„Doppelleben“

 Tim Parks’ lebenskluger Roman über Liebe, Verrat und gemischte Gefühle

Tim Parks ist ein Virtuose des literarischen Familienstreits. Wenn Eheleute einander betrügen, wenn Kinder gegen ihre Eltern intrigieren, wenn Geschwister sich mit unerschöpflicher Eifersucht verfolgen, steigert er sich zu erzählerischer Meisterschaft. Je schmerzhafter seine Helden ihre engsten Angehörigen verletzen, desto mitreißender werden seine Romane. Die Familie, das ist bei ihm ein Schlachtfeld, auf der das Herzblut aller Beteiligten in Strömen fließt. Verwundet, gedemütigt, rachsüchtig belauern sich die Kontrahenten, ohne je voneinander lassen zu könnten, denn sie sind zugleich in ausweglose Zuneigung aneinander gefesselt. Die Welt des Tim Parks wird regiert von Freuds unbehaglicher These, dass es keine reinen, unvermischten Gefühle gibt, sondern das jeder großen Liebe heimlich auch eine Portion Hass beigemengt ist und sich in jedem Hass immer auch ein wenig Liebe verbirgt. Daniel Savage hat die Nase voll von all dem. Er ist ein farbiger Rechtsanwalt im besten Mannesalter, lebt in einer britischen Kleinstadt und war seine Frau Hilary seit Beginn ihrer Ehe nie treu. An über zwanzig Affären erinnert er sich. Doch nun hat man ihn, den schwarzen Adoptivsohn einer weißen Offiziersfamilie, zum Richter ernannt. Künftig also ganz der Integrität und Wahrheitsfindung verpflichtet, verspürt er wachsenden Überdruss an seinem Doppelleben und will es endgültig hinter sich lassen. Nur ein einziges Mal hat ihn Hilary bei einem Seitensprung erwischt, doch diese Ehekrise ist mittlerweile ausgestanden und so kaufen sich die beiden ein prächtiges Haus, in dem ihr Leben und das ihrer Kinder in ruhigen, geordneten Bahnen verlaufen soll: „Endlich herrscht Klarheit“, trägt er triumphierend in sein Tagebuch ein, „Die Zeit der Metamorphosen ist vorbei. Ich habe mich selbst gefunden“. Hat er natürlich nicht. Er täuscht sich gründlich, seine Zeit der Krisen und Katastrophen beginnt erst. In dieser Hinsicht ist der neue Roman „Doppelleben“ von Tim Parks überraschend überraschungslos. Was immer Savage beabsichtigt, es verwandelt sich ihm unter den Händen gradewegs und konsequent ins Gegenteil, das hat man als Leser bald begriffen. Er will Hilary das Gefühl geben, sich nunmehr blind auf ihn verlassen zu können, doch ungewollt liefert er ihr immer neuen Anlass zu immer tieferem Misstrauen. Er will seinen Kindern ein fürsorglicher Vater sein, und doch lässt er sich dazu hinreißen, seine Tochter zu schlagen und seinen Sohn zu vernachlässigen. Er will einer ehemaligen koreanischen Geliebten helfen, bringt sie aber in immer größere, schließlich tödliche Gefahr. „Ja, renn nur nachdem Glück“, heißt es bei Brecht, „Doch renne nicht zu sehr / Denn alle rennen nach dem Glück / Das Glück rennt hinterher.“ So übersichtlich und weitgehend absehbar Parks sein Buch im Großen konstruiert hat, so eigenwillig ist er im Detail vorgegangen. Er perfektioniert in „Doppelleben“ eine Schreibweise, die er in seinem erfolgreichen und viel gelobten Roman „Schicksal“ entwickelte. In den meisten Szenen verknüpft er gleich mehrere Reflektionsketten und Handlungslinien zopfartig zu einem ebenso kunstvollen wie komplexen Erzählstrang. Er sorgt so dafür, dass die unterschiedlichen Aspekte seiner Geschichte immer wieder aufs engste miteinander konfrontiert werden, um sich klug zu ergänzen oder ironisch zu brechen. Wenn schon das Leben des Richters Savage nicht in den wohlgeordneten, brav linearen Bahnen verläuft, die der ihm zugedacht hat, sondern plötzlich die absurdesten Wendungen nimmt, will Parks von diesem Leben offenbar auch nicht in wohlgeordneter, brav linearer Form erzählen. Doch es sind nicht allein familiäre Probleme, die Savage zu schaffen machen, auch beruflich entwickeln sich die Dinge mit einem Mal ganz unvorhergesehen. Als Anwalt ging es ihm früher immer nur darum, das bestmögliche Ergebnis für seine Mandanten zu erzielen. Als Richter fühlt er sich nun plötzlich verantwortlich für die weit schwierigere Suche nach der Wahrheit. Und Tim Parks teilt ihm zudem ein paar besonders schwer zu knackende Nüsse zu: Fälle, an denen seine Überzeugung, mit dem Mitteln der Justiz auch das Zusammenleben der Gesellschaft in wohlgeordnete Bahnen lenken zu können, schnell zuschanden