„Leibhaftig“

Christa Wolf denkt über den Zusammenhang von Gesellschaftskritik und Blinddarmentzündung nach

Was hat eine Blinddarmentzündung mit Gesellschaftskritik zu tun? Eine ganze Menge, wenn die Geschichte dieser Blinddarmentzündung von Christa Wolf erzählt wird. Denn Erkrankungen waren für Christa Wolf immer mehr als nur Erkrankungen. Es waren und sind für sie so etwas wie verschlüsselte Botschaften des Körpers an den denkfeigen Kopf. „Ihr Körper hat“, heißt es über Christa T., die vor 35 Jahren in Christa Wolfs erstem Roman an Krebs starb, „eher begriffen als ihr Kopf.“ Und Jahre später schreibt sie in „Kindheitsmuster“, ihrem zweiten Roman: „Das allerletzte Zeichen dafür, dass sie im Grunde Bescheid wusste, ohne unterrichtet zu sein, kam Nelly aus ihrem eigenen Körper, der sich (…) , in seiner Weise ausdrückte“ – indem er erkrankt. Natürlich steht Christa Wolf mit solchen Vorstellungen nicht allein. Die Erkenntnis, dass ein Leiden der Seele ein Leiden des Leibes nach sich ziehen kann, ist heute zur geachteten Wissenschaft der Psychosomatik gereift. Eine Wissenschaft, die der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der so manche Spur im Werk Christa Wolfs hinterlassen hat, letztlich als Instrument der Gesellschaftskritik verstand. Die Psychosomatik, so lehrte er, solle alle „krankheitserregenden Lebensbedingungen der Gesellschaft zu erkennen versuchen. Ein solch neuer sozialmedizinischer Aspekt bedeutet aber, dass die Gesellschaft hier in die Lage versetzt wird, etwas über sich selbst zu erfahren, und zwar gerade das, wofür sie sonst keine Wahrnehmungsorgane besitzt.“ Steile, kühn gedachte Sätze wie diese lassen ahnen, in welches Licht eine Gesellschaftsordnung in Christa Wolfs Büchern gerät, sobald es eine ihrer Heldinnen aufs Krankenlager niederwirft. In dem Buch stellt dann ein Arzt der Figur die Diagnose, die Autorin jedoch mit dem Buch dem Staat, in dem ihre Figur lebt. Zu Beginn von Christa Wolfs neuer knapp 200-seitiger Erzählung „Leibhaftig“ wird eine Frau fortgeschrittenen Alters ins Krankenhaus eingeliefert. Sie hat, wie die Erzählerinnen in „Christa T.“, „Kindheitsmuster“, „Sommerstück“ oder „Was bleibt“, auffällige Ähnlichkeiten mit Christa Wolf. Sie muss zunächst unter dramatischen Umständen wegen „Herzrasen“, Tachykardie, behandelt werden. Dann jedoch erfährt der Leser, dass diese Beschwerden nur Symptom einer lange verschleppten Blinddarmentzündung sind. Eine erste Operation ist nicht erfolgreich, ein versteckter Eiterherd verursacht hohes Fieber, weitere Operationen sind unvermeidlich. Erst Wochen später gelingt es, die lebensbedrohlichen Erreger zu identifizieren und die Patientin allmählich wiederherzustellen. In jenen bangen Wochen, die sie – durch Fieberschübe und Therapieversuche gleichermaßen gequält – im Hospital zubringt, entscheidet sich auch das Schicksal von Urban, eines ehemaligen Freundes der Kranken. Die beiden kennen sich seit Jahrzehnten, haben sich jedoch auseinandergelebt, nachdem Urban in der DDR Karriere machte und den Machthabern des Landes widerstandslos zu Willen war. Kurz bevor die Erzählerin ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hat sie erfahren, dass Urban verschwunden ist. Nach ihrer Gesundung wird ihr mitgeteilt, dass er sich erhängt habe und erst nach Wochen in einem entlegenen Waldstück gefunden wurde. In welchem Maße es Christa Wolf in ihrem neuen Buch noch immer um die konkreten Zustände in der DDR geht, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass es diesen bedrückend inszenierten Selbstmord tatsächlich gab: Hans Koch, Literaturwissenschaftler und SED-Apparatschik, half sich, offenbar von Depressionen gequält, 1986 aus dem Leben. Bevor er verschwand, hinterließ er die Notiz: „Mich findet ihr nie.“ Urban schreibt in „Leibhaftig“ vor seinem Freitod auf einen Zettel: „Ihr findet mich nicht.“ Beide, Urban und die namenlose Kranke, engagierten sich einst, so deutet Christa Wolf an, für hehre sozialistische Ideale und erwarteten von der DDR historisch nur das Allerbeste. Die Ernüchterung über seinen Staat und vor allem auch die eigene Rolle als Staatsdiener, trieb Urban in den Tod. Die gleiche politische Ernüchterung hat die Heldin so lange verdrängt, bis ihr Körper sie mit der ebenfalls verdrängten, verschleppten Blinddarmentzündung zwang innezuhalten. „Die jahrzehntelange Inkubationszeit ist vorbei, jetzt bricht die Heilung aus, als schwere Krankheit,“ macht sie sich klar, und erkennt, welche nicht nur körperlichen Torturen diese Heilung ihr zumutet. Torturen, die Urban, so vermutet sie, nicht auf sich nehmen wollte. Susan Sontag hat einmal in einem wunderbar präzisen Essay erklärt, weshalb es ihr zum Hals heraushängt, wenn Schriftsteller „Krankheit als Metapher“ für politische Probleme verwenden: Die Krankheit werde auf diese Weise literarisch dämonisiert und – was schwerer wiegt – das politische Problem oft simplifiziert. Denn anders als gesundheitliche Krisen lassen sich die Krisen der Gesellschaft meist nicht auf eine Hand voll Erreger zurückführen, die sich mit einer Hand voll Pillen therapieren lassen. Christa Wolfs Erzählung kann man diesen Vorwurf wohl alles in allem nicht machen, da sie die Krankheit ihrer Hauptfigur nicht als Metapher benutzt, sondern als konkretes, psychosomatisches Symptom. In manchen Punkten allerdings nimmt die Krankengeschichte dennoch spürbar metaphorische Züge an: So, wenn die Kranke wieder und wieder angesichts des Unheils in ihrem Körper über das Unheil in der Welt spekuliert. Wenn die grotesken wirtschaftlichen Missstände in den letzten Jahren der DDR wie eine Krankheit zum Tode des Landes wirken. Oder wenn die Heldin von dem Wunsch der Ärzte berichtet, „bis zur Wurzel des Übels vorzudringen, zum Eiterherd, dorthin, wo der glühende Kern der Wahrheit mit dem Kern der Lüge zusammenfällt“. Ist es übertrieben, hier in „Wahrheit“ und „Lüge“ auch politische – allerdings recht grobschlächtige politische – Begriffe zu sehen? Auffällig auch, dass die Patientin mehrfach ihren gesundheitlichen „Zusammenbruch“ begrübelt, der sich wenige Jahre von dem politischen Zusammenbruch der DDR vollzieht. Dies muss als bewusste Anspielung Christa Wolfs verstanden werden, auf jenen gesundheitlichen „Zusammenbruch“, den ihre Heldin in „Kindheitsmuster“ kurz vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches durchlebte. Am deutlichsten wird die Tendenz zu einer literarisch drapierten, simplifizierenden Geschichtsphilosophie, in den Fieberfantasien der Kranken: Während sie sich unter psychosomatischen Qualen von ihren lang gehätschelten sozialistischen Zukunftsträumen verabschiedet, wird sie von Erinnerungen an die Leiden der Gequälten und Gefolterten quer durch alle Jahrhunderte heimgesucht.

