„Die Bücher und das Paradies“

Umberto Ecos Essays

Vermutlich wäre Umberto Eco vor Urzeiten, als die Menschen noch mit Holzspeeren bewaffnet durch Italiens Wälder streiften, zum Medizinmann seines Stammes gewählt worden. Der hätte sich allabendlich beim Lagerfeuer um Ecos massige, vollbärtige Gestalt versammelt, um seinen Geschichten oder seinen Geschichten über Geschichten zu lauschen. Denn Eco beherrscht die erstaunliche Kunst, aus schlichten Worten lebendige Welten zu erschaffen. Und das gelingt ihm nicht nur in seinen Romanen, sondern ebenso in seinen Essays, also seinen Geschichten über Geschichten, von denen jetzt eine gute Handvoll in „Die Bücher und das Paradies“ hier zu Lande erschienen sind. Als großer Erzähler und Denker der Postmoderne spinnt er fort an seinen Überlegungen zur Intertextualität. Jedes Buch ist für ihn eingebunden in ein uferloses Netz der Anspielungen auf andere Bücher und jedes neue Buch webt an diesem Netz fort. Literatur entsteht so immer auch als Reaktion auf schon vorhandene literarische Werke – selbst wenn ein Autor sie nur indirekt wahrnimmt über das kulturelle Kontinuum, in dem er lebt. Bücher, so bringt Eco es ins Bild, stehen nicht still in den Regalen der Bibliotheken. Nein, sie wispern und flüstern miteinander, und wirklich verstanden hat man ein Buch erst, wenn man all seine Gespräche mit sämtlichen anderen Büchern belauscht hat – also nie. Aus diesem Zusammenwirken zwischen den Texten der Weltliteratur entfaltet sich, so der konsequent antimetaphysisch argumentierende Eco, auf diese Weise eine überzeitliche, endlose, doch strikt diesseitige Welt: „Intertextuelle Ironie liefert säkularisierten Lesern, die keinen spirituellen Sinn mehr im Text suchen, einen intertextuellen Höhersinn… – wobei es keine andere Verheißung gibt als das fortwährende Gemurmel der Intertextualität. Intertextuelle Ironie setzt einen absoluten Immanentismus voraus. Sie liefert denjenigen Offenbarungen, die den Sinn für die Transzendenz verloren haben.“ Das Herausragende an Ecos Argumentationen ist sein Geschick, durch und durch traditionelle ästhetische Überlegungen nahtlos mit avantgardistischen Thesen zu verknüpfen. Er ist ein hingebungsvoller Leser modernistischer Autoren wie Joyce oder Gérard de Nerval und widmet ihren Werken kluge und detailkundige Untersuchungen. Zugleich aber dürfte es nicht leicht sein, weltweit einen zweiten ebenso wortmächtigen, umfassend gebildeten und gewieften Verteidiger der aristotelischen Poetik zu finden wie Eco. Fabel, Plot und Katharsis spielen in seinen literarischen Überlegungen zentrale Rollen: „Jedenfalls ist das Erzählen und das Erzählern Zuhören eine biologische Grundfunktion. Man entzieht sich nicht leicht der Faszination einer guten Intrige im Reinzustand. Joyce ignoriert vielleicht die Regel der attischen Tragödie, aber nicht die aristotelische Idee des Erzählens. Er stellt sie höchstens in Frage, aber er respektiert sie.“ In dieser Hinsicht verwischen sich für Eco die Grenzen zwischen literarischen Genres. Die kathartische Wirkung der Literatur, also die „Reinigung der Leidenschaften“, ist in seinen Augen – anders als bei Aristoteles – nicht auf die Tragödie beschränkt, sondern in allen künstlerischen Ausdrucksformen möglich, denen es darum geht, Handlung darzustellen: In Filmen wie John Fords „Stagecoach“ ebenso wie in Comics, in der Reportage ebenso wie im Roman. Wichtig ist für ihn, mit welcher Perfektion es den Autoren gelingt, die Katharsis zu erzeugen. Ihr gilt Ecos ganze Aufmerksamkeit als Kritiker und seine Sorgfalt als Romancier. Wie es im abgelaufenen Jahrhundert dazu kommen konnte, dass der Plot in der literarischen Ästhetik über lange Zeit verpönt war, dass „die Literatur sich weigerte, uns spannende Handlungen zu liefern“, dem geht Eco in diesem Buch nicht nach. Kein Zweifel, dass er auch zu dieser Frage Entschiedenes beizutragen hätte, doch will er die Spröde der klassischen Moderne nicht ausspielen gegen sein traditionsorientiertes, barockes Verständnis von Postmoderne. Umberto Eco ist ein Mann der Sinnlichkeit wie des analytischen Scharfblicks. Er entdeckt literarische Schönheit ebenso in manchen überaus ambitionierten Werken der Hochkultur wie in dem einen oder anderen Produkt der Unterhaltungsindustrie. Also überlässt er den Stellungskrieg zwischen beiden Lagern gern anderen und konzentriert sich stattdessen auf seine Arbeit am nächsten Roman, „dessen Zweck ja darin bestehen soll“, resümiert er, „dem Leser das Vergnügen der Erzählung zu liefern.“

Umberto Eco: „Die Bücher und das Paradies“
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber Hanser Verlag, München 2003 341 S., 23,50 €

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Auch ein Roman muss das wahre Leben spiegeln dürfen

In München steht heute Maxim Billers Roman „Esra“ vor Gericht – und damit die Freiheit der Literatur

