Martin Walsers Lust an literarischen Skandalen wird immer riskanter
Skandale wie der um Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ sind ja nicht unbedingt etwas Schlechtes. Öffentliche Erregungen haben, zumal in Demokratien, ihre guten Seiten. Sie stellen in unserer zerstreuten, zerfaserten Epoche, in der jedes Milieu mit etwas anderem beschäftigt ist, überhaupt erst so etwas wie Öffentlichkeit her: Endlich einmal sprechen viele Leute – oder zumindest ein paar mehr als sonst – zur selben Zeit vom selben Thema. Wer will, kann die Ursprünge dieser Debattenkultur über die üblichen Zwischenstationen wie Zola oder Voltaire bis ins Zeitalter der Aufklärung zurückverfolgen. Nach den Nazijahren war man in Deutschland allerdings in diesen Dingen recht ungeübt. Zu den wichtigsten Institutionen, die sie für die gerade eben gegründete Bundesrepublik wiederentdeckten, gehörte die Gruppe 47. Dieser merkwürdige Schriftstellerclub wird deshalb heute von jüngeren Autoren gern herablassend behandelt: Die Gruppe 47 habe eine Art Reeducation mit belletristischen Mitteln betrieben, habe eine Gesinnungsästhetik etabliert, die nicht nach den literarischen Qualitäten eines Buches frage, sondern danach, ob es sich möglichst bruchlos in einen politisch-moralischen Grundkonsens einfügen lasse. Man muss Martin Walser zu Gute halten, dass er, der ein wichtiger Mitstreiter der Gruppe 47 war, schon früh sein Unbehagen an einem derartigen schriftstellerischen „Engagement“ formuliert hat. Damals, zu Zeiten des Vietnamkriegs und der Großen Koalition, kam ihm der nimmermüde Protest- und Resolutionsrummel des Literaturbetriebs schon wie ein „Reizlärm“ vor, der längst Teil des vermeintlich durch ihn kritisierten politischen Spiels geworden sei. Was nichts daran ändert, dass die Gruppe 47 und dankenswerterweise auch Walser durch literarisch-politische Debatten daran mitgewirkt haben, ein paar notwendige intellektuelle Regeln und fundamentalen Tabus für die junge Bundesrepublik zu formulieren – und im Bewusstsein ihrer Bürger zu verankern. * Zu den historisch bestens begründeten deutschen Tabus gehört das Verdikt gegen die öffentliche Verwendung antisemitischer Klischees. Tabus zeugen ja keineswegs immer von falschen, überlebten Empfindlichkeiten. Ein Mensch ohne Tabus, schrieb Freud, ist ein schwachsinniger Mensch. Denn Tabus erwachsen mitunter aus wohlerwogenen Erfahrungen, und in einem solchen Fall tut man gut daran, sie zu respektieren. Wenn Walser jetzt in seinem Roman bewusst oder unbewusst antisemitische Klischees einfließen lässt und das Buch vorab als Skandal angekündigt, ergibt sich ein bizarres Bild: Ein ergrautes Mitglied der Gruppe 47 löst nach bewährtem Muster der Gruppe 47 eine Debatte aus, um ein von der Gruppe 47 mitbefestigtes Tabu zu brechen. Oder um es mit Büchner zu sagen: Walser benimmt sich wie Saturn, der die eigenen Kinder frisst. * Auch wenn Walser jetzt einen verunglückten, skandalösen Roman geschrieben hat, darf man ihn nicht unterschätzen. Seine Intelligenz, sein Talent zur Selbstbeobachtung und Selbstanalyse sind enorm. Schon 1979, als Jürgen Habermas „Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“ sammelte, steuerte Walser einen Essay bei, der sich heute ahnungsschwanger, ja hellsichtig liest. „Wenn man“, schreibt Walser hier, „als Mitarbeiter an der öffentlichen Meinung jahrelang eine gesellschaftliche Ausdrucksweise anstrebt, … besteht die Gefahr, dass sich die Ausdrucksweise verselbständigt und mit dem, der sie praktiziert, immer weniger zu tun hat.“ Er habe, lässt Walser erkennen, lange Zeit Meinungen vertreten, die er für richtig und notwendig hielt, die ihm aber im Grunde wie „Lippengebete“ vorkämen und ihm inzwischen fremd seien. Für ihn wachse die Versuchung, das Beiseitegedrängte endlich auszuleben: „Endlich keine Kritik mehr an der eigenen Neigung, sondern Zustimmung zur bisher ununterbrochen bekämpften Neigung. Zulassung des Widerspruchs, endlich! Ein plötzliches Einlassen jahrelang bekämpfter, immer auf Einlass drängender Gedankengespenster und Meinungsmonster.