Die alte Ordnung ist dahin

Mit Siegfried Unseld wurde manche liebgewordene Gewissheit zu Grabe getragen

Die Beerdigung Siegfried Unselds in Frankfurt am Main war mehr als der Abschied von einem Menschen und mehr als der Abschied von einem Verleger. Diese Beerdigung machte noch einmal nachdrücklich sichtbar, wie sehr das intellektuelle Leben der Bundesrepublik im Begriff ist, sich von einem Teil seiner selbst zu verabschieden. Die Bühne für diese denkwürdige Zeremonie war prachtvoll bereitet: Über dem Frankfurter Hauptfriedhof breitete sich ein hellblauer Himmel, aus dem die wunderbar kraftvolle Novembersonne strahlte. So war alles von Licht überschüttet, als dürfe an diesem Tag, bei diesem Abschied kein Schritt, keine Geste, keine Gebärde unausgeleuchtet bleiben. Siegfried Unseld war ein großer Mann. Wie die meisten großen Männer hat er, um sich ganz entfalten zu können, andere an den Rand gedrängt und vor den Kopf gestoßen. Er war ein Patriarch, der nach eigenem Recht den einen nahm und den anderen gab. Autoren, die in seiner Gnade standen, lebten wohl; weh all jenen, die seiner Ungnade verfielen. So waren unter denen, die in der Frankfurter Trauerhalle mit Blick auf seinen Sarg Platz nahmen, nicht nur Menschen, die ihre Zeit mit ihm in vollendeter Harmonie verbracht hatten, sondern auch solche, die in den Begegnungen mit ihm manche Blessuren davongetragen haben. Es ist das Verdienst Adolf Muschgs, dass Unseld noch bei seiner Totenfeier die Ehre angetan wurde, in aller Freundschaft unverlogen und aufrichtig dargestellt zu werden. „Wie schwer es diesem Mann fiel, etwas loszulassen“, erinnerte Muschg, „es gelang ihm nicht, solange er noch im Vollbesitz seiner Kräfte war.“ Erst als ihm seine Krankheit die Energie nahm, „ließ er anderen Raum“. Unseld war ein Mensch der Macht, der unermüdlich seinen Einfluss zu mehren suchte, und für den – wie für viele Machtmenschen – die errungenen Positionen schließlich gleichbedeutend waren mit ihrem Leben selbst. Wie hätte er sie da aufgeben können? Aus Unselds Suhrkamp Verlag sei, sagte Muschg in seiner Totenrede, viel an geistiger Substanz „in das Fundament der Bundesrepublik eingeflossen“. Kein Zweifel, die intellektuellen Konturen Westdeutschlands in den sechziger und siebziger Jahren sind ohne diesen Verlag und also auch ohne diesen Verleger nicht denkbar. In jener Zeit begründete er den Ruf seines Hauses, Hüter eines geistigen Grals zu sein, der das eigentlich legitime Zentrum unserer Kultur ausmache. Unseld hat es verstanden, diesen Ruhm von allen Tatsachen abzulösen und bis in unsere Gegenwart zu verlängern. An fleißigen, bis zur Selbstverleugnung eifrigen Mitstreitern hat es ihm dabei nie gemangelt – denn schließlich darf sich als Ritter fühlen, wer neben König Artus einen Gral hütet. Aber kann eine solche Tafelrunde weiterexistieren, wenn Artus tot ist? In Frankfurt versammelten sich unter strahlendem Herbsthimmel die meisten seiner Ritter ums Grab. Ein glanzvolles Bild. Doch die bange Frage nach der Zukunft brauchte unter ihnen kaum noch ausgesprochen zu werden. Denn sie stellt sich nicht erst seit Unseld krank dem Verlag fern blieb. Sie schwärt wie eine alte Wunde, seit Unseld seinen Sohn Joachim nach einem Zerwürfnis aus dem Verlag drängte und seither einen Nachfolgekandidaten nach dem anderen verschliss. Unselds Haus hat, kein Zweifel, das literarische Leben der alten Bundesrepublik beeinflusst wie kein anderer Verlag. Aber ist Suhrkamp je angekommen in der „Berliner Republik“? Es ist von fast schon aufdringlicher Symbolik, dass Unselds Versuche, in den neuen Hauptstadt verlegerisch Fuß zu fassen, rasch scheiterten: Mit Arnulf Conradi gründete er 1994 den Berlin Verlag, musste aber seine Anteile bald verkaufen – bezeichnenderweise an den Bertelsmann Konzern, der in jeder denkbaren Hinsicht als Gegensatz des Suhrkamp Verlags betrachtet werden darf. Weder die englischsprachigen Erzähler, die auf unserem Buchmarkt traditionell die größten Erfolge erzielen, noch die deutsche Pop-Literatur, die in den letzten Jahren Leser und Kritik in Atem hielt, sind in Unselds Haus je heimisch geworden. Manche sehen darin einen Segen, gut. Aber was geschieht, wenn die Ritter seiner literarischen Tafelrunde nun die Tür zu der Kammer aufstoßen, in sie seit Jahren den Gral zu hüten glaubten, und feststellen, dass die Kammer längst leer ist? Verleger werden in der Öffentlichkeit gern als eine Art Gärtner betrachtet, die ihre Beete pflegen, sich am Wuchs ihrer Pflanzungen freuen und schließlich die geernteten Früchte zu Kauf anbieten. Vielleicht ist es an der Zeit, diese Metaphorik entschieden zu modernisieren und Verleger mit börsenerfahrenen Fondsmanagern zu vergleichen, die langfristig auf bestimmte Autoren wie auf Aktien setzen. Den Spitzenleuten unter ihnen – und zu denen zählte Unseld – gelingen mit manch einer Anlage ganz exzellente Kurssteigerungen. Woraufhin sich unsichere Kollegen und zahllose Kleinanleger an ihre Entscheidungen anhängen, kaufen, was sie kaufen, verkaufen, was sie verkaufen. Die Macht der wenigen Erfolgsverwöhnten wächst daraufhin unaufhaltsam, und die Kurse ihrer Lieblingsaktien stoßen in schwindelnde Höhen vor. Lange Jahre war, was bei Suhrkamp erschien, für viele Kritiker, Buchhändler und auch Leser das Richtmaß aller literarischen Dinge. Dieser Verlag schuf seine eigene Ordnung, und sie wurde oft von anderen allzu fraglos nachgebetet. Auch von diesen scheinbaren Gewissheiten heißt es Abschied zu nehmen. Nicht erst durch Unselds Tod, aber mit ihm wird unübersehbar ein liebgewordenes intellektuelles Koordinatensystem zu Grabe getragen. Auf dem Frankfurter Friedhof lag, als die Erde auf den Sarg fiel, das Licht der Sonne nur noch in den Bäumen. Es war noch nicht Dämmerung, aber der Abend kündigte sich an. Was einst Ordnung stiftete, ist dahin, die Zukunft ist offener denn je, die Dinge sind in Bewegung geraten. Was kommt, wird nicht mehr in die alten Koordinatensysteme passen

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