Das Beispiel Sartre

Ist es die Aufgabe von Schriftstellern, Partei zu ergreifen?  

Schon vor Monaten (2002) hatte sich der weitblickende Kanzler Günter Grass, Christa Wolf, Moritz Rinke und manch andere poetische Seele in seinen Amtssitz eingeladen. Mit Peter Schneider und Hans Christoph Buch hatte er sogar auf offener Bühne diskutiert. Doch trotz solcher jovialer Annäherungsgesten hielten sich die meisten Schriftsteller und Intellektuellen während des nun verebbenden Wahlkampfs zurück. Einige wenige glaubten, sich eine Wortmeldung schuldig zu sein. Grass und Peter Rühmkorf, Jürgen Flimm und Volker Schlöndorff warfen sich für Gerhard Schröder in die Bresche. Edmund Stoiber konnte dagegen nur Reiner Kunze und Hans Clarin für sich ins Feld führen. Bei Kanzlerkandidat Guido Westerwelle reichte es gerade mal bis zu Wolfgang Joop und Wigald Boning, deren Zugehörigkeit zur geistigen Elite des Landes ein gut gehütetes Geheimnis genannt werden darf. Wenn man Wahlkämpfe an ihrem Intellektuellengehalt messen wollte wie Wein am Öchslegehalt, dann ist der Jahrgang 2002 nicht der Rede wert. Und das ist auch gut so. Für den politischen Bedeutungsverlust der Dichter und Denker in liberalen, pluralistischen Gesellschaften gibt es so viele gute Gründe, dass es schwer fällt, ihn zu beklagen. Das fein austarierte demokratische System der checks and balances, die Vielfalt der publizierten Meinungen, der immer dichter werdende Dschungel hochspezialisierter Fachkenntnisse macht die einst honorige Haltung des Intellektuellen, der dem Herrscherklüngel sein „J’accuse!“ entgegenschleudert, immer fragwürdiger. Wer sie trotzdem einnimmt, läuft Gefahr, sein Porträt auf Plakatwänden wiederzufinden, die grobschlächtig behaupten, ein „Ruck“ müsse durchs Land gehen, damit sich schlagartig alles zum Besseren wende. Seit sich unsere Welt in ein selbst steuerndes, gordisch verschlungenes Netzwerk verwandelt, werden sich Politiker und Intellektuelle zumindest in einem Punkt immer ähnlicher: Sie wirken wie Kinder auf dem Karussell, die aufgeregt an den Lenkrädern ihrer bunten Wagen drehen und doch im Kreise fahren. Je weniger sich das gesellschaftliche Ganze von einer Zentralinstanz aus lenken oder von einer übergeordneten geistigen Position aus durchschauen lässt, desto anmaßender wirkt der Politiker, der so tut, als würde er mit Arbeitslosigkeit, Bildungsmisere, Irak oder Umweltkatastrophen im Alleingang fertig, und desto anmaßender der Intellektuelle, der den Anschein erweckt, er könne die Welt mit wenigen Federstrichen in eine übersichtliche Ordnung bringen. Was nicht heißen soll, es ließe sich aus dem, was früher einmal intellektuelles oder künstlerisches Engagement genannt wurde, heute kein Vorteil mehr schlagen. Längst sind Wahlkämpfe große Show-Events geworden, die sich niemand, der gern prominent sein möchte, als Vehikel zur Erhaltung seines Bekanntheitsgrades entgehen lässt. Wenn Edmund Stoiber jüngst Unterstützung durch Roberto Blanco erhielt („Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“), dann spielten dabei nicht nur die politischen Überzeugungen des Sängers eine Rolle, sondern auch sein Bedürfnis ständig in allen Klatsch- und sonstigen Spalten vertreten zu sein. Die alte Strategie der publizistischen Intervention oder öffentlichen Parteinahme, durch die Intellektuelle seit Voltaire und Zola korrigierend in den politischen Betrieb einzugreifen versuchten, hat sich abgenutzt. Sie ist Teil dieses Betriebs geworden. Am zynischsten hat das jüngst Martin Walser demonstriert. Sein Roman „Tod eines Kritikers“ sollte eine Abrechnung mit der Medienmacht Marcel Reich-Ranickis sein. Doch die stört jenseits des Literaturbetriebs kaum jemanden, im Gegenteil, der größte Teil des Publikums freut sich an ihr. Indem Walser aber in seinem Buch lustvoll den Mord an einem Holocaust-Überlebenden imaginierte, provozierte er