Es steht viel auf dem Spiel. Heute hat das Münchner Oberlandesgericht über die Freiheit der Literatur zu urteilen. Verhandelt wird gegen Maxim Billers Roman „Esra“. Zwei Klägerinnen werfen dem Autor vor, ihre Privatsphäre zu verletzen, da er ihrer Meinung nach zwei Figuren des Buches zu deutlich nach ihren Vorbildern geformt habe. Der Roman erzählt die Liebsgeschichte zwischen dem jungen Schriftsteller Adam und der Titelheldin Esra. Im März erwirkten die Klägerinnen eine Einstweilige Verfügung, das Buch darf seither nicht ausgeliefert werden. Im April wurde diese Verfügung vom Landgericht in München bestätigt. Der Autor und sein Verlag haben sich daraufhin trotz finanzieller Risiken entschlossen, in Berufung zu gehen. Glücklicherweise, muss man hinzufügen, denn hier ist mehr in Gefahr als ein einzelnes Buch. Die Freiheit der Literatur ist auch die Freiheit ihrer Leser. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Wenn das erste Urteil gegen Billers Roman künftig Bestand haben sollte, werden die Möglichkeiten der Schriftsteller, zeitgenössische Erfahrungen zu schildern, erheblich eingeschränkt. Eine Literatur, die von der gesellschaftlichen Realität im Hier und Jetzt berichtet, wird dann nur noch unter Vorbehalt geschrieben werden können. Unter dem Vorbehalt, dass sich niemand findet, der behauptet, anhand bestimmter äußerer Ähnlichkeiten die eigene Person im jeweiligen Buch wieder zu erkennen – und der an dieser Darstellung Anstoß nimmt. Auf der Hand liegt, dass der Literatur damit unsinnige, skandalöse Grenzen gezogen würden. Denn schließlich geht es bei Literatur nicht zuletzt darum, Menschen und Milieus erkennbar zu machen und Anstoß zu erregen. Juristisch müsste die Sache im Grunde ganz klar sein. Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes stellt lakonisch fest: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. Dennoch ist, wie Joachim Kersten, einer der renommiertesten Urheberrechts-Anwälte des Landes resümiert, „die Geschichte der Kunstfreiheit in Deutschland eine Geschichte ihrer fortwährenden Einschränkung“. Was für den Fall Biller wenig Gutes ahnen lässt. So apodiktisch das Grundgesetz die Kunstfreiheit verkündet, so emsig sind Gerichte damit beschäftigt, sie in Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht auszuhebeln. Der berühmteste bundesdeutsche Prozess dieser Art ging zurück auf die Klage des Adoptivsohns von Gustaf Gründgens gegen Klaus Manns Roman „Mephisto“. Das Verfahren beschäftigte von 1964 an acht Jahre lang Gerichte und Öffentlichkeit. Es endete mit einer klaren Niederlage des Buches vor dem Bundesgerichtshof. Der sah in „Mephisto“ einen Schlüsselroman, der in ehrverletzender Weise Gründgens Karriere in Hitlers Deutschland nachzeichne. Für heftige Emotionen sorgte das Urteil nicht zuletzt deshalb, weil es den Emigranten Klaus Mann, der vor den Nazis hatte fliehen müssen, daran hinderte darzustellen, wie sich ein im Roman Hendrik Höfgen genannter Künstler an das Regime der Nazis anbiederte. Wenn das Buch heute dennoch in einer Millionenauflage vorliegt, ist das dem Mut der Rowohlt Verlages zu danken. Der setzte sich 1980 kurzerhand über das Publikationsverbot hinweg, und nur weil kein Erbe von Gründgens erneut Einspruch erhob, blieb dem Roman ein weiteres Verfahren erspart. Ein für die Literatur ermutigendes Urteil fällte der Bundesgerichtshof 1982. Friedrich Christian Delius, der sich damals noch F.C. nannte, hatte eine polemische „Moritat auf Helmut Hortens Angst und Ende“ geschrieben, in der er dem Kaufhaus-Unternehmer Horten Angst „vor Konkurrenz, vor seinesgleichen, vorm Schuft“ unterstellte und vermutete, „von ihm bezahlte Politiker“ schwitzten „über Gesetzen,/ die ihm genehm sind und seine Gegner zerfetzen“. Horten mochte das nicht auf sich sitzen lassen, konnte sich aber mit seiner Klage nicht durchsetzen, da die Moritat nach Meinung der Richter einem Autor gewisse satirische Freiheiten und Formulierungen gestatten. Erst kürzlich jedoch, im Jahr 2000, wurde an einem Essener Landgericht das Buch „Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag“ von Birgit Kempker verboten, weil sie darin ihren Bettpartner beim Namen nannte. Zwar bescheinigten vier literaturwissenschaftliche Gutachter dem „litaneihaften“, „forciert artifiziellen“ Poem vor Gericht, seinen überdeutlich fiktionalen Charakter: Es sei „in keiner Phase auf Erkennbarkeit“ bestimmter Personen hin angelegt. Dennoch gestand der Richter dem Kläger, nur weil sein Name in dem Gedicht erscheint, das Recht zu, das Buch einstampfen zu lassen. Leider hatten weder die Autorin noch ihr Verlag das Geld, den Rechtsstreit durch den Instanzenweg weiterzuverfolgen und mussten das Bändchen tatsächlich der Papiermühle überantworten. De facto ist es also hier zu Lande nicht weit her mit der Kunstfreiheit. Zumindest sind Richter zugunsten des Persönlichkeitsschutzes mit Verboten schnell bei der Hand. Und dies obwohl der Bundesgerichtshof anlässlich des Falles Delius ausdrücklich festgehalten hat, „dass Charakter und Stellenwert des beanstandeten Textes als Aussage der Kunst das Verständnis von ihm im sozialen Wirkungsbereich zu beeinflussen vermögen.“ Jenseits des juristischen Jargons enthält dieser Satz die schlichte Erkenntnis, dass Literatur als Literatur gelesen wird, nicht als Tatsachenbericht. Für den Fall Biller bedeutet das konkret: Da Biller „Esra“ einen Roman nennt und nicht eine Reportage, signalisiert er seinen Lesern von Anfang an, dass die handelnden Figuren seiner Fantasie entstammen, selbst wenn sie bestimmte Lebensdaten mit existierenden Personen teilen. Natürlich wäre alles einfacher, wenn Biller jede Parallele zur Realität vermieden hätte. Doch kann es schlechterdings nicht die Aufgabe von Literatur sein, Bezüge zur Realität um jeden Preis auszusparen. Im Gegenteil, solche Bezüge sind nicht nur wünschenswert, sondern unvermeidlich: Jeder Schriftsteller greift bei seiner Arbeit bewusst oder unbewusst auf seine Erfahrungen zurück. Will man ihm das verbieten, oder es mit Rücksicht auf andere Menschen, die Teil dieser Erfahrungen sind, reglementieren, entzieht man der Literatur ihre Geschäftsgrundlage.

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Der Universalkönner

Der Universalkönner Zum Tode von Volker Kriegel

Eine seiner schönsten Zeichnungen zeigt ein Bierzelt samt begeistert „Bravo!“ brüllendem Publikum. Auf der Bühne stehen ein Trompeter und ein Musiker an der Tuba mit Lederhosen, Gamsbarthüten und Maßkrügen. Der Trompeter ruft ins Mikrophon: „Danke! Danke sehr! Vielen Dank. Wir spielen jetzt als Nächstes ein Stück von unserem Pianisten Theo Adorno. Es trägt den schönen Titel „Geliebt wirst du nur dort, wo du schwach sein kannst, ohne Stärke zu provozieren‘ oder jedenfalls so ähnlich! Danke! Danke sehr! Prost!“ Der Cartoon bringt einige der vielen Facetten Volker Kriegels ins Bild: Studiert hatte er Soziologie in Frankfurt, der Stadt Adornos, und dessen Jazz-Allergie war ihm kein Geheimnis, als Musiker kannte er den coolen Ton der Jazzkeller-Ansagen nur zu genau, und als Zeichner wusste er, welche komischen Funken sich schlagen ließen, wenn er diesen Ton in die Atmosphäre eines bayerischen Bierzelts verpflanzte. Kriegel war ein Könner in vielen Disziplinen und als Jazz-Rock-Gitarrist, Zeichner und Autor komischer Texte zählte er zu den Besten des Landes. Jetzt ist er im Alter von 59 Jahren nach kurzer Krankheit in Spanien gestorben. Was immer er tat, er tat es mit der Leidenschaft für handwerkliche Sorgfalt. Er war kein Freund des genialisch Hingehuschten, sondern des genial Gekonnten. Mit 13 Jahren brachte er sich Gitarrespielen bei, gewann seinen ersten Jazzwettbewerb, und nachdem er, wie F.W. Bernstein einmal schrieb, „einige Male den Jazzkeller in Frankfurt geschwänzt hatte, um sich in der Schule herumzutreiben“, zählte er bald mit seinen Gruppen „Spektrum“ und „Mild Maniac Orchestra“ und als Mitbegründer des „United Jazz & Rock Ensemble“ zu den unbestrittenen Größen der Szene. Ebenfalls schon als Schüler veröffentlichte er erste Cartoons. Auch hier bevorzugte er die klare, prägnante Linie, huschte seine Figuren und Pointen nicht hin, sondern kitzelte mit exakter Federführung noch den letzten, köstlichen Rest von Komik aus den Bildern hervor. Seiner sarkastischen „Hundekunde“ (1986) wurde die für deutsche Cartoons seltene Ehre zuteil, auch in England und Frankreich verlegt und geliebt zu werden. Lange hat Kriegel zudem das graphische Gesicht des Zürcher Haffmans-Verlags mitbestimmt, hat Buch-Cover für Julian Barnes, David Lodge und Gustave Flaubert geschaffen und Charles Dickens‘ „Weihnachtsmärchen“ (1994) neu übersetzt und hinreißend illustriert. In den letzten Jahren pflegte er mehr und mehr seine zeichnerischen Talente. Seine Bildergeschichten wurden gern als Kinderbücher betrachtet. Sicher ist, dass sie Einsichten zu Leben und Kunst enthalten, die für erwachsene Leser oft einfach zu schwierig sind, Kindern aber sofort einleuchten

