Wolfgang Hilbig erhält den Büchnerpreis
Wolfgang Hilbig mit dem Georg-Büchner-Preis auszuzeichnen, ist eine Entscheidung im Geist der literarischen Moderne. Wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor der Gegenwart steht der 1941 in dem kleinen sächsischen Städtchen Meuselwitz bei Leipzig geborene Hilbig mit seinem Werk im Zeichen der inzwischen klassisch gewordenen modernen Literatur. Besonders seine Prosaarbeiten errichten eine Welt eigenen Rechts, die wenig Rücksicht auf die traditionelle realistische Erzählmodelle nimmt, sondern mit beeindruckender Intensität und hoher Sprachkraft Randbereiche der alltäglichen Wahrnehmung auszuleuchten und die Grenzen zu neuen Wahrnehmungsformen zu überschreiten versucht. Die Welt, so lautet einer der zentralen Grundsätze Hilbigs, ist nicht so, wie sie nach den üblichen „realistischen“ Übereinkünften zu sein scheint. Eine Literatur, die sich an diesen Übereinkünften orientiert, kommt ihm deshalb vor – schreibt er in seinem programmatischen Essay „Über den Tonfall“ – wie „eine vollkommen zweitrangige, wenn nicht gar drittrangige Sache. Wenn wir bedenken, dass die Realität dem, was das Universum sein muss, relativ aufgesetzt ist, sehr relativ, und weiter, dass die Sprache ein dieser Realität aufgesetztes Mittel ist“, dann wäre, was durch die Hinwendung eines Autors zu dieser Realität entstünde, weit entfernt von all dem, was man unter Authentizität versteht. Mit einem solchen Literaturverständnis machte sich der in der DDR aufgewachsene Hilbig unter den auf den sozialistischen Realismus eingeschworenen Kulturfunktionären seines Landes naturgemäß keine Freunde. Jahrzehntelang wurden ihm fast alle Publikationsmöglichkeiten vorenthalten. Erst Ende der 70er Jahre, als sich der große oppositionelle DDR-Schriftsteller Franz Fühmann in einem fulminanten Essay öffentlich für ihn einsetzte, begannen sich die Verhältnisse für Hilbig allmählich zu ändern. 1979 erschien sein erster Gedichtband „Abwesenheit“ in der Bundesrepublik, bald gefolgt von weiteren Lyrik- und Prosaarbeiten. Rasch eroberte sich Hilbig, der als Sohn einer Bergarbeiterfamilie in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen war, zumal unter den Connaisseuren der literarischen Avantgarde einen hervorragenden Namen. Mit seinen Kurzromanen „Die Weiber“ (1987) und „Alte Abdeckerei“ (1991), mit der umfangreichen Prosaarbeit „Ich“ (1993) und zahlreichen Sammlungen kurzer Prosa entfaltete Hilbig ein ureigenes, zutiefst originelles literarisches Universum. Es ist der sehr persönliche, dunkle Rhythmus seiner Sprache, der die Leser wieder und wieder gefangen nimmt. Seine Prosa verwandelte die zerfallenden Industriestädten der DDR und die vom Braunkohletagebau geschundenen Landschaften Sachsens zu Orten des endgültigen apokalyptischen Zerfalls und Niedergangs. Wenn man manche seine Geschichten heute wieder liest – vor allem in „Die Weiber“ und „Alte Abdeckerei“ -, wirken sie wie literarische Vorboten der totalen politischen Niederlage des realen Sozialismus, geschrieben zu einer Zeit, als noch kein politischer Beobachter die plötzliche Implosion des Ostblocks vorhersah. 1985 übersiedelte Wolfgang Hilbig, ausgestattet zunächst noch mit einem Visum der DDR-Behörden, nach Westdeutschland. Die ersten Jahre und ersten persönlichen Krisen in der neuen Umwelt schilderte er – in entsprechender literarische Überhöhung – in seinem jüngsten Roman „Das Provisorium“ von 2000. Es ist ein Buch des Abschieds geworden, des Abschieds nicht allein von dem Staat, dem er damals den Rücken kehrte, sondern letztlich von allen existenziellen Gewissheiten und scheinbar unverrückbaren Fundamenten. Jegliche Ordnung oder auch nur Ordnungsvorstellung wird seit je in seiner Prosa unterminiert. Hilbigs Einfallsreichtum kannte niemals Grenzen, wenn es darum ging, allgemein Vertrautes ins Zwielicht zu rücken und scheinbar Verlässliches verdächtig zu machen. Wie sollte Hilbig da die politische Situation Ende der achtziger Jahre, als mit dem Ostblock die DDR gleichsam über Nacht von der politischen Bildfläche verschwand, nicht faszinieren. Zugleich aber hat Wolfgang Hilbig unter der Unbehaustheit, die sein unstetes Leben zwischen den beiden deutschen Staaten, aber auch zwischen seiner kleinbürgerlichen Herkunft und dem intellektuellen Milieu des Literaturbetriebs mit sich brachte, oft gelitten. Als Autor einer Welt, in der sich alle konkreten Konturen ins Vage, Schimärenhafte verlieren, hat er für sich selbst immer nur einen festen, verlässlichen Zufluchtsort gekannt: die Literatur. Dass ihm nun für seine Arbeit die höchste Anerkennung zuteil wurde, die unser Land zu vergeben hat, den inzwischen mit 40 000 Euro dotierten, nach dem Dramatiker Georg Büchner benannten Literaturpreis der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, möge ihm nicht nur Anerkennung sein, sondern auch einen Moment der Geborgenheit gewähren.