eine Debatte über angeblich ungerechtfertigte Tabus bzw. eine gerechtfertigte „Rücksichtnahme auf historisch begründete Verletzbarkeiten“ ehemals verfolgter Juden (Jürgen Habermas). Wodurch der von den Kritikern fast einhellig als grottenschlecht bezeichnete Roman gleichwohl die Bestsellerlisten erklomm und Walser nun zufrieden auf 200 000 verkaufte Exemplare zurückblicken kann. Das scheinbar gegen ein überlebtes Tabu gerichtete literarische Engagement war hier nicht mehr Mittel der Aufklärung, sondern preisgünstiger Motor einer Werbekampagne. So wirkt die ehrwürdige Figur des dauerempörten Literaten heute einigermaßen desavouiert. Niemand sollte sich wundern, wenn Schriftsteller immer weniger Bereitschaft zeigen, in diese Rolle zu schlüpfen, nur weil es der Wahlkampf-Kalender verlangt. Die Möglichkeiten, Grenzen und Absurditäten solchen gesellschaftskritischen Engagements lassen sich beispielhaft am Werk Jean-Paul Sartres ablesen, des paradigmatischen westlichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, dem Bernard-Henri Lévy jetzt ein enorm materialreiches, enorm urteilssicheres, aber auch enorm redseliges Buch gewidmet hat (Hanser Verlag, 35 E). Zu den großen Rätseln in Sartres Leben gehört, dass er, der als Philosoph der Freiheit begann, zwischen 1952 und 1956 zu einem fast ungehemmten Parteigänger des Stalinismus und danach zu einem Weggefährten manch tendenziell totalitärer linksradikaler Protestbewegung wurde. Lévy zeigt, was in unseren heutigen theorieskeptischen Zeiten nur noch schwer nachzuvollziehen ist: Dass Sartre nämlich unter dem Bann seiner Hegel-Lektüre mehr und mehr zum Anhänger eines strengen Systemdenkens wurde. Zu Anfang verstand er unter dem Begriff „engagierte Literatur“ die Verpflichtung des Schriftstellers, am Zeitgeschehen teilzunehmen und es in seinem Werk zu spiegeln. Später aber betrachtete er „Engagement“ als Synonym für „Parteilichkeit“ im Sinne der KP oder maoistischer Studentengruppen – und war bereit, für diese Parteitreue sein Werk partiell aufzugeben. 1952 ging er so weit, alle künftigen Aufführungen seines frühen antikommunistisches Stück „Die schmutzigen Hände“ von der Zustimmung der Kommunistischen Partei abhängig zu machen. Gerade 50 Jahre ist das her, und doch erscheint uns ein solches intellektuelles Selbstopfer heute unvorstellbar. Erklärbar wird es durch das, was uns seither so gründlich abhanden gekommen ist: Das Gefühl, in einem geistigen Kontinuum aufgehoben zu sein, aus dem heraus sich Weltlage wie Weltgeschichte schlüssig deuten und einordnen lassen. Der späte Sartre glaubte tatsächlich, so führt Lévy vor, dass sich die Vernunft im hegelianisch-marxistischen Sinne in der Geschichte selbst verwirkliche und warf alles über Bord, was sich dieser Idee nicht fügte, einschließlich erheblicher Teile des eigenen Oeuvres. Größer kann die Distanz zur gegenwärtigen Bewusstseinslage zeitgenössischer Schriftsteller kaum sein. Nicht in eine monolithische Ordnung der Vernunft fühlen sich die meisten heute eingebunden, sondern vielmehr einer postmoderner Vielfalt ausgeliefert, die keineswegs immer vernünftig ist. Jonathan Franzen zum Beispiel, der zurzeit mit seinem bewundernswerten Roman „Die Korrekturen“ Furore macht, zweifelte lange – wie er in einem Essay schreibt – ob sozialkritische Literatur heute überhaupt noch möglich ist: Zu erdrückend schien ihm die Konkurrenz der „prosperierenden Massenunterhaltung“ und zu zersplittert die amerikanische Gesellschaft, in der sich die „schwarzen, hispanischen, asiatischen, schwulen und feministischen“ Gemeinschaften immer mehr absondern. Steht ein Autor angesichts dieser sozialen und kulturellen Desintegration nicht von vorn herein auf verlorenem Posten? An wen soll er sich wenden, wer hört ihn überhaupt noch? Auch wenn Franzen diese Fragen ziemlich pathetisch formuliert, darf man sie nicht zu ernst nehmen. Denn