Terror in Zeitlupe

Jennifer Egan schreibt mit „Look at Me“ sehr bedächtig eine Flammenschrift an die Wand

Gibt es das: behäbige Sensationen? Wenn ja, dann ist Jennifer Egans Roman „Look at Me“ die behäbigste Sensation seit langem. Er zeugt von den hochgespannten literarischen Ambitionen dieser Erzählerin und von ihrem klugen, manchmal geradezu hellseherischen Blick auf das Amerika der Gegenwart samt seiner todesverliebten Feinde. Zugleich aber stellt dieses Buch die Geduld seiner Leser auf eine ernste Probe, denn obwohl über ungeheuer viele Figuren ungeheuer viel erzählt wird, geschieht im Grunde ungeheuer wenig. Jennifer Egans Lieblingstempo ist die Zeitlupe. Sie will alles ganz, ganz, ganz genau erklären, und so muss man, was man nach drei Seiten schon begriffen hat, sich auf dreißig Seiten Detail für Detail vorführen lassen. Wenn der Roman in Amerika dennoch wie ein beängstigendes Orakel aufgenommen und ausgedeutet wurde, so liegt das an einem historischen Zufall. „Look at Me“ erschien in den USA in Spätsommer 2001, also knapp vor den Anschlägen vom 11. September. Mit einer ihrer Romanfiguren, einem arabischen Einwanderer, der sich Aziz oder Z oder Michael West nennt, entwirft Jennifer Egan aber bereits hier das Porträt eines Schläfers, der nach Amerika gekommen ist, um ein großes terroristisches Attentat vorzubereiten. Ganz ausdrücklich beschäftigt sich Z mit den wenig eindrucksvollen Fernsehbildern, die der erste Angriff auf das World Trade Center 1993 lieferte: „Von den Tausenden, die dort arbeiteten, waren nur sieben ums Leben gekommen, eins davon ein ungeborenes Kind. Die strukturellen Schäden dagegen waren unterirdisch passiert. Mit anderen Worten, nichts zu sehen.“ Kein Wunder, wenn dieses Buch nach dem 11. September als eine Art Menetekel gelesen wurde: Menschen, die gerade eben das World Trade Center in einem Inferno aus Feuer, Staub und Asche haben einstürzen sehen, und die begriffen, mit welchen Zynismus diese Attacke fernsehgerecht inszeniert worden war, mussten in diesen Roman so etwas wie eine gespenstische Offenbarung sehen, so etwas wie eine Flammenschrift an der Wand. Für einige Wochen zählte „Look at Me“ zu den meistverkauften Büchern Amerikas und wurde für den National Book Award nominiert. Doch wäre es ein Missverständnis, das Buch als Roman über einen Schläfer oder als literarische Studie über die Wurzeln des Terrors zu betrachten. Es ist nicht leicht auf eine schlüssige Formel zu bringen. Mit einigem Stolz hat Jennifer Egan darauf hingewiesen, dass es nahezu unmöglich ist, den Plot ihres Romans in wenigen Sätzen nachzuerzählen. Die Handlung spielt simultan auf mehreren Ebenen und zieht sich über gut ein Jahr hin: Das nicht mehr ganz junge Fotomodell Charlotte hat einen schweren Autounfall hinter sich. Zahlreiche Operationen haben ihr Gesicht so sehr verändert, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben kann, ja dass sie von Freunden nicht mehr erkannt wird. Sie lebt in New York, war aber, als das Unglück geschah, auf dem Weg in ihre langweilige kleine Heimatstadt Rockford im Mittelwesten. Mit ihr im Wagen saß Z, den sie kurz zuvor kennen lernte und dessen Verschlossenheit sie fasziniert. Z kommt bei dem Unfall glimpflich davon, wechselt den Namen und taucht in Rockford unter. In Charlottes Geschichte klingen natürlich vor allem Fragen nach Identität und Image eines Menschen an. Ein Model ist in besonderem Maße von seinem Aussehen abhängig, von dem Bild, auf das es sich in der Öffentlichkeit reduzieren lässt. Allerdings macht Jennifer Egan aus diesem Teil des Romans eine etwas moralinsaure Erweckungsgeschichte: Der Unfall verschafft der total oberflächlichen und trunksüchtigen Charlotte die Chance, sich auf ihre wahre Persönlichkeit jenseits der schönen Bilder zu besinnen. Sie fängt ein neues, stilleres, reineres Leben an und verteidigt es schließlich gegen eine Internet-Firma, die sie wieder in die Öffentlichkeit zerren und ihr Schicksal als Rührstück weltweit vermarkten will. Ein anderer Teil des Romans breitet vor dem Leser das Kleinstadtleben in Rockford aus: Die Tochter einer Jugendfreundin Charlottes, ebenfalls Charlotte mit Namen, sammelt ihre ersten, naturgemäß schmerzlichen Liebeserfahrungen – ausgerechnet mit Z. Ihr Onkel wiederum leidet so sehr an der unüberwindlichen Resistenz der amerikanischen Gesellschaft gegen jede Form intellektueller Kritik, dass er – nachdem er vor Jahren selbst einmal mit dem Bombenlegen liebäugelte – immer tiefer in Depressionen versinkt. In einem dritten, recht schmalen Bereich des Buches wird schließlich Z’s Geschichte eher dunkel angedeutet als gründlich ausgeleuchtet. Er stammt aus einem arabischen Land, ist geprägt durch Elends- und Kriegserfahrungen und reist, von reichen „Drahtziehern“ unterstützt, nach Amerika, um irgendwann einmal an einem Terroranschlag teilzunehmen. Doch die anfänglich so verachtete westliche Kultur wirkt auf ihn anders als auf die realen Attentäter vom 11. September: Seine Widerstandskraft gegen das angenehme Leben in einer Wohlstandsgesellschaft schmilzt immer mehr. Auch hier ist die Metaphernsprache Jennifer Egans überdeutlich: Z’s zunächst asketisch harter Körper setzt nach und nach Fett an, er wird rund und bequem, bevor er spurlos aus Rockford und damit aus dem Roman verschwindet. Jennifer Egans Buch hat schöne satirische Höhepunkte: Ihr Porträt des überdrehten New Yorker Internet-Unternehmers Thomas ist hinreißend. Doch die Kapitel über das Landleben im mittleren Westen sind nicht nur etwas zäh, sondern vor allem wenig aussagekräftig geraten. Zudem merkt man dem Buch etwas zu deutlich an, dass Jennifer Egan auf den Spuren ihres amerikanischen Kollegen Don DeLillo wandelt. Schon in „Die Farbe der Erinnerung“ (1999) ließ sie das Thema Terrorismus in einem Kapitel über die RAF anklingen. In „Look at Me“ wollte sie offenbar ein umfassende Porträt Amerikas in den selbstgefälligen, medienhörigen, terrorbedrohten neunziger Jahren entwerfen. DeLillo hat das in „Mao II“ und „Unterwelt“ vorgemacht. Doch Jennifer Egan zieht sich zwischen einigen lichten Momenten viel zu oft auf Vagheiten zurück, als dass ein so anspruchsvolles Vorhaben gelingen könnte.

Jennifer Egan: „Look at Me“. Roman
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Haefs Verlag Schöffling und Co., Frankfurt am Main 2002 536 S., 26,00 €

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