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„Doppelleben“

 Tim Parks’ lebenskluger Roman über Liebe, Verrat und gemischte Gefühle

Tim Parks ist ein Virtuose des literarischen Familienstreits. Wenn Eheleute einander betrügen, wenn Kinder gegen ihre Eltern intrigieren, wenn Geschwister sich mit unerschöpflicher Eifersucht verfolgen, steigert er sich zu erzählerischer Meisterschaft. Je schmerzhafter seine Helden ihre engsten Angehörigen verletzen, desto mitreißender werden seine Romane. Die Familie, das ist bei ihm ein Schlachtfeld, auf der das Herzblut aller Beteiligten in Strömen fließt. Verwundet, gedemütigt, rachsüchtig belauern sich die Kontrahenten, ohne je voneinander lassen zu könnten, denn sie sind zugleich in ausweglose Zuneigung aneinander gefesselt. Die Welt des Tim Parks wird regiert von Freuds unbehaglicher These, dass es keine reinen, unvermischten Gefühle gibt, sondern das jeder großen Liebe heimlich auch eine Portion Hass beigemengt ist und sich in jedem Hass immer auch ein wenig Liebe verbirgt. Daniel Savage hat die Nase voll von all dem. Er ist ein farbiger Rechtsanwalt im besten Mannesalter, lebt in einer britischen Kleinstadt und war seine Frau Hilary seit Beginn ihrer Ehe nie treu. An über zwanzig Affären erinnert er sich. Doch nun hat man ihn, den schwarzen Adoptivsohn einer weißen Offiziersfamilie, zum Richter ernannt. Künftig also ganz der Integrität und Wahrheitsfindung verpflichtet, verspürt er wachsenden Überdruss an seinem Doppelleben und will es endgültig hinter sich lassen. Nur ein einziges Mal hat ihn Hilary bei einem Seitensprung erwischt, doch diese Ehekrise ist mittlerweile ausgestanden und so kaufen sich die beiden ein prächtiges Haus, in dem ihr Leben und das ihrer Kinder in ruhigen, geordneten Bahnen verlaufen soll: „Endlich herrscht Klarheit“, trägt er triumphierend in sein Tagebuch ein, „Die Zeit der Metamorphosen ist vorbei. Ich habe mich selbst gefunden“. Hat er natürlich nicht. Er täuscht sich gründlich, seine Zeit der Krisen und Katastrophen beginnt erst. In dieser Hinsicht ist der neue Roman „Doppelleben“ von Tim Parks überraschend überraschungslos. Was immer Savage beabsichtigt, es verwandelt sich ihm unter den Händen gradewegs und konsequent ins Gegenteil, das hat man als Leser bald begriffen. Er will Hilary das Gefühl geben, sich nunmehr blind auf ihn verlassen zu können, doch ungewollt liefert er ihr immer neuen Anlass zu immer tieferem Misstrauen. Er will seinen Kindern ein fürsorglicher Vater sein, und doch lässt er sich dazu hinreißen, seine Tochter zu schlagen und seinen Sohn zu vernachlässigen. Er will einer ehemaligen koreanischen Geliebten helfen, bringt sie aber in immer größere, schließlich tödliche Gefahr. „Ja, renn nur nachdem Glück“, heißt es bei Brecht, „Doch renne nicht zu sehr / Denn alle rennen nach dem Glück / Das Glück rennt hinterher.“ So übersichtlich und weitgehend absehbar Parks sein Buch im Großen konstruiert hat, so eigenwillig ist er im Detail vorgegangen. Er perfektioniert in „Doppelleben“ eine Schreibweise, die er in seinem erfolgreichen und viel gelobten Roman „Schicksal“ entwickelte. In den meisten Szenen verknüpft er gleich mehrere Reflektionsketten und Handlungslinien zopfartig zu einem ebenso kunstvollen wie komplexen Erzählstrang. Er sorgt so dafür, dass die unterschiedlichen Aspekte seiner Geschichte immer wieder aufs engste miteinander konfrontiert werden, um sich klug zu ergänzen oder ironisch zu brechen. Wenn schon das Leben des Richters Savage nicht in den wohlgeordneten, brav linearen Bahnen verläuft, die der ihm zugedacht hat, sondern plötzlich die absurdesten Wendungen nimmt, will Parks von diesem Leben offenbar auch nicht in wohlgeordneter, brav linearer Form erzählen. Doch es sind nicht allein familiäre Probleme, die Savage zu schaffen machen, auch beruflich entwickeln sich die Dinge mit einem Mal ganz unvorhergesehen. Als Anwalt ging es ihm früher immer nur darum, das bestmögliche Ergebnis für seine Mandanten zu erzielen. Als Richter fühlt er sich nun plötzlich verantwortlich für die weit schwierigere Suche nach der Wahrheit. Und Tim Parks teilt ihm zudem ein paar besonders schwer zu knackende Nüsse zu: Fälle, an denen seine Überzeugung, mit dem Mitteln der Justiz auch das Zusammenleben der Gesellschaft in wohlgeordnete Bahnen lenken zu können, schnell zuschanden wird. Ein von ihm geleiteter Prozess gegen ein Ehepaar indischer Herkunft ist schließlich sogar Anlass für gewalttätige Demonstrationen zwischen rassistischen Einheimischen und nicht minder rassistischen Einwanderern. Savage selbst wird übel zusammengeschlagen. Doch niemand weiß, aus welchen Gründen. Von weißen Fanatikern, weil er ein Schwarzer ist? Von farbigen Fanatikern, weil er ein Richter des verhassten britischen Staates ist? Oder, wie Savage vermutet, von der koreanischen Familie seiner Ex-Geliebten, die ihn von dem Mädchen fernhalten will? Es ist eine der großen Qualitäten des Romans, dass Parks diese und manche andere Ungewissheit nie ganz und gar aufklärt. Zieht sich Martin, Savages bester Freund, von ihm nach der Ernennung zum Richter zurück, weil er krank wird, oder weil er dem schwarzen Savage sein neues Amt nicht gönnt? Ist es Savages eigene Tochter, die ihm wegen seiner Seitensprünge religiös überhitzte Drohbriefe schreibt? Deckt ihn seine Frau in der Öffentlichkeit, weil sie ihn trotz seiner notorischen Untreue liebt, oder nur weil sie ihren sozialen Status als Richter-Gattin nicht verlieren will? Zu gern hätte Savage auf all diese Fragen klare Antworten, doch die sind in dieser Geschichte ebenso wenig zu haben wie die reinen, ungemischten Emotionen. Wer will, kann in dem Roman auch eine grobe Skizze der zeitgenössischen, multiethnischen Gesellschaft Englands sehen, gezeichnet aus der Perspektive eines wirtschaftlich saturierten, gelegentlich labilen, alles in allem aber verantwortungsbewussten Mannes. Savage muss begreifen, dass nicht nur er selbst, sondern das ganze Land eine Art Doppelleben führt. Seine Aufgabe als Richter ist es, allgemeingültigen Gesetzen Geltung zu verschaffen, aber die unterschiedlichen Milieus – sei es das seine koreanischen Freundin, das des indischen Paares, über das er zu Gericht sitzt, oder auch das seines homosexuellen Bruders – orientieren sich längst parallel dazu an eigenen moralischen Maßstäben. Loyalität wird unter diesen Umständen zu einer seltenen, immer schwierigeren, den Menschen oft überfordernden Tugend. Nicht zufällig, sondern aus der inneren Logik der Zeit heraus ist Loyalitätsbruch und Verrat, wie Margret Boveri schon vor Jahrzehnten diagnostizierte, zum Signum unserer Epoche geworden. Doch „Doppelleben“ ist kein politischer Roman. Die gesellschaftlichen Probleme Englands interessieren Parks letztlich nur in so weit, wie sie zu dem zunächst allmählichen, dann aber immer rapideren Verfall der Familie Savage beitragen. Bei der Schilderung dieses Abstiegs entfaltet er sein ganzes Können. Je entschiedener Richter Savage seine Existenz auf ein solides Fundament zu stellen versucht, desto sicherer steuert er ins Desaster. Zu Anfang schleichen sich er und seine Frau nachts über Baugruben und wackelige Bretter in ihr unfertiges Haus. Die beiden haben eine Steppdecke, Gläser und Champagner dabei und sie schlafen miteinander zwischen Farbtöpfen und Bauschutt, um ihren künftigen Besitz auf ihre Weise einzuweihen. Später dann, als das Haus fertig ist und jedes Möbelstück seinen perfekt kalkulierten Platz gefunden hat, ist zwischen den beiden von Liebe oder Sex nicht mehr die Rede. Nun sind sie längst vom Schutt ihres Ehekrieges umgeben, der nach und nach die ganze Familie unter sich begräbt. „Es gibt kein Leben ohne Doppelleben“, lautet der erste Satz und zugleich die Quintessenz des Romans. Es ist, so zeigt Tim Parks eindringlich, die Sehnsucht nach den reinen, den ungemischten Gefühlen, die den Weg in die Katastrophe ebnet. Weil Savage ein Richter von unangreifbarer Reputation sein will, bringt er sich an den Rand des beruflichen Untergangs. Weil er glaubt, seine Untreue vor seiner Frau bedingungslos verbergen, und weil seine Frau glaubt, ihren Mann zu bedingungsloser Treue verpflichten zu müssen, zerstören sie ihre Ehe. Wenn sich für sie am Ende des Buches trotz allem noch ein letzter Funken Hoffnung andeutet, dann nur, weil sie sich in der schwierigen Kunst üben, mit gemischten Gefühlen zu leben. Vielleicht ist gar nicht die Liebe das Wunder, das aus zwei Menschen ein Paar macht, sondern die Kraft, den Verrat zu verzeihen?

