„Wer es besser machen kann, soll es tun. Dies ist ein freies Land“

„Wer es besser machen kann, soll es tun. Dies ist ein freies Land“

Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki über seinen Kanon „Deutsche Literatur“
Uwe Wittstock: Ihr Kanon soll, wenn er fertig ist, fünf gewichtige Buchkassetten umfassen: Die 20 Bände des Roman-Kanon sind im vergangenen Jahr erschienen, jetzt kommen in 10 Bänden die Erzählungen. Dramen, Gedichte und Essays sollen folgen. Wie lange haben Sie an der Zusammenstellung dieses Großprojekts gearbeitet?
Marcel Reich-Ranicki: Rund siebzig Jahre. Ich sage das ohne Koketterie. Vor siebzig Jahren war ich dreizehn Jahre alt und fing an, Literatur zu lesen, vor allem deutsche. Damals war ich bei der Frage, was ich lesen sollte, angewiesen auf Ratschläge. Zwei Institutionen waren da für mich besonders wichtig: Das Theater und der Deutschunterricht. An den Berliner Theatern durften damals viele zeitgenössische Autoren nicht gespielt werden, weil die Nationalsozialisten sie verboten hatten. Also wurden vor allem die deutschen Klassiker gespielt, was zu meiner Bildung erheblich beitrug. In der Schule war es ähnlich, jedenfalls bin ich bis heute dem Deutschunterricht sehr dankbar. Doch ein Kanon hat mir damals mit dreizehn Jahren gefehlt. Er hätte mir in meiner Lesewut, meiner Leselust eine Orientierung sein können.
Wittstock: Richten Sie sich also mit Ihrem Kanon vor allem an junge Leser, denen noch die literarische Orientierung fehlt?
Reich-Ranicki: Dies ist ein Kanon für Leser, aber nicht nur für junge. Sondern für alle, die sich orientieren wollen über deutsche Literatur. Es würde mich natürlich freuen, wenn auch Fachleute von diesem Kanon profitieren könnten. Ich habe mich bemüht, ein wenig aufzuräumen, also Autoren, die von Generation zu Generation in Anthologien und Literaturgeschichten mitgeschleppt wurden, wegzulassen, wenn mir ihre Werke als überlebt erscheinen – und so Platz zu schaffen für neuere Literatur.
Wittstock: Sie wurden von vielen Kritiker-Kollegen öffentlich gescholten, weil Sie beim Roman-Kanon so viele berühmte Namen weggelassen haben.
Reich-Ranicki: Der Roman-Kanon ist der schwächste Teil dieses fünfteiligen Unternehmens. Und zwar weil auch der Roman-Kanon in eine Buchkassette passen sollte. Deshalb mussten wir den Umfang auf 20 Bände beschränken, die Kassette wiegt über acht Kilo und ist entsprechend teuer. Liebend gern hätte ich einen Roman-Kanon mit 25, mit 30 oder gar 50 Bänden zusammengestellt. Aber welcher Leser könnte den noch bezahlen, und wie soll er ihn aus der Buchhandlung nach Hause tragen? Ich musste mich auf 20 Bände beschränken und bin mir bewusst, dass es wichtige Romane gibt, die ich nicht aufnehmen konnte.
Wittstock: Im Vergleich dazu macht Ihr Erzählungs-Kanon jetzt einen deutlich breiteren Eindruck. Hier findet sich für fast jeden Geschmack irgendetwas, Kurzgeschichten, aber auch große Erzählungen im Umfang von über 100 Seiten, Märchen, Anekdoten. Sogar Prosa von Peter Handke, Christa Wolf und Martin Walser, die sonst nicht zu ihren Lieblingen zählen. Haben Sie denn gar keine Lust mehr, sich mit ihren Gegnern herumzustreiten?
Reich-Ranicki: Ich habe in den Erzählungs-Kanon alles aufgenommen, was mir literarisch gut und sinnvoll erschien, und von dem ich glaube, dass es viele Menschen lesen sollten. Ob meinen Gegnern das gefällt oder nicht, ist mir gleichgültig. Wissen Sie, in Wien sind die meisten Bewohner der Stadt, darunter viele Taxichauffeure, davon überzeugt, sie könnten die Staatsoper besser leiten als der jeweils amtierende Intendant. Wenn einer meiner Gegner meint, er könne einen besseren Kanon zusammenstellen als ich, dann soll er es tun. Bitte. Ich habe keine Einwände. Dies ist ein freies Land. Wittstock: Wie unterscheiden Sie zwischen Roman und Erzählung? Reich-Ranicki: Die einzige Romandefinition, die mich überzeugt stammt von dem Engländer E.M. Forster: Ein Roman ist ein erzählendes Werk mit mehr als 200 Seiten.
