Er war als kleiner Junge ein Nervenbündel, ein Stotterer, reagierte nur noch auf Sirenen, Bomben und den Wunsch nach Essen: Vor sieben Jahren hat der 1935 geborene und in Düsseldorf aufgewachsene Schriftsteller Dieter Forte in seinem Roman „Der Junge mit den blutigen Schuhen“ eines der wenigen literarischen Werke über die Leiden der deutschen Zivilbevölkerung während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg geschrieben. In seinem Buch „Schweigen oder sprechen“ (S.Fischer, Frankfurt/M. 89 S., 10 E) kommt er jetzt noch einmal auf das Thema zurück. Uwe Wittstock sprach mit Forte über Literatur und Luftkrieg.
Uwe Wittstock: Bei Kriegsende waren Sie zehn Jahre alt. Sie gehörten keiner der von den Nazis verfolgten Minderheit an. Waren Sie ein Opfer des Nationalsozialismus?
Dieter Forte: Eigentlich ja. Ja. Ich habe das damals nicht so begriffen. Auch Imre Kertész, der als 15-Jähriger aus dem KZ befreit wurde, hat davon erzählt, wie wenig er begriffen hatte von der Gewalt, die ihn töten wollte. Die Qualen, die man als Zehnjähriger erlebt, nimmt man als willkürliche Folge von Schrecken wahr, die grundlos niederprasseln. Später lernt man dann, was und wer die Terrormaschine in Gang gesetzt hat, die den einen als Kind ins KZ bringt und den anderen dem Hagel der Bomben aussetzt. Wittstock: Sie waren als Kind nicht für den Krieg verantwortlich. Dennoch haben Sie im Krieg gelitten wie die Erwachsenen. Forte: Ja, das ist heute schwierig zu vermitteln. Natürlich haben damals viele Deutsche gewusst, dass der Krieg ein deutsches Verbrechen war. Auch wenn Rundfunk und Zeitungen zensiert wurden, hat man doch begriffen, was direkt vor den eigenen Augen geschah. Es gab KZ-Außenlager mitten in der Stadt, im Düsseldorfer Volksgarten. Die KZ-Häftlinge wurden nach den Luftangriffen eingesetzt, um uns aus den einstürzenden Kellern zu holen. Wir waren diesen Menschen natürlich dankbar. Wir spürten sofort, dass da ein Unrecht mit ihnen geschah, und dass wir als Deutsche dafür würden büßen müssen. Das war Thema in den Luftschutzkellern, wenn wir auf die Bomben warteten. Aber wir waren zugleich Opfer und erbittert über die Taktik der Bombardements. Wittstock: Inwiefern?
Forte: Heute weiß man, das der britische Luftwaffengeneral Arthur Harris, Bomber-Harris genannt, angeordnet hatte, vor allem die Arbeiterviertel der Städte zu bombardieren. Nicht die Fabriken. Das haben wir natürlich gemerkt, meine Familie war eine Arbeiterfamilie und lebte in einem Arbeiterviertel. Wir waren wütend, wenn wir nach den Luftangriffen aus den Kellern der verwüsteten Straßen stiegen und sahen, dass die Fabriken, in denen Panzer und Geschütze gebaut wurden, unversehrt geblieben waren. Sie blieben es bis zum Schluss, und die Maschinen wurden nach dem Kriegsende demontiert und nach Russland oder Jugoslawien geschickt. Wittstock: Warum wurden die Fabriken nicht bombardiert?
Forte: Das hätten wir damals auch gern gewusst. Die besten Viertel der Stadt, wo die meisten Nazi-Größen lebten, wurde ebenfalls nicht bombardiert. Die Angriffe sollten, heißt es heute, die Arbeiter zum Aufstand gegen die Nazis treiben. Doch das war psychologisch falsch gedacht. Wenn man Menschen in die Steinzeit zurückbombt, denken sie nicht an Aufstände, sondern nur ans pure Überleben. Steinzeit – das ist wörtlich zu verstehen: Es gab kein Wasser mehr, kein Essen, keine Heizung, wir lebten in Höhlen unter der Erde, zerlumpt, dreckig und schutzlos gegen die Angriffe, die über uns hereinbrachen.
Wittstock: Warum wurde nach dem Ende des Kriegs so wenig über die Luftangriffe geschrieben?