Tim Parks: „Doppelleben“. Roman
Verlag Antje Kunstmann, München 2003 440 Seiten, 24,90 €

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Das Leben, und wie man es verpasst

Anna Gavalda weiß, wie man durch Liebe rundum unglücklich wird

Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu: Chloé ist von ihrem Mann verlassen worden. Er hat Schluss gemacht, seine Koffer gepackt und ist mit einer anderen Frau in Urlaub gefahren. Nun sitzt Chloé zu Hause, allein mit ihren beiden kleinen Töchtern, und ihr bricht das Herz entzwei. Schließlich kann Pierre, ihr Schwiegervater, das Elend der jungen Frau nicht mehr mit ansehen, packt sie und die Kinder kurzerhand in den Wagen und fährt mit ihnen für ein paar Tage in das Wochenendhaus der Familie irgendwo in der französischen Provinz. Dort erweist sich Pierre, ein verschlossener, schroffer Firmenchef, als überraschend fürsorglich und gesprächig. Für eine schlechtere Schriftstellerin als die 32-jährige Französin Anna Gavalda wäre die Versuchung groß gewesen, aus dieser Exposition ein neues Produkt der hier zu Lande so beliebten frechen Frauenkolportage zurechtzuzimmern: Nachdem der Sohn mit einer Nebenbuhlerin durchgebrannt ist, blüht zwischen dem Oberhaupt der Familie und seiner schutzlosen Schwiegertochter eine triumphale Liebe auf, die den Patriarchen mit einem Mal in einen zartsinnigen Liebhaber verwandelt. Und wenn er nicht gestorben sind, so lebt der Kitsch noch heute. Anna Gavalda dagegen verzichtet darauf, den Charakteren ihrer Figuren um eines Happy Ends willen literarisch Gewalt anzutun. Bei ihr kann sich ein ergrauter Familiendiktator nicht mehr im Handumdrehen in einen Romantiker verwanden, er kann lediglich davon berichten, wie er zu dem abweisenden Griesgram wurde, der er ist. So verschränken sich in Anna Gavaldas fast ausschließlich in Dialogen gehaltenem Roman „Ich habe sie geliebt“ zwei unglückliche Liebes- und Lebensgeschichten: Aus Chloé bricht der Zorn heraus über ihren untreuen Mann – und sie macht kein Geheimnis daraus, dass sie den hartherzigen Schwiegervater für seinen hartherzigen Sohn verantwortlich macht. Pierre wiederum berichtet von dem Schicksal, treulich bei der Ehefrau geblieben zu sein, obwohl er sie nicht mehr liebte – und von der Hartherzigkeit, die er sich antrainieren musste, um diese Entscheidung durchzuhalten. Pierre war nämlich, gesteht er der verblüfften Chloé, als noch einigermaßen junger Mann in eine abenteuerlustige Übersetzerin verliebt. Die beiden hatten jahrelang ein ebenso inniges wie heftiges Verhältnis, doch Pierre hielt eisern an seiner Familie fest, bis seiner Freundin (vermutlich gerade von ihm schwanger) der Kragen platzte und sie jeden Kontakt mit ihm abbrach. Jahre später trifft er sie zufällig mit einem kleinen Sohn irgendwo in Paris und trauert nun doppelt: um ein verpasstes Leben mit einer geliebten Frau und um ein gelebtes Leben mit einer ungeliebten. Natürlich, nichts von alledem ist sonderlich originell, Geschichten wie diese gibt es zu Dutzenden. Auch sind die langen Dialoge dieses Buches eher solide als brillant. Doch die unvermittelte Direktheit, mit der Anna Gavalda die beiden Erfahrungen nebeneinander stellt, auf der einen Seite das Unglück der verlassenen Frau, auf der anderen das Unglück des Mannes, der blieb, macht ihren Roman trotz allem zu einer eindrucksvollen Lektüre. Es ist nicht zuletzt ihre schnörkellose Entschiedenheit, die für diese junge Schriftstellerin einnimmt. Mit ihrem ersten, im vergangenen Jahr erschienenen Erzählungsband „Ich wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet“ hatte sie in Frankreich und inzwischen auch bei uns erstaunliche Erfolge gefeiert. Ihr erster Roman „Ich habe sie geliebt“ stand in Paris lange auf den Bestsellerlisten. Anna Gavalda hat, was der oft akademisch und selbstverliebt wirkenden französischen Literatur nicht selten fehlt: Schwung, Temperament, Fabulierlust. Wie weit sie dieser Schwung noch tragen wird, ist naturgemäß nicht abzusehen. Im Moment sieht es so aus, als hätte Frankreich in Anna Gavalda neben dem finsteren, immer ein wenig schmuddeligen Literatur-Mode-Star Michel Houellebecq ein ernstes und doch helles, lebenszugewandtes Starlet bekommen.