wird. Ein von ihm geleiteter Prozess gegen ein Ehepaar indischer Herkunft ist schließlich sogar Anlass für gewalttätige Demonstrationen zwischen rassistischen Einheimischen und nicht minder rassistischen Einwanderern. Savage selbst wird übel zusammengeschlagen. Doch niemand weiß, aus welchen Gründen. Von weißen Fanatikern, weil er ein Schwarzer ist? Von farbigen Fanatikern, weil er ein Richter des verhassten britischen Staates ist? Oder, wie Savage vermutet, von der koreanischen Familie seiner Ex-Geliebten, die ihn von dem Mädchen fernhalten will? Es ist eine der großen Qualitäten des Romans, dass Parks diese und manche andere Ungewissheit nie ganz und gar aufklärt. Zieht sich Martin, Savages bester Freund, von ihm nach der Ernennung zum Richter zurück, weil er krank wird, oder weil er dem schwarzen Savage sein neues Amt nicht gönnt? Ist es Savages eigene Tochter, die ihm wegen seiner Seitensprünge religiös überhitzte Drohbriefe schreibt? Deckt ihn seine Frau in der Öffentlichkeit, weil sie ihn trotz seiner notorischen Untreue liebt, oder nur weil sie ihren sozialen Status als Richter-Gattin nicht verlieren will? Zu gern hätte Savage auf all diese Fragen klare Antworten, doch die sind in dieser Geschichte ebenso wenig zu haben wie die reinen, ungemischten Emotionen. Wer will, kann in dem Roman auch eine grobe Skizze der zeitgenössischen, multiethnischen Gesellschaft Englands sehen, gezeichnet aus der Perspektive eines wirtschaftlich saturierten, gelegentlich labilen, alles in allem aber verantwortungsbewussten Mannes. Savage muss begreifen, dass nicht nur er selbst, sondern das ganze Land eine Art Doppelleben führt. Seine Aufgabe als Richter ist es, allgemeingültigen Gesetzen Geltung zu verschaffen, aber die unterschiedlichen Milieus – sei es das seine koreanischen Freundin, das des indischen Paares, über das er zu Gericht sitzt, oder auch das seines homosexuellen Bruders – orientieren sich längst parallel dazu an eigenen moralischen Maßstäben. Loyalität wird unter diesen Umständen zu einer seltenen, immer schwierigeren, den Menschen oft überfordernden Tugend. Nicht zufällig, sondern aus der inneren Logik der Zeit heraus ist Loyalitätsbruch und Verrat, wie Margret Boveri schon vor Jahrzehnten diagnostizierte, zum Signum unserer Epoche geworden. Doch „Doppelleben“ ist kein politischer Roman. Die gesellschaftlichen Probleme Englands interessieren Parks letztlich nur in so weit, wie sie zu dem zunächst allmählichen, dann aber immer rapideren Verfall der Familie Savage beitragen. Bei der Schilderung dieses Abstiegs entfaltet er sein ganzes Können. Je entschiedener Richter Savage seine Existenz auf ein solides Fundament zu stellen versucht, desto sicherer steuert er ins Desaster. Zu Anfang schleichen sich er und seine Frau nachts über Baugruben und wackelige Bretter in ihr unfertiges Haus. Die beiden haben eine Steppdecke, Gläser und Champagner dabei und sie schlafen miteinander zwischen Farbtöpfen und Bauschutt, um ihren künftigen Besitz auf ihre Weise einzuweihen. Später dann, als das Haus fertig ist und jedes Möbelstück seinen perfekt kalkulierten Platz gefunden hat, ist zwischen den beiden von Liebe oder Sex nicht mehr die Rede. Nun sind sie längst vom Schutt ihres Ehekrieges umgeben, der nach und nach die ganze Familie unter sich begräbt. „Es gibt kein Leben ohne Doppelleben“, lautet der erste Satz und zugleich die Quintessenz des Romans. Es ist, so zeigt Tim Parks eindringlich, die Sehnsucht nach den reinen, den ungemischten Gefühlen, die den Weg in die Katastrophe ebnet. Weil Savage ein Richter von unangreifbarer Reputation sein will, bringt er sich an den Rand des beruflichen Untergangs. Weil er glaubt, seine Untreue vor seiner Frau bedingungslos verbergen, und weil seine Frau glaubt, ihren Mann zu bedingungsloser Treue verpflichten zu müssen, zerstören sie ihre Ehe. Wenn sich für sie am Ende des Buches trotz allem noch ein letzter Funken Hoffnung andeutet, dann nur, weil sie sich in der schwierigen Kunst üben, mit gemischten Gefühlen zu leben. Vielleicht ist gar nicht die Liebe das Wunder, das aus zwei Menschen ein Paar macht, sondern die Kraft, den Verrat zu verzeihen?

Tim Parks: „Doppelleben“. Roman
Verlag Antje Kunstmann, München 2003 440 Seiten, 24,90 €

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