Wilhelm Genazinos neues Buch ist ganz anders als seine früheren – und ein wahres Juwel
Weigand ist 17 Jahre alt, gerade von der Schule geflogen und auf dem besten Weg eine prächtige Neurose zu entwickeln. Immer deutlicher tritt ihm eine erschreckende Erkenntnis vor Augen: Er ist anders als die anderen Menschen, er ist allein. Seine Mutter zum Beispiel sorgt sich vor allem um seine berufliche Zukunft und will ihm eine Lehrstelle verschaffen, damit er Arbeit habe wie anderen Menschen auch. Weigand dagegen fürchtet sich weniger vor einem Leben ohne Arbeit als vielmehr vor dem Leben selbst. Wenn er etwa sieht, wie ein Lehrherr während eines Vorstellungsgesprächs aus einer Kakaoflasche trinkt, ekelt es ihn vor dieser banalen Geste und den braunen Schlieren an der Innenseite der Flasche derart, das er wie unter Zwang kein Wort mehr herausbekommt. Prompt wirkt er natürlich wie ein Tölpel, wie ein dumpfer Klotz, den niemand um sich haben möchte, schon gar nicht als Lehrling. Doch Weigand macht noch eine andere Entdeckung: Er kann die verabscheute Banalität der Welt besser ertragen, wenn er über sie schreibt, wenn er die Welt der Worte wie ein Filter, wie ein Puffer zwischen sich und die Zumutungen des Daseins schiebt. Dann lässt das Gefühl von Zwang nach. Er lebt dann nicht mehr in einer Realität allein, sondern kann vor der einen bequem in die andere ausweichen. Und plötzlich ist er kein dumpfer Klotz mehr, sondern führt eine geheimnisvolle Doppelexistenz, von der niemand etwas ahnt. Das alles ist literarisch nicht gerade Neuland. Romane über Jugendliche, die sich als Außenseiter empfinden und von der Schule fliegen, über angehende Neurotiker oder angehende Schriftsteller, die sich aus der Rohheit des Alltags in die Pracht der Sprache flüchten, gibt es zu Hunderten. Dennoch ist Wilhelm Genazinos Buch „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ ein wahres Juwel, und wohl das Beste, was Genazino je geschrieben hat: Ein gelungene Mischung aus ironisch funkelndem Künstlerroman, aus zarter, untergangsgeweihter Liebesgeschichte und aus einer suggestiven Vergegenwärtigung der frühen sechziger Jahre. Genazinos Werk war in der Vergangenheit nicht eben abwechslungsreich. Er hatte sich von seiner „Abschaffel“-Trilogie (1977-79) bis hin zu seinem jüngsten Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (2001) zu einem Spezialist für tagträumende Einzelgänger mit einer Vorliebe für Stadtwanderungen entwickelt. Doch anders als etwa die Flaneure Walter Benjamins oder Zygmunt Baumans, die genießerisch schwelgen in der metropolitanen Flut flüchtiger Begegnungen und Impressionen, litten die Figuren Genazinos unter dem „Grauen der Normalität“. Ihr Blick fiel regelmäßig auf die schäbigsten, die freudlosesten Details urbaner Gegenwart und färbte ihre Tage oft monochrom mausgrau ein. Da Genazino zudem darauf bestand, die Spannungskurven seiner Geschichten stets dicht an den Null-Linie zu halten, war die Lektüre seiner Bücher keineswegs ein Vergnügen für jedermann. Bei all dem war Genazino natürlich ein viel zu intelligenter Autor, um zu glauben, die Welt sei tatsächlich so trist, wie er sie schildert. Vielmehr ließ er mal mehr, mal weniger deutlich spüren, dass es seine Helden sind, die sich in eine miesepetrige Lebenshaltung hineinsteigern. Die Geist- und Geschmacklosigkeiten unserer Epoche animieren sie nicht zu kopfschüttelnder Heiterkeit, sondern zu grimmiger Verzweiflung. Sie entwickeln eine quälende Mixtur aus Überlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühlen, aus Verachtung und Selbstverachtung: Man kann große Teile von Genazinos Werk als die endlos kreisende Beschreibung der immer gleichen Neurose betrachten, die schon seinen ersten Helden Abschaffel in eine psychosomatische Klinik brachte. Genazinos neues, ungleich frischeres und beschwingteres Buch „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ schildert nicht mehr, aber auch nicht weniger als einen ersten, frühen Sieg über diese Neurose. Der junge Held Weigand wächst, wie so viele Helden Genazinos, bei einem verschlossenen Vater und einer offenbar depressionsgeplagten Mutter auf. Seine Fluchtversuche vor dieser niederdrückenden Kindheit führt ihn auf direktem Weg in die Literatur: Seine ersten Geschichten schreibt er zwar noch gänzlich naiv, sie lassen ihn aber doch schon etwas spüren von der wohltuenden, rettenden Distanz, die sich ein Autor durch die Beschreibung des Lebens vom Leben erkämpfen kann. Genazino erfindet in seinem Buch für diese psychische Selbstrettung eine ganz zwanglose, plausible Konstellation. Weigands Mutter hat für ihren Sohn schließlich doch noch eine Lehrstelle auftreiben können, die nun allerdings ihren sensiblen Sprössling mit allen Demütigungen und Absurditäten des Arbeitslebens konfrontiert. Zugleich aber kann sich Weigand als freier Mitarbeiter bei der Tageszeitung seiner Stadt durchsetzen. Damit hat er die Chance, sich schreibend zu einer gewissen Distanz über jenen Banalitäten des Alltages zu erheben, als deren hilfloses Opfer er sich sonst empfindet. Was seiner wunden Seele, wie Genazino behutsam und deshalb umso wirkungsvoller andeutet, köstliche Linderung verschafft. In seiner Rolle als Feierabend-Reporter lernt Weigand schließlich auch eine Kollegin namens Linda kennen, die wie er hochfliegenden schriftstellerischen Träumen nachhängt. Mit ihr verliert er sich in schwärmerische Gespräche über Kafka und Joseph Conrad, von ihr wird er in die ebenso schmalspurige wie amüsante Boheme der Stadt einführen, und mit ihr möchte er schon bald mehr als nur seine literarischen Leidenschaften teilen. Doch Genazino entfaltet hier nicht nur gekonnt in wenigen Szenen die komplexe Liebesgeschichte zweier Menschen, die beide aus der verachteten Wirklichkeit in die Kunst zu fliehen versuchen. Er führt anhand von Lindas Schicksal auch vor, wie gefährdet Hoffnungen sind, die in die eigene künstlerische Arbeit gesetzt werden und wie katastrophal sie scheitern können. Mit leichter Hand bettet Genazino diese Geschichte einer glückenden Selbstrettung und einer missglückenden Liebe ein in ein Porträt der späten Adenauer-Ära. Ganz wenige, aber stimmungsintensive Details genügen ihm, den einschneidenden historischen Abstand spürbar zu machen, der uns heute von jener Jahre kurz vor dem Beginn der Studentenbewegung trennt. Doch anders als Wilhelm Genazinos finstere Flaneure ergeht sich Weigand nicht demonstrativ im Leiden an seiner Zeit. Er entdeckt sie vielmehr mit einer kritischen Neugier, aber auch einer Begeisterungsfähigkeit, die wunderbar zu seiner Jugend passt.
Wilhelm Genazino: „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ Carl Hanser Verlag, München 2003 160 Seiten, 15,90 €