Anna Gavalda: „Ich habe sie geliebt.“ Aus dem Französischen von Ina Kronenberger Hanser Verlag, München 2003 164 S., 16,90 Euro

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Fliehen in die Kunst

 Wilhelm Genazinos neues Buch ist ganz anders als seine früheren – und ein wahres Juwel
Weigand ist 17 Jahre alt, gerade von der Schule geflogen und auf dem besten Weg eine prächtige Neurose zu entwickeln. Immer deutlicher tritt ihm eine erschreckende Erkenntnis vor Augen: Er ist anders als die anderen Menschen, er ist allein. Seine Mutter zum Beispiel sorgt sich vor allem um seine berufliche Zukunft und will ihm eine Lehrstelle verschaffen, damit er Arbeit habe wie anderen Menschen auch. Weigand dagegen fürchtet sich weniger vor einem Leben ohne Arbeit als vielmehr vor dem Leben selbst. Wenn er etwa sieht, wie ein Lehrherr während eines Vorstellungsgesprächs aus einer Kakaoflasche trinkt, ekelt es ihn vor dieser banalen Geste und den braunen Schlieren an der Innenseite der Flasche derart, das er wie unter Zwang kein Wort mehr herausbekommt. Prompt wirkt er natürlich wie ein Tölpel, wie ein dumpfer Klotz, den niemand um sich haben möchte, schon gar nicht als Lehrling. Doch Weigand macht noch eine andere Entdeckung: Er kann die verabscheute Banalität der Welt besser ertragen, wenn er über sie schreibt, wenn er die Welt der Worte wie ein Filter, wie ein Puffer zwischen sich und die Zumutungen des Daseins schiebt. Dann lässt das Gefühl von Zwang nach. Er lebt dann nicht mehr in einer Realität allein, sondern kann vor der einen bequem in die andere ausweichen. Und plötzlich ist er kein dumpfer Klotz mehr, sondern führt eine geheimnisvolle Doppelexistenz, von der niemand etwas ahnt. Das alles ist literarisch nicht gerade Neuland. Romane über Jugendliche, die sich als Außenseiter empfinden und von der Schule fliegen, über angehende Neurotiker oder angehende Schriftsteller, die sich aus der Rohheit des Alltags in die Pracht der Sprache flüchten, gibt es zu Hunderten. Dennoch ist Wilhelm Genazinos Buch „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ ein wahres Juwel, und wohl das Beste, was Genazino je geschrieben hat: Ein gelungene Mischung aus ironisch funkelndem Künstlerroman, aus zarter, untergangsgeweihter Liebesgeschichte und aus einer suggestiven Vergegenwärtigung der frühen sechziger Jahre. Genazinos Werk war in der Vergangenheit nicht eben abwechslungsreich. Er hatte sich von seiner „Abschaffel“-Trilogie (1977-79) bis hin zu seinem jüngsten Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (2001) zu einem Spezialist für tagträumende Einzelgänger mit einer Vorliebe für Stadtwanderungen entwickelt. Doch anders als etwa die Flaneure Walter Benjamins oder Zygmunt Baumans, die genießerisch schwelgen in der metropolitanen Flut flüchtiger Begegnungen und Impressionen, litten die Figuren Genazinos unter dem „Grauen der Normalität“. Ihr Blick fiel regelmäßig auf die schäbigsten, die freudlosesten Details urbaner Gegenwart und färbte ihre Tage oft monochrom mausgrau ein. Da Genazino zudem darauf bestand, die Spannungskurven seiner Geschichten stets dicht an den Null-Linie zu halten, war die Lektüre seiner Bücher keineswegs ein Vergnügen für jedermann. Bei all dem war Genazino natürlich ein viel zu intelligenter Autor, um zu glauben, die Welt sei tatsächlich so trist, wie er sie schildert. Vielmehr ließ er mal mehr, mal weniger deutlich spüren, dass es seine Helden sind, die sich in eine miesepetrige Lebenshaltung hineinsteigern. Die Geist- und Geschmacklosigkeiten unserer Epoche animieren sie nicht zu kopfschüttelnder Heiterkeit, sondern zu grimmiger Verzweiflung. Sie entwickeln eine quälende Mixtur aus Überlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühlen, aus Verachtung und Selbstverachtung: Man kann große Teile von Genazinos Werk als die endlos kreisende Beschreibung der immer gleichen Neurose betrachten, die schon seinen ersten Helden Abschaffel in eine psychosomatische Klinik brachte. Genazinos neues, ungleich frischeres und beschwingteres Buch „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ schildert nicht mehr, aber auch nicht weniger als einen ersten, frühen Sieg über diese Neurose. Der junge Held Weigand wächst, wie so viele Helden Genazinos, bei einem verschlossenen Vater und einer offenbar depressionsgeplagten Mutter auf. Seine Fluchtversuche vor dieser niederdrückenden Kindheit führt ihn auf direktem Weg in die Literatur: Seine ersten Geschichten schreibt er zwar noch gänzlich naiv, sie lassen ihn aber doch schon etwas spüren von der wohltuenden, rettenden Distanz, die sich ein Autor durch die Beschreibung des Lebens vom Leben erkämpfen kann. Genazino erfindet in seinem Buch für diese psychische Selbstrettung eine ganz zwanglose, plausible Konstellation. Weigands Mutter hat für ihren Sohn schließlich doch noch eine Lehrstelle auftreiben können, die nun allerdings ihren sensiblen Sprössling mit allen Demütigungen und Absurditäten des Arbeitslebens konfrontiert. Zugleich aber kann sich Weigand als freier Mitarbeiter bei der Tageszeitung seiner Stadt durchsetzen. Damit hat er die Chance, sich schreibend zu einer gewissen Distanz über jenen Banalitäten des Alltages zu erheben, als deren hilfloses Opfer er sich sonst empfindet. Was seiner wunden Seele, wie Genazino behutsam und deshalb umso wirkungsvoller andeutet, köstliche Linderung verschafft. In seiner Rolle als Feierabend-Reporter lernt Weigand schließlich auch eine Kollegin namens Linda kennen, die wie er hochfliegenden schriftstellerischen Träumen nachhängt. Mit ihr verliert er sich in schwärmerische Gespräche über Kafka und Joseph Conrad, von ihr wird er in die ebenso schmalspurige wie amüsante Boheme der Stadt einführen, und mit ihr möchte er schon bald mehr als nur seine literarischen Leidenschaften teilen. Doch Genazino entfaltet hier nicht nur gekonnt in wenigen Szenen die komplexe Liebesgeschichte zweier Menschen, die beide aus der verachteten Wirklichkeit in die Kunst zu fliehen versuchen. Er führt anhand von Lindas Schicksal auch vor, wie gefährdet Hoffnungen sind, die in die eigene künstlerische Arbeit gesetzt werden und wie katastrophal sie scheitern können. Mit leichter Hand bettet Genazino diese Geschichte einer glückenden Selbstrettung und einer missglückenden Liebe ein in ein Porträt der späten Adenauer-Ära. Ganz wenige, aber stimmungsintensive Details genügen ihm, den einschneidenden historischen Abstand spürbar zu machen, der uns heute von jener Jahre kurz vor dem Beginn der Studentenbewegung trennt. Doch anders als Wilhelm Genazinos finstere Flaneure ergeht sich Weigand nicht demonstrativ im Leiden an seiner Zeit. Er entdeckt sie vielmehr mit einer kritischen Neugier, aber auch einer Begeisterungsfähigkeit, die wunderbar zu seiner Jugend passt.