Forte: Das kann ich letztlich nicht beantworten. Ich kann nur vermuten, dass der Bombenkrieg gegen Deutschland zunächst zu einem Tabu-Thema wurde, denn das größere Unrecht während dieses Kriegs war die Ermordung der Juden in den KZs. Das Wissen um diese Verbrechen und das entsprechende Bewusstsein der Schuld musste man erst verbreiten, bevor man über anderes reden konnte.
DIE WELT: Es gibt nur wenige Bücher, die den Schrecken des Luftkrieges zu vergegenwärtigen versuchen: Gert Ledigs „Vergeltung“, Hans Erich Nossacks Beschreibung des Luftangriffs auf Hamburg.
Forte: Ledigs Buch ist sehr gut. Aber diese Autoren und Bücher haben damals keine große Rolle gespielt. Ledig wurde sehr früh regelrecht weggedrückt aus dem literarischen Leben.
Wittstock: Kann man die Erlebnisse während eines Bombenangriffs überhaupt beschreiben?
Forte: Im Grunde natürlich nicht. Genauso wenig wie man das Inferno eines KZ beschreiben kann. Ich habe versucht, mich schreibend dem anzunähern, was ich da als Kind in den Kellern unterm Bombenhagel erlebt habe. Die Sprache trägt und hilft da sehr, das war für mich als Schriftstellers eine große Erfahrung. Aber was immer man schreibt, es bleibt nur eine Annäherung an den wirklichen Schrecken. Das ungeheuerliche körperliche Grauen, dem man nicht nur einmal, sondern über Jahre ausgesetzt war, kann man letztlich nicht schildern. Ich war als Kind ein Nervenbündel, ein Stotterer. Ich reagierte nur noch auf Sirenen, Bomben, den Wunsch nach Essen. Man führt kein menschliches Leben mehr, man folgt archaischen Reflexen. Ich kann Ihnen zeigen, an welcher Stelle ich im Manuskript meine Erinnerung an Luftangriffe abgebrochen habe, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, weil ich krank wurde darüber und der Notarzt kommen musste.
Wittstock: Die entsprechende Szene in ihrem Roman „Der Junge mit den blutigen Schuhen“ ist apokalyptisch und erschütternd für den Leser. Forte: Die Luftschutzräume waren damals ja keine Bunker, sondern Ziegelkeller, abgestützt mit Balken. Man sitzt mit Menschen auf engstem Raum, Menschen die schreien, die Todesangst haben, die irrationale Dinge tun, plötzlich mitten im Angriff raus wollen, aber Gott sei Dank hält ein anderer die Gasschutztür zu. Man hört die Bomben, gewaltige Explosionen, die sich rasend schnell rhythmisch nähern, die Erde bebt, die Wände zittern, Staub beginnt zu rieseln, ein weißer Schleier legt sich über alles, das Licht flackert, erlischt. Es kracht rein, ohrenbetäubend. Hat die Explosion das Nachbarhaus zerrissen? Trifft die nächste Bombe uns? Oder trifft sie das Haus neben uns? Kaum ist diese Bombenwelle vorbei, nähert sich die nächste rhythmisch, werden die Explosionen lauter, rasen auf einen zu.
Wittstock: Wie haben Sie damals reagiert?
Forte: Oft apathisch. Es ist nicht gut für ein Kind, wenn es so genau erfährt, jetzt, in den nächsten Sekunde kannst du tot sein. Oder wenn es raus kommt aus den Kellern und sieht verbrannte Menschen, zerstückelte Menschen, oder – ganz schlimm – verbrühte Menschen. Denn das Wasser, mit dem die Feuerwehr löschte, wird durch Brände solchen Ausmaßes zum Kochen gebracht. Also fanden sich in den Kellern, wo das Wasser sich sammelte, aufgebrühte Körper, Menschen, die bei lebendigem Leibe gekocht worden waren. Deshalb hat die Feuerwehr manchmal nicht einmal mehr gelöscht, sondern hat einfach alles brennen lassen. Für ein Kind war das schrecklich, denn das Kind glaubt an die Feuerwehr, und die Feuerwehrleute saßen da, schauten in die Flammen und konnten nichts tun.
Wittstock: Welches Ausmaß hatte ein solcher Angriff?