natürlich wusste man zu keiner Zeit, ob und wie Literatur tatsächlich auf ihr Publikum wirkt. So ehrenwert Franzens Absicht ist, „mit einem kulturkritischen Roman in die Kultur eingreifen“ zu wollen, so naiv ist seine Vorstellung, seine „kulturelle Mission verfehlt“ zu haben, wenn seine Arbeit nur ein anständiges Honorar, Rezensionen und ein wenig Medienrummel nach sich zieht. Denn natürlich kann und darf eine demokratische, auf Mehrheitsbildung zielende Gesellschaft angesichts der Kritik eines einzelnen – und sei es eines einzelnen Schriftstellers – gar nicht anders reagieren als mit Toleranz, Honorar und ein wenig Medienrummel. Dass der einsame Kritiker, wenn er überzeugt, mit der Zeit einen sehr indirekten, schwer berechenbaren Einfluss auf Mehrheitsbildungen gewinnen kann, steht auf einem anderen Blatt. Die Zeiten sind, kurz gesagt, nicht nach großen Wahlkampfauftritten der kritischen Intelligenz. Die Ära Sartres, in der ein engagierter Denker glaubte, gleichsam globale Zuständigkeit für sich beanspruchen zu können, ist vorbei – und man darf, nebenbei gesagt, ganz froh sein, dass Sartre tatsächliche politische Verantwortung nicht trug. Was bleibt, sind eher begrenzte Scharmützel geschichtspolitischer Art: Die Walser-Bubis-Debatte, der Streit um die Wehrmachtsausstellung oder um das Mahnmahl für die ermordeten Juden Europas: Vergangenheitslastige Themen, denen sich vornehmlich ältere Autoren schier unermüdlich widmen. Auch wenn die Bedeutung dieser Themen für die politische Moral unseres Landes nicht zu unterschätzen ist, muss man akzeptieren, dass sich Autoren einer jüngere Generation an solchen Diskussionen nur mit gebremstem Eifer beteiligen – Krieg, Nationalsozialismus oder Judenverfolgung gehören nicht zu ihrem Erfahrungsschatz, und Schriftsteller tun immer gut daran, den ureigenen Erfahrungsfeldern treu zu bleiben. Wenn junge Autoren aber, wie Michael Kleeberg (s. WELT v. 11.6.), solche Debatten als „Radau“ abtun, „mit dem eine Generation, die sich überlebt hat, abtritt“, offenbaren sie einen erstaunlichen Mangel an historischen Bewusstsein und einen schlecht kaschierten Brotneid auf die Älteren. Schriftsteller sind, nüchtern betrachtet, Fachleute der unvoreingenommenen Wahrnehmung und des Festhaltens dieser Wahrnehmungen auf dem Papier. Wenn sie also in politischen Fragen einen spezifischen, nur ihnen möglichen Beitrag leisten wollen, dann besteht der sicher nicht darin, durch ihre bescheidene Prominenz Wahlkämpfern zu ein wenig Glanz zu verhelfen. Das kann jeder Filmstar, Schlagersänger oder Sportprofi besser. Die besondere politische Funktion von Schriftstellern und auch Intellektuellen kann es nur sein, Erfahrungen (und Gedanken) zu sammeln und zu formulieren, die quer liegen zu den festgefahrenen Frontlinien der Parteien. Nicht um das systematische Entfalten der immergleichen Gesinnungen sollte es Autoren heute gehen, sondern um das Aufspüren der vielen gebrochenen, unreinen Wahrheiten, die noch nicht zu den Gemeinplätzen des politischen Meinungskampfes geworden sind. Dass sie sich dazu gelegentlich von ihrem Schreibtisch wegbequemen und dem seltsam‘ Ding aussetzen müssen, das man Leben nennt, liegt auf der Hand. Der Schriftsteller als Reporter, der der Welt jenseits der ideologischen Raster nachspürt, ist in der angelsächsischen Literatur eine traditionsreiche Figur. Die Anzeichen mehren sich, dass sie auch hier zu Lande heimisch wird. Ilija Trojanows Bücher über Afrika oder Indien etwa, Juli Zehs wunderbarer Wegweiser durch Bosnien („Die Stille ist ein Geräusch“) oder Hans Christoph Buchs atemraubende Berichte über Völkermorde auf drei verschiedenen Kontinenten („Blut im Schuh“) sind politisch weit erkenntnis- und lehrreicher als alle Autorenkommentare zum jüngsten Wahlkampf zusammen. Besser geschrieben sind sie außerdem.

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