Wilhelm Genazino: „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ Carl Hanser Verlag, München 2003 160 Seiten, 15,90 €

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Maxim Billers altmeisterlicher und doch ganz und gar zeitgenössischer Liebesroman „Esra“

Esra gehört zu den Frauen, in die man sich besser nicht verlieben sollte. Ihre Mutter ist herrschsüchtig wie Stalin, ihr Ex-Mann ein Kontroll-Freak und allgegenwärtig, ihre Karriere als Schauspielerin bereits frühzeitig verpfuscht und ihre kleine Tochter möglicherweise todkrank. Jeder einzelne dieser Schicksalsschläge kann einem Menschen die seelische Balance rauben. Alle vier zusammen haben Esra in ein Gefühlschaos ohne gleichen gestürzt. Das Zusammenleben mit ihr kann man nicht mehr als schwierig bezeichnen, es ist ein permanentes emotionales Katastrophenmanagement. Auch wer sich in Adam verliebt, braucht eine Menge Mut. Weiterlesen

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„Paradiese, Übersee“

 Felicitas Hoppes Roman lockt mit verborgenem Hintersinn

Felicitas Hoppe gehört zu den Schriftstellern, die traditionell erzählte Romane für eine überholte, ziemlich verstaubte Angelegenheit halten. „Die Zeit der Romane alter Ordnung ist, wie die Ordnung selbst, längst vorbei“, heißt es in einem ihrer Essays. Ihr neues, drittes Buch „Paradiese, Übersee“ trägt zwar dennoch den Untertitel Roman, hat aber mit der landläufigen Vorstellung, ein Roman schildere eine logisch nachvollziehbare, zusammenhängende Geschichte, wenig gemein. Ihr Buch zerfällt in drei Teile. Im ersten sind zwei „Ritter“ und „Pauschalist“ genannte Figuren zusammen mit einem dreihundertjährigen, gelegentlich sprechenden Hund auf der Suche nach einem Doktor Stoliczka. Halb Europa haben sie bereits ergebnislos durchkämmt und schiffen sich nun in Lissabon ein, um in Bombay und Kalkutta die Suche fortzusetzen. Weshalb gerade dort, weshalb meist zu Pferd und weshalb überhaupt, bleibt offen. Im zweiten Teil berichtet ein offenbar noch recht junger Ich-Erzähler von seinen wenig freudvollen Erfahrungen mit Bruder, Schwester, Eltern und Schule. Den größten Teil seiner Zeit verbringt er, wenn man den Ortsnamen trauen darf, in luxemburgischen Kleinstädten – doch auf einer dem Buch beigegebenen Karte werden diese Orte irgendwo zwischen Niederrhein und Elbe verzeichnet. Schließlich schiebt ihm seine Schwester einen Brief „zwischen Herz und Rippen“(!), in dem etwas steht, „was das Herz und die Rüstung eines Ritters erweichen kann.“ Der dritte Teil beginnt mit Aufzeichnungen des gesuchten Doktor Stoliczka, der sich mit einem unbekannten Mann und einem klapprigen Pferd offenbar auf der Überfahrt nach Indien befindet. Auch der luxemburgische Ich-Erzähler mit familiären Sorgen taucht wieder auf und wird „Kleiner Baedeker“ genannt. Auf der letzten Seite öffnet er den ihm anvertrauten Brief und liest „in der schwungvollen klaren Handschrift meiner Schwester die Worte: DER RITTER, DAS BIN ÜBRIGENS ICH.“ Das alles, die Figuren, ihre Reisen, Gedanken und Kostüme machen natürlich herzlich wenig Sinn und – so viel muss man Felicitas Hoppe zugute halten – sollen auch keinen Sinn machen. Die Autorin will keine klar konturierten Charakteren mit überzeugenden Motivationen beschreiben. Statt dessen konstruiert sie eine Art literarisches Vexierbild. Sie knüpft zwischen den verschiedenen Kapiteln und Ebenen ihres Buches ein unübersehbares Netz von Verweisen, Korrespondenzen und Anspielung, die immer wieder auf einen geheimen, tief verborgenen Hintersinn des kryptischen Textes zu verweisen scheinen – die Suche des Lesers nach diesem Sinn aber zuverlässig ins Leere laufen lassen. Eben dies, die Vergeblichkeit aller Bemühungen um Sinn, ist zugleich ein Leitmotiv des Buches. Immer wieder wird es durchgespielt: Die Verfolger von Doktor Stoliczka haben für ihre Suche nach ihm nur sehr unklare Gründe; ihre Reisen führen zu keinem konkreten Ziel; ihre Jagd auf ein Fabeltier namens Berbiolette bleibt selbstverständlich erfolglos; ihre Versuche, sich untereinander oder auch nur mit sich selbst durch Notizen über ihr Tun zu verständigen, kommen nie zu irgend einem greifbaren Ergebnis. Selbst wenn Felicitas Hoppe ihre sich ständig verwandelnden Figuren vorübergehend als Drachen tötende, Jungfrauen rettende Märchenhelden ausstaffiert, finden sie immer noch keinen Ausweg aus ihrem ungeheuer hochtourigen existenziellen Leerlauf: „Hier erkannte der Pauschalist, dass der andere, genau wie er selbst, das Ungeheuer niemals finden würde, weil sie allzu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, weil sie nicht die geringste Ahnung davon hatten, was es mit der Rettung von Jungfrauen auf sich hatte.“ Wer unbedingt möchte, kann dieses Buch deshalb mit genießerischem Zungenschnalzen als ein demonstrativ selbstreferentielles literarisches System bezeichnen, das mit der Vorstellung der Ziel- und Zwecklosigkeit allen menschlichen Tuns spielt. Man sollte dann allerdings nicht verschwiegen, dass es sich dabei um ein recht zähes, eintöniges Spiel handelt, dass es kaum einen Funken Witz entwickelt und fast jeglicher Sinnlichkeit entbehrt. Verschwiegen werden sollte überdies nicht, dass in jedem besseren – traditionell erzählten – Kriminalroman weitaus eindrucksvollere Bilder für die hoffnungslose Vergeblichkeit allen menschlichen Wünschens und Wollens zu finden sind, als in diesem so überaus anspruchsvoll gebauten Text. Die größte Überraschung dieses Buches ist allerdings seine Sprache. Felicitas Hoppe galt, seit sie 1996 mit ihrem Erzählungsband „Picknick der Friseure“ debütierte, als wortgewaltige Autorin. Zwar konnte man sich schon damals an einer gewissen Vagheit und Selbstverliebtheit ihre Geschichten und ihres ersten Romans „Pigafetta“ (1999) stoßen. Doch die Autorin verstand sich zweifellos auf eine originelle, anmutige Prosa. Keine Spur davon in „Paradiese, Übersee“: Die Sätze sind zumeist unscheinbar, flach, glanzlos und nicht selten stößt man auf gründlich abgenutzte, klischeehafte Wendungen. Gern würde man, wenn man das Buch zugeschlagen hat, von einem Scheitern auf hohem oder zumindest höherem Niveau sprechen. Doch das wäre geprahlt. Die Zahl vergleichbarer literarischer Experimente ist groß, und viele davon sind zu weit reizvolleren Ergebnissen gekommen. Vor den Hintergrund einer klassisch gewordenen Moderne wirkt Felicitas Hoppes Roman ebenso traditionell wie die von ihr abgelehnten traditionell erzählenden Romane. So erweist sich ihr Buch letztlich als ein Beleg für die alte These, dass viele deutsche Autoren ihrem blinden Glauben an die Avantgarde von gestern zum Opfer fallen: Ihre theoretische Ambition verführt sie zur literarischen Prätention.

