Auch ein Roman muss das wahre Leben spiegeln dürfen

In München steht heute Maxim Billers Roman „Esra“ vor Gericht – und damit die Freiheit der Literatur

Es steht viel auf dem Spiel. Heute hat das Münchner Oberlandesgericht über die Freiheit der Literatur zu urteilen. Verhandelt wird gegen Maxim Billers Roman „Esra“. Zwei Klägerinnen werfen dem Autor vor, ihre Privatsphäre zu verletzen, da er ihrer Meinung nach zwei Figuren des Buches zu deutlich nach ihren Vorbildern geformt habe. Der Roman erzählt die Liebsgeschichte zwischen dem jungen Schriftsteller Adam und der Titelheldin Esra. Im März erwirkten die Klägerinnen eine Einstweilige Verfügung, das Buch darf seither nicht ausgeliefert werden. Im April wurde diese Verfügung vom Landgericht in München bestätigt. Der Autor und sein Verlag haben sich daraufhin trotz finanzieller Risiken entschlossen, in Berufung zu gehen. Glücklicherweise, muss man hinzufügen, denn hier ist mehr in Gefahr als ein einzelnes Buch. Die Freiheit der Literatur ist auch die Freiheit ihrer Leser. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Wenn das erste Urteil gegen Billers Roman künftig Bestand haben sollte, werden die Möglichkeiten der Schriftsteller, zeitgenössische Erfahrungen zu schildern, erheblich eingeschränkt. Eine Literatur, die von der gesellschaftlichen Realität im Hier und Jetzt berichtet, wird dann nur noch unter Vorbehalt geschrieben werden können. Unter dem Vorbehalt, dass sich niemand findet, der behauptet, anhand bestimmter äußerer Ähnlichkeiten die eigene Person im jeweiligen Buch wieder zu erkennen – und der an dieser Darstellung Anstoß nimmt. Auf der Hand liegt, dass der Literatur damit unsinnige, skandalöse Grenzen gezogen würden. Denn schließlich geht es bei Literatur nicht zuletzt darum, Menschen und Milieus erkennbar zu machen und Anstoß zu erregen. Juristisch müsste die Sache im Grunde ganz klar sein. Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes stellt lakonisch fest: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. Dennoch ist, wie Joachim Kersten, einer der renommiertesten Urheberrechts-Anwälte des Landes resümiert, „die Geschichte der Kunstfreiheit in Deutschland eine Geschichte ihrer fortwährenden Einschränkung“. Was für den Fall Biller wenig Gutes ahnen lässt. So apodiktisch das Grundgesetz die Kunstfreiheit verkündet, so emsig sind Gerichte damit beschäftigt, sie in Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht auszuhebeln. Der berühmteste bundesdeutsche Prozess dieser Art ging zurück auf die Klage des Adoptivsohns von Gustaf Gründgens gegen Klaus Manns Roman „Mephisto“. Das Verfahren beschäftigte von 1964 an acht Jahre lang Gerichte und Öffentlichkeit. Es endete mit einer klaren Niederlage des Buches vor dem Bundesgerichtshof. Der sah in „Mephisto“ einen Schlüsselroman, der in ehrverletzender Weise Gründgens Karriere in Hitlers Deutschland nachzeichne. Für heftige Emotionen sorgte das Urteil nicht zuletzt deshalb, weil es den Emigranten Klaus Mann, der vor den Nazis hatte fliehen müssen, daran hinderte darzustellen, wie sich ein im Roman Hendrik Höfgen genannter Künstler an das Regime der Nazis anbiederte. Wenn das Buch heute dennoch in einer Millionenauflage vorliegt, ist das dem Mut der Rowohlt Verlages zu danken. Der setzte sich 1980 kurzerhand über das Publikationsverbot hinweg, und nur weil kein Erbe von Gründgens erneut Einspruch erhob, blieb dem Roman ein weiteres Verfahren erspart. Ein für die Literatur ermutigendes Urteil fällte der Bundesgerichtshof 1982. Friedrich Christian Delius, der sich damals noch F.C. nannte, hatte eine polemische „Moritat auf Helmut Hortens Angst und Ende“ geschrieben, in der er dem Kaufhaus-Unternehmer Horten Angst „vor Konkurrenz, vor seinesgleichen, vorm Schuft“ unterstellte und vermutete, „von ihm bezahlte Politiker“ schwitzten „über Gesetzen,/ die ihm genehm sind und seine Gegner zerfetzen“. Horten mochte das nicht auf sich sitzen lassen, konnte sich aber mit seiner Klage nicht durchsetzen, da die Moritat nach Meinung der Richter einem Autor gewisse satirische Freiheiten und Formulierungen gestatten. Erst kürzlich jedoch, im Jahr 2000, wurde an einem Essener Landgericht das Buch „Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag“ von Birgit Kempker verboten, weil sie darin ihren Bettpartner beim Namen nannte. Zwar bescheinigten vier literaturwissenschaftliche Gutachter dem „litaneihaften“, „forciert artifiziellen“ Poem vor Gericht, seinen überdeutlich fiktionalen Charakter: Es sei „in keiner Phase auf Erkennbarkeit“ bestimmter Personen hin angelegt. Dennoch gestand der Richter dem Kläger, nur weil sein Name in dem Gedicht erscheint, das Recht zu, das Buch einstampfen zu lassen. Leider hatten weder die Autorin noch ihr Verlag das Geld, den Rechtsstreit durch den Instanzenweg weiterzuverfolgen und mussten das Bändchen tatsächlich der Papiermühle überantworten. De facto ist es also hier zu Lande nicht weit her mit der Kunstfreiheit. Zumindest sind Richter zugunsten des Persönlichkeitsschutzes mit Verboten schnell bei der Hand. Und dies obwohl der Bundesgerichtshof anlässlich des Falles Delius ausdrücklich festgehalten hat, „dass Charakter und Stellenwert des beanstandeten Textes als Aussage der Kunst das Verständnis von ihm im sozialen Wirkungsbereich zu beeinflussen vermögen.“ Jenseits des juristischen Jargons enthält dieser Satz die schlichte Erkenntnis, dass Literatur als Literatur gelesen wird, nicht als Tatsachenbericht. Für den Fall Biller bedeutet das konkret: Da Biller „Esra“ einen Roman nennt und nicht eine Reportage, signalisiert er seinen Lesern von Anfang an, dass die handelnden Figuren seiner Fantasie entstammen, selbst wenn sie bestimmte Lebensdaten mit existierenden Personen teilen. Natürlich wäre alles einfacher, wenn Biller jede Parallele zur Realität vermieden hätte. Doch kann es schlechterdings nicht die Aufgabe von Literatur sein, Bezüge zur Realität um jeden Preis auszusparen. Im Gegenteil, solche Bezüge sind nicht nur wünschenswert, sondern unvermeidlich: Jeder Schriftsteller greift bei seiner Arbeit bewusst oder unbewusst auf seine Erfahrungen zurück. Will man ihm das verbieten, oder es mit Rücksicht auf andere Menschen, die Teil dieser Erfahrungen sind, reglementieren, entzieht man der Literatur ihre Geschäftsgrundlage.

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