“ Welch seltsamen Kult um angeblich authentische Überzeugungen betreibt Walser hier? Gehört zu jedem zivilisierten menschlichen Verhalten nicht immer auch eine gewisse Kulturleistung, die über die üblichen atavistischen Instinkte und Neigungen hinausführt? Aber wie gesagt, Walser ist ein hoch gebildeter Mann, er weiß das alles. Worauf also will er mit solchen Sätzen hinaus? Rätselhaft. Über Deutschland reden – Walser bereitete mit dieses Sätzen vor allem sein frühes, effektvolles Plädoyer für eine Wiedervereinigung Deutschlands vor. Viele profiliert linke Autoren betrachteten – auch wenn das heute nur noch schwer nachzuvollziehen ist – seine Thesen damals als schlichtweg nationalistisch und damit als Verstoß gegen den intellektuellen Grundkonsens der Bundesrepublik. Sie sahen in der deutschen Teilung die gerechte historische Strafe für den Zweiten Weltkrieg und Auschwitz. Walser stimmte ihnen zu, meinte aber, Deutschland habe seine politische Besserung unter Beweis gestellt: „Fühlen wir uns nicht resozialisiert? In Ost- und Westdeutschland kein Anzeichen irgendeiner Rückfallmöglichkeit.“ Die Geschichte hat, wenn man so etwas sagen darf, Walser Recht gegeben. Nach 1989 blühte, trotz Skinheads, kein neuer deutscher Nationalismus auf. Die entsprechenden Sorgen, die damals auch von Schriftsteller mit großem Pathos vorgetragen wurden, wirken heute überzogen und hysterisch. Walser darf sich rühmen, ein obsoletes intellektuelles Tabu frühzeitig gebrochen zu haben. Ein Triumph, der für ihn mit publizistischen Risiken behaftet war – brachten doch nach altem gesinnungsästhetischen Muster der Gruppe 47 von nun an manche Kritiker aus politischen Gründen literarische Einwände gegen Walsers Bücher vor. * In seiner Paulskirchenrede zielte Walser ebenfalls auf einen Aspekt jenes seit rund fünfzig Jahren in der Bundesrepublik gültigen, ungeschriebenen Konsenses: Nämlich dass die deutsche Schuld am Holocaust nie verdrängt werden dürfe. Walser hatte in den sechziger Jahren als noch junger Autor mit Aufsätzen wie „Unser Auschwitz“ nachdrücklich dazu beigetragen, das Ausmaß der deutschen Verbrechen ins Bewusstsein zu rücken. In der Paulskirche, 30 Jahre später, wehrte er sich gegen eine in seinen Augen übermäßige Fixiertheit der Öffentlichkeit auf dieses Thema, wehrte sich gegen eine „Dauerrepräsentanz unserer Schande“. Die Folgen sind bekannt. Der Streit um diese Rede kannte im Grunde nur Verlierer: Walsers Gegenspieler Ignaz Bubis ließ sich, vom gegenwärtigen Deutschland enttäuscht, nach seinem Tod in Israel bestatten. Walser wird seither bei Lesungen von aufgeregten Menschen als „Auschwitzleugner“ bezeichnet – was natürlich Unsinn ist. Vor allem aber: Die erbitterte Debatte führte zu keinem erkennbaren, greifbaren Ergebnis. Wird seither in Deutschland weniger Aufklärung über den Holocaust betrieben? Wohl kaum. Schauen seither mehr Menschen beiseite, wenn sie Bilder aus einem KZ sehen? Wohl kaum. * Die Parallelen zum aktuellen Skandal um Walsers „Tod eines Kritikers“ liegen auf der Hand. Walser hat seit Jahren kein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich von der ungewöhnlichen Machtposition Reich-Ranickis im Literaturbetrieb provoziert fühlt. Kann es sein, dass er sich, im Glauben ein altes bundesrepublikanisches Tabu schütze Juden vor scharfer, beißender Kritik, aufgerufen fühlte, auch dieses Tabu demonstrativ zu brechen? Kann es sein, dass ihn daraufhin sein Zorn auf Reich-Ranicki so weit trug, die Züge des Kritikers André Ehrl-König im Roman ins Monströse zu verzeichnen? Ob Walsers „Tod eines Kritikers“ ein ganz und gar antisemitisches Buch ist, oder ob es nur einige wenige antisemitische Klischees transportiert, oder ob man es in keinem Fall antisemitisch nennen kann – darüber wird sich der Literaturbetrieb erfahrungsgemäß nie einigen. Sicher ist jedoch, dass Walsers Verfahren, durch literarische Skandale und Debatten das Bewusstsein seiner Nation umkrempeln zu wollen, allmählich immer riskanter wird. Sein Einsatz für ein deutsches Nationalgefühl jenseits jedes Nationalismus‘ hatte offenkundig erfrischende Wirkung aufs geistige Klima. Kann Walser Ähnliches für sich in Anspruch nehmen, wenn er jetzt auf dem Recht besteht, den Mord an einem Menschen ausfantasieren zu dürfen, der, wie es im Roman heißt, zu seinen Vorfahren „Opfer des Holocaust“ zählt. Lohnt das? Oder ist das, wie immer man die Sache dreht oder wendet, am Ende doch nur geschmacklos und inhuman?
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