühl die Flucht ermöglicht. Wenn nun aber – wie dieser schöne, zu tiefst melancholische neue Roman zeigt – selbst die Liebe nur Unheil stiftet, dann . . . ja, was dann?
Julian Barnes: „Liebe usw.“ Roman
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 254 S., 19,90 Euro.