Wittstock: Nach dieser Definition müssten Robert Musils „Törless“ und Max Frischs „Montauk“ im Erzählungs-Kanon erscheinen. Sie sind aber im Roman-Kanon.
Reich-Ranicki: Das ist nicht ganz richtig. Abgesehen davon, dass es in jeder Regel Ausnahmen geben darf, umfassen beide Bücher in den Einzelausgaben beinahe 200 Seiten und haben eher Romancharakter. Zudem wollte ich keinen Roman-Kanon machen ohne Musil, aber sein „Mann ohne Eigenschaften“ kam nicht in Frage. Wittstock: Warum? Reich-Ranicki: Ich habe in meinem Buch „Sieben Wegbereiter“ nachzuweisen versucht, dass der „Mann ohne Eigenschaften“ missraten und letztlich unlesbar ist. Wittstock: Mit den beiden ersten Kassetten liegt jetzt der gesamte Prosa-Teil ihres Kanons vor. Zugegeben, sie betonen, ihre Auswahl sei subjektiv. Aber wenn ein Kritiker von ihrem Format einen Kanon zusammenstellt, beansprucht der automatisch Autorität. Und Sie präsentieren nun einen zusammen dreißigbändigen Prosa-Kanon ohne eine Zeile von Ernst Jünger, von Hermann Broch oder auch Carl Spitteler, Literaturnobel-preisträger von 1919. Reich-Ranicki: Zunächst einmal, der Nobelpreis ist kein Qualitätsmaßstab. Ich habe auch keinen Text von Paul Heyse aufgenommen, der den Nobelpreis 1910 erhielt. Weil beide Autoren, Spitteler und Heyse, überlebt sind, ihre Prosa ist mittlerweile einfach zu schwach für den Kanon. Dann: Ernst Jünger. Ich bin ehrlich gesagt nicht einmal auf die Idee gekommen, ihn für den Kanon in Betracht zu ziehen. Ich habe einmal, vor langer Zeit, eine Erzählung von ihm in eine meiner Anthologien aufgenommen – sie war von mittlerer Qualität. Einen bedeutenden Roman von Jünger sehe ich nicht. Ich glaube, dass er seine Wirkung vor allem seiner Persönlichkeit zu verdanken hatte, nicht seiner Prosa. Thomas Mann hat ihn 1945 unübertrefflich charakterisiert: Er sei „ein Wegbereiter und eiskalter Genüssling des Barbarismus“. Jüngers Werk ist mir fremd.
Wittstock: Und Hermann Broch?
Reich-Ranicki: Er wurde überschätzt und ist jetzt überlebt. Wittstock: Außerordentlich viele Geschichten im Kanon stammen auch den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren. Stand damals die deutsche Erzählung in besonderer Blüte, oder lieben Sie diese Zeit besonders, weil Sie in jenen Jahren zum Großkritiker aufstiegen? Reich-Ranicki: In der Epoche, von der Sie sprechen, hatten die meisten deutschen Schriftsteller größte Schwierigkeiten, mit der Romanform die Gegenwart zu bewältigen. In der kürzeren Erzählung haben sie dagegen nur kleine Ausschnitte der Gegenwart geschildert, und das ist ihnen viel besser gelungen. Deshalb sind die Erzählungen dieser Zeit besser als die meisten Romane. Wo die Welt schwer zu begreifen ist, liegt der Rückzug auf die kleine Form nahe.
Wittstock: Die letzte von Ihnen aufgenommene Geschichte ist von Christoph Ransmayr und stammt aus dem Jahr 1985. Das ist fast 20 Jahre her. Ist seither im deutschen Sprachraum keine gute Erzählung mehr geschrieben worden, oder interessiert sie die zeitgenössische Literatur nicht.
Reich-Ranicki: Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, ich habe mit dem Gedanken gespielt, als Schlussstück des Kanons eine Geschichte von Judith Hermann aufzunehmen. Ich schätze ihre Erzählungen sehr, sie sind erst vor wenigen Jahren erschienen. Ich glaube, sie wird noch bessere, reifere Prosa in ihrem Leben schreiben. Deshalb, denke ich, wäre es wohl verfrüht, sie mit ihren ersten Geschichten in den Kanon aufzunehmen.

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