Forte: Es gab 243 Bombenangriffe allein auf Düsseldorf. Bei einem Angriff zu Pfingsten kamen 1000 Bomber. Zu Anfang fielen die Sprengbomben, um die Hausdächer zu öffnen. Dann über 200.000 Brand- und Phosphorbomben. Danach noch einmal Sprengbomben, um die Rettungsmannschaften zu treffen. Am Schluss brannte die Stadt in einer Länge von acht Kilometern und einer Breite von fünf Kilometern. Ich war damals sieben, acht, neun Jahre alt. Ich bin dann krank geworden, und es gab natürlich keine ärztliche Behandlung, keine Medikamente, wir lebten ja, nachdem alles verbrannt war, in einer Steinwüste.
Wittstock: Wie leben Menschen in einer solchen Situation weiter?
Forte: Nur mit ihren klassischen Überlebensreflexen. Ich habe meine Mutter nie so stark gesehen wie in dieser Zeit. Sie war voll konzentriert auf den einen Punkt, mich zu retten und vielleicht auch sich selbst, aber auf jeden Fall mich. Sie ging durch Feuer, durch Mauerdurchbrüche, sie schaffte es, Essen zu organisieren. Es ging nur ums Überleben, daneben war nichts mehr, was an Zivilisation erinnerte.
Wittstock: Im Chaos bietet nur die Familie Schutz?
Forte: Ja, die Familienbindungen waren ganz stark. Vor allem zwischen Müttern und Kindern. Die Väter waren ja in den Armee. Die Frauen hielten zusammen, es gab zerlumpte Frauen-Banden, die beschafften und teilten, was zum Überleben notwendig war.
Wittstock: Günter Grass erzählt in seinem Buch „Im Krebsgang“ vom Tod der deutschen Flüchtlinge auf der „Gustloff“. Wie kommt es, dass die Leiden deutscher Zivilisten im Krieg jetzt zum literarischen Thema werden?
Forte: Das ist natürlich kein Zufall. Heute haben wir die letzte Gelegenheit mit Menschen, die dabei waren, über diese Themen zu reden. Das gleiche gilt für Imre Kertész – ich finde es wunderbar, dass er jetzt den Nobelpreis bekommen hat. Die Generation, die in jungen Jahren die Schrecken des Krieges erlebt hat, versucht gegen Ende ihres Lebens ihre Erinnerungen und Albträume zur Sprache zu bringen, um ihre Erfahrungen weiterzugeben.
Wittstock: Kann das gelingen?
Forte: Wenn man sich Mühe gibt, schon. Ich war vor kurzem in der Abiturklasse einer Schweizer Schule, die meinen Roman durchgearbeitet hatte. Zu Anfang hielten die Schüler das meiste, was ich beschrieben hatte, für Erfindung. Am Ende unserer Gespräche wurden sie ganz still, weil sie begriffen, dass ich das alles wirklich erlebt hatte, vor wenigen Jahrzehnten nur und nur wenige Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Diese Jugendlichen fühlen sich in meinen Erinnerungen so verloren wie ich in den seit Jahrhunderten unveränderten Städten der Schweiz. Als im Fernsehen die Bilder von Grosny zu sehen waren, das die Russen dem Erdboden gleichgemacht haben, fühlte ich mich sofort zu Hause. So sehen für mich die wahren Städte aus: Trümmerlandschaften. Die schönen Fassaden von heute sind nur Täuschung. Sie werden nicht lange halten. Wittstock: Schon während des Krieges war das Inferno des Luftkriegs für die nicht unmittelbar beteiligten Menschen unbegreifbar.
Forte: Meine Mutter und ich wurden aus dem zerstörten Düsseldorf aufs Land nach Süddeutschland geschickt, wo es keine Bombardierungen gab. Man glaubte uns dort einfach nicht, aus welcher Not wir geflohen war. Man hielt uns für Schmarotzer, die zu faul zum Arbeiten waren, und so behandelten man uns auch. Martin Walser beschreibt in „Der springende Brunnen“ die Evakuierten als schäbige, selbstsüchtige Menschen – was ich ihm sehr übel nehme. Die Bauern kannten die Steinwüsten der Städte nicht, sie glaubten nicht, was wir erzählten, nannten die Frauen „Bombenweiber“ und behandelten uns so lange schlecht, ja verweigerten den hungernden Kindern das Essen, bis die Frauen wieder in die zerstörten Städte zurückgingen, zurück unter den Bombenhagel, in dem sie zu Hause waren. Kein Wort davon hat Martin Walser beschrieben, wahrscheinlich hat er bis heute nicht begriffen, was damals geschehen ist