Der Abschied von den sozialistischen Hoffnungen zieht gleichsam den Verlust jeder politischen Hoffnung nach sich: „Es muss doch einen geheimen Sinn haben, dass alle Arten von Menschenopfern mir vorgeführt werden sollen. Oder hat es den Sinn, mich endlich, nach all den Jahren, Jahrzehnten der Selbsttäuschung, von der durchdringenden Sinnlosigkeit allen Geschehens zu überzeugen?“ Gegen solche Bilder eines an Heiner Müllers theatralische Blutorgien erinnernden Geschichtspessimismus setzt Christa Wolf einige wenige Szenen privaten Glücks: Die Liebe einer „Tante Lisbeth“ zu einem jüdischen „Doktor Leitner“ während der Nazi-Jahre – die sie schon in „Kindheitsmuster“ beschäftigte – dient als ein Symbol der Menschlichkeit in unmenschlicher Umwelt. Zumindest in Teilen ihres neuen Buches bleibt Christa Wolf also jene erzählende Idealistin, die sie im Grunde immer gewesen ist. Das hat manchem ihrer Romane, vor allem jenen, die sie mit mythologischem Personal bevölkerte, einen mechanischen, fast schon lehrstückhaften Zug verliehen. Die Gleichnisse in diesen Büchern gingen zu gut auf, als dass die Figuren ein Leben hätten entwickeln können, das aus ihnen mehr als bloße Funktionsträger der Handlung gemacht hätte. „Leibhaftig“ ist dort besonders gelungen, wo die Autorin alles gleichnishafte oder metaphorische vermeidet und sich ganz der konkreten Situation ihrer Heldin widmet. Mit welcher Einfühlungskraft sie dann die Situation eines kranken Menschen einzufangen versteht, gehört zu den beeindruckendsten literarischen Leistungen Christa Wolfs überhaupt. Sie zeigt, wie ein Mensch mit dem Verlust der Gesundheit gleichsam in eine Parallelwelt hinüberwechselt, wie ihm die alltägliche Ordnung, die ihm zuvor so viel bedeutete, mit einem Mal völlig gleichgültig wird, wie er aus allen Zeitrhythmen fällt, wie in seinem Kopf Fantasien, Träume, unscharf wahrgenommene Realität und dumpfes Dösen zu einem Brei vermengen, in dem er sich – so absurd das klingt – geborgen fühlt wie in einem Kokon. Christa Wolf, der es oft nicht ganz leicht fällt, Außenwelt sinnlich und anschaulich in ihrer Prosa einzufangen, hat offenbar eine besondere Gabe, psychische Innenwelten zu schildern. Sie erreicht hier über weite Strecken ihres neuen Buches eine große erzählerische Dichte, die sich bezeichnenderweise verliert, sobald die Patientin ihre Krankheit hinter sich lässt und wieder in die Welt der Gesunden eintaucht. Prompt verliert sich die zuvor suggestive Sprachkraft und geht in papiernes Pathos über. „Darf ich Sie etwas fragen, Herr Professor?“, wendet sich die Geheilte an ihren behandelnden Arzt, „Sie lieben das Leben?“ Er antwortet unerschrocken: „Ja“. Gleichwohl ist „Leibhaftig“ das vermutlich persönlichste und gewiss beste Buch von Christa Wolf seit langem. Es ist ein Spiel mit Motiven, die sie seit Jahrzehnten beschäftigen, und die sie, gerade wenn sie darauf verzichtet, ihre Geschichte zu einer Art Welttheater, Weltanschauungstheater aufzubauschen, mit großer Souveränität zu handhaben versteht.

Christa Wolf: „Leibhaftig“. Erzählung Luchterhand Verlag, München 2002. 185 Seiten, 18,00 Euro

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