Felicitas Hoppe: „Paradiese, Übersee“. Roman
Rowohlt Verlag. Reinbek 186 Seiten, 16,90 Euro.

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Terror in Zeitlupe

Jennifer Egan schreibt mit „Look at Me“ sehr bedächtig eine Flammenschrift an die Wand

Gibt es das: behäbige Sensationen? Wenn ja, dann ist Jennifer Egans Roman „Look at Me“ die behäbigste Sensation seit langem. Er zeugt von den hochgespannten literarischen Ambitionen dieser Erzählerin und von ihrem klugen, manchmal geradezu hellseherischen Blick auf das Amerika der Gegenwart samt seiner todesverliebten Feinde. Zugleich aber stellt dieses Buch die Geduld seiner Leser auf eine ernste Probe, denn obwohl über ungeheuer viele Figuren ungeheuer viel erzählt wird, geschieht im Grunde ungeheuer wenig. Jennifer Egans Lieblingstempo ist die Zeitlupe. Sie will alles ganz, ganz, ganz genau erklären, und so muss man, was man nach drei Seiten schon begriffen hat, sich auf dreißig Seiten Detail für Detail vorführen lassen. Wenn der Roman in Amerika dennoch wie ein beängstigendes Orakel aufgenommen und ausgedeutet wurde, so liegt das an einem historischen Zufall. „Look at Me“ erschien in den USA in Spätsommer 2001, also knapp vor den Anschlägen vom 11. September. Mit einer ihrer Romanfiguren, einem arabischen Einwanderer, der sich Aziz oder Z oder Michael West nennt, entwirft Jennifer Egan aber bereits hier das Porträt eines Schläfers, der nach Amerika gekommen ist, um ein großes terroristisches Attentat vorzubereiten. Ganz ausdrücklich beschäftigt sich Z mit den wenig eindrucksvollen Fernsehbildern, die der erste Angriff auf das World Trade Center 1993 lieferte: „Von den Tausenden, die dort arbeiteten, waren nur sieben ums Leben gekommen, eins davon ein ungeborenes Kind. Die strukturellen Schäden dagegen waren unterirdisch passiert. Mit anderen Worten, nichts zu sehen.“ Kein Wunder, wenn dieses Buch nach dem 11. September als eine Art Menetekel gelesen wurde: Menschen, die gerade eben das World Trade Center in einem Inferno aus Feuer, Staub und Asche haben einstürzen sehen, und die begriffen, mit welchen Zynismus diese Attacke fernsehgerecht inszeniert worden war, mussten in diesen Roman so etwas wie eine gespenstische Offenbarung sehen, so etwas wie eine Flammenschrift an der Wand. Für einige Wochen zählte „Look at Me“ zu den meistverkauften Büchern Amerikas und wurde für den National Book Award nominiert. Doch wäre es ein Missverständnis, das Buch als Roman über einen Schläfer oder als literarische Studie über die Wurzeln des Terrors zu betrachten. Es ist nicht leicht auf eine schlüssige Formel zu bringen. Mit einigem Stolz hat Jennifer Egan darauf hingewiesen, dass es nahezu unmöglich ist, den Plot ihres Romans in wenigen Sätzen nachzuerzählen. Die Handlung spielt simultan auf mehreren Ebenen und zieht sich über gut ein Jahr hin: Das nicht mehr ganz junge Fotomodell Charlotte hat einen schweren Autounfall hinter sich. Zahlreiche Operationen haben ihr Gesicht so sehr verändert, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben kann, ja dass sie von Freunden nicht mehr erkannt wird. Sie lebt in New York, war aber, als das Unglück geschah, auf dem Weg in ihre langweilige kleine Heimatstadt Rockford im Mittelwesten. Mit ihr im Wagen saß Z, den sie kurz zuvor kennen lernte und dessen Verschlossenheit sie fasziniert. Z kommt bei dem Unfall glimpflich davon, wechselt den Namen und taucht in Rockford unter. In Charlottes Geschichte klingen natürlich vor allem Fragen nach Identität und Image eines Menschen an. Ein Model ist in besonderem Maße von seinem Aussehen abhängig, von dem Bild, auf das es sich in der Öffentlichkeit reduzieren lässt. Allerdings macht Jennifer Egan aus diesem Teil des Romans eine etwas moralinsaure Erweckungsgeschichte: Der Unfall verschafft der total oberflächlichen und trunksüchtigen Charlotte die Chance, sich auf ihre wahre Persönlichkeit jenseits der schönen Bilder zu besinnen. Sie fängt ein neues, stilleres, reineres Leben an und verteidigt es schließlich gegen eine Internet-Firma, die sie wieder in die Öffentlichkeit zerren und ihr Schicksal als Rührstück weltweit vermarkten will. Ein anderer Teil des Romans breitet vor dem Leser das Kleinstadtleben in Rockford aus: Die Tochter einer Jugendfreundin Charlottes, ebenfalls Charlotte mit Namen, sammelt ihre ersten, naturgemäß schmerzlichen Liebeserfahrungen – ausgerechnet mit Z. Ihr Onkel wiederum leidet so sehr an der unüberwindlichen Resistenz der amerikanischen Gesellschaft gegen jede Form intellektueller Kritik, dass er – nachdem er vor Jahren selbst einmal mit dem Bombenlegen liebäugelte – immer tiefer in Depressionen versinkt. In einem dritten, recht schmalen Bereich des Buches wird schließlich Z’s Geschichte eher dunkel angedeutet als gründlich ausgeleuchtet. Er stammt aus einem arabischen Land, ist geprägt durch Elends- und Kriegserfahrungen und reist, von reichen „Drahtziehern“ unterstützt, nach Amerika, um irgendwann einmal an einem Terroranschlag teilzunehmen. Doch die anfänglich so verachtete westliche Kultur wirkt auf ihn anders als auf die realen Attentäter vom 11. September: Seine Widerstandskraft gegen das angenehme Leben in einer Wohlstandsgesellschaft schmilzt immer mehr. Auch hier ist die Metaphernsprache Jennifer Egans überdeutlich: Z’s zunächst asketisch harter Körper setzt nach und nach Fett an, er wird rund und bequem, bevor er spurlos aus Rockford und damit aus dem Roman verschwindet. Jennifer Egans Buch hat schöne satirische Höhepunkte: Ihr Porträt des überdrehten New Yorker Internet-Unternehmers Thomas ist hinreißend. Doch die Kapitel über das Landleben im mittleren Westen sind nicht nur etwas zäh, sondern vor allem wenig aussagekräftig geraten. Zudem merkt man dem Buch etwas zu deutlich an, dass Jennifer Egan auf den Spuren ihres amerikanischen Kollegen Don DeLillo wandelt. Schon in „Die Farbe der Erinnerung“ (1999) ließ sie das Thema Terrorismus in einem Kapitel über die RAF anklingen. In „Look at Me“ wollte sie offenbar ein umfassende Porträt Amerikas in den selbstgefälligen, medienhörigen, terrorbedrohten neunziger Jahren entwerfen. DeLillo hat das in „Mao II“ und „Unterwelt“ vorgemacht. Doch Jennifer Egan zieht sich zwischen einigen lichten Momenten viel zu oft auf Vagheiten zurück, als dass ein so anspruchsvolles Vorhaben gelingen könnte.

Jennifer Egan: „Look at Me“. Roman
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Haefs Verlag Schöffling und Co., Frankfurt am Main 2002 536 S., 26,00 €

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„Tage ohne Wetter“

John Barth zeigt, wie schwierig es ist, das Gefühlstheater der Liebe mit zurechtgezimmerten Denkgebäuden in Einklang zu bringen

Liebesromane sind immer auch Gedankenexperimente: Was geschieht, wenn die Figur A der Figur B begegnet? Wie plötzlich, wie intensiv, wie haltbar ist ihre Liebe? Wie reagiert die Umwelt auf die neue Konstellation? Welche gesellschaftlichen Regeln müssen die beiden Liebenden beachten, welche Konventionen brechen, um ein Paar zu werden oder zu bleiben? In den „Wahlverwandtschaften“ hat Goethe exemplarisch vorgeführt, wie die zwischenmenschliche Liebes-Chemie mitsamt ihrer ungeheuren Bindungs- und Zerstörungskräfte in einer literarischen Versuchsanordnung ausgeleuchtet werden kann. Der Amerikaner John Barth lässt in seinem 1958 veröffentlichten Roman „Tage ohne Wetter“ zwei extrem gegensätzliche junge Männer aufeinander treffen. Der Collegelehrer Joe Morgan eifert entsprechend der philosophischen Mode der Zeit mit seiner Frau Rennie den strengen Idealen einer existentialistische Ehe nach: Sie sind in jeder Hinsicht rücksichtslos offen zu einander, scheren sich einen Dreck um die Gepflogenheiten ihrer Umwelt, akzeptieren keinerlei bürgerliche Werte und verfolgen nur jene Ziele, die sie sich selbst aus freiem Willen gesetzt haben. Jacob Horner dagegen, auch er Dozent am selben Ostküsten-College, würde man heute als typisch postmodernen Charakter bezeichnen. Er verspürt wie Morgan keinen Glauben mehr an irgendwelche überzeitlichen Werte. In seinen Augen gibt es zahllose gleichberechtigte Wertesysteme, die in sich schlüssig und historisch begründbar sind, von denen aber letztlich keines den anderen überlegen ist. Folglich streiten unausgesetzt gleich mehrere Seelen in seiner Brust. In jeder Situation probiert er neue Haltungen aus und ist als Persönlichkeit so wenig greifbar, dass Rennie schließlich behauptet, er existiere überhaupt nicht. Tatsächlich ist Horner gelegentlich mit den inneren Konflikten zwischen seinen vielen Rollen so beschäftigt, dass er in stundenlange Lähmungen verfällt. Morgan und Horner merken rasch, wie gegensätzlich sie sind und haben einen Heidenspaß daran, in endlosen Debatten ihre Ansichten und ihr Redetalent aneinander zu messen. Barth beschreibt das mit viel Witz und intellektueller Nonchalance. Doch die Handlung kommt erst richtig in Schwung, nachdem Rennie und Horner eine unbedachte Nacht zusammen im Bett verbracht haben. Mit einem Mal kriegen die Diskussionen zwischen den Männern deutlich mehr Ernst und Biss. Barth lässt spüren, wie schwer es ihnen fällt, die üblichen Emotionen wie Begierde oder Eifersucht, Reue oder den Wunsch nach Bindung, kurz: das ganze Gefühlstheater der Liebe mit ihren so sorglich zurechtgezimmerten Denkgebäuden in Einklang zu bringen. Als eigentlich Leidtragende des nun nicht mehr nur philosophischen Streites zwischen Joe und Jacob erweist sich allerdings Rennie. Sie wird aus dem aufwendigen Gerede der zwei immer weniger schlau und weiß bald nicht mehr aus noch ein. Wenn die beiden beispielsweise Selbstmord als Lösung der Kontroverse erwägen und schon mal den geladenen Revolver zwischen sich auf dem Tisch bereit legen, dann ist sie es, die schließlich verzweifelt zur Tat schreiten will. Rennies Elend spitzt sich zu, als sie feststellen muss, dass sie ein Kind erwartet und sowohl Joe als auch Jacob als Vater in Frage kommen. Sie entschließt sich zu einer Abtreibung ­ und Barth führt in einem literarisch eindrucksvollen Finale vor, wie lächerlich sich die theorieverliebten rhetorischen Freiübungen der beiden Männer ausnehmen im Kontrast zu der blutigen, unwiderruflichen Wirklichkeit eines solchen Eingriffs. John Barth war 28 Jahre alt, als er diesen Roman veröffentlichte. Er gilt heute als hoch geschätzter, aber nicht sehr populärer Autor, als ein writers writer, der mit seinen Büchern und literaturtheoretischen Essays großen Einfluss auf andere Schriftsteller gewonnen hat. Am beeindruckendsten an „Tage ohne Wetter“ ist zweifellos die hellsichtige Beschreibung Jacob Horners, der wie aus den erst 20 oder 30 Jahre später entstandenen Lehrbüchern zur Psychologie und Soziologie der Postmoderne entsprungen zu sein scheint. Vorstellungen wie Subjektivität oder Individualität lehnt er rundweg ab, „denn Subjektivismus impliziert ein Ich, und wo man eine Pluralität von Ichs empfindet“, kann „jedes einzelne Ich dieselbe unwiderlegbare Gültigkeit für seine eigene spezifische Ansicht“ beanspruchen. Wohin diese Auflösung des Subjektbegriffs letztlich führt, haben dann Derrida, Foucault, Baudrillard und andere in den siebziger Jahren ausformuliert. Doch dass ein Schriftsteller seiner Zeit philosophisch voraus ist, sagt noch nichts über die Qualität seiner Romane. Man kann „Tage ohne Wetter“ über weite Strecken mit einigem Vergnügen am geistigen Kräftemessen der beiden Hauptfiguren lesen. Alles in allem aber wirkt die Geschichte, vom Finale abgesehen, ziemlich abstrakt. Der Grundriss der Versuchsanordnung, nach der Barth sein Buch konstruiert hat, bleibt zu deutlich spürbar. Ein Liebesroman, der ein wenig nach Labor riecht.

John Barth: „Tage ohne Wetter“. Roman
Aus dem Amerikanischen von Matthias Müller
Verlag Liebeskind, München 2002 254 S